Ghettos, Banlieues und territoriales Stigma

Rezension zu Loïc Wacquant (2017): Die Verdammten der Stadt. Eine vergleichende Soziologie fortgeschrittener Marginalität. Wiesbaden: Springer.

Anja Schwanhäußer

„‚Du wohnst hiiier?‘ ‚Yeah‘. ‚Gut, dann kannst du mich nach Hause bringen‘“ (S. 187), meint die junge Frau provozierend, als sie realisiert, dass ihr Date, ein Chicagoer Profiboxer, in einem jener berüchtigten ‚Projekte‘ des sozialen Wohnungsbaus an der South Side wohnt. Der Boxer wollte der Frau einfach seine Mutter vorstellen. Die tiefsinnige Anekdote stammt aus Wacquants vielbeachteter Studie Urban Outcasts (2008), in der es neben den Differenzen zwischen US-amerikanischem Ghetto und französischen Banlieues schwerpunktmäßig um „territoriale Stigmatisierung“ (S. XX) geht. Nun liegt sie auch auf Deutsch unter dem Titel Die Verdammten der Stadt (2017) vor, nachdem hier bereits andere seiner stadtsoziologischen Studien, darunter die Essaysammlung Das Janusgesicht des Ghettos (2006) und der ethnografische Klassiker Leben für den Ring (2003) erschienen sind. Wacquant, ein Meister der Zweit- und Drittverwertung seines Werks, hat in Die Verdammten der Stadt einzelne Essays versammelt, die in den Jahren 1987 bis 1998 entstanden sind.

Die Chicagoer South Side der 1990er Jahre sei wie andere amerikanische Ghettos durch Deindustrialisierung, Neoliberalisierung und den Abbau des Wohlfahrtsstaats von einem aus europäischer Perspektive kaum vorstellbaren Verfall gezeichnet, der die Stadtlandschaft wie ein „Kriegsgebiet“ (S. 168) erscheinen lasse. Wacquant beschreibt eindrücklich, wie sich diese marode Umwelt auf die mentale Struktur der Bewohner_innen und ihre Chancen auf dem Arbeits- und Heiratsmarkt auswirken. Der symbolische Makel führe zu Strategien gegenseitiger Distanzierung und untergrabe kollektives Handeln. Der soziale Verfall findet bei Wacquant im Räumlichen einen homologen Ausdruck, wobei der Soziologe eine so passende wie streitbare räumliche Metapher für die Soziologie der Prekarisierung findet – streitbar, weil die Metapher vom Individuum als ‚Ruine‘ als Essenzialisierung missverstanden werden könnte. Der Strukturanalytiker Wacquant interpretiert das Ghetto als „Hafen […], der einen selbstorganisierten kollektiven Schutz gegen brutale Herrschaft vorbringt“ (S. XV), wobei das heutige Ghetto diese Funktion verloren habe. Dieses, von Wacquant anklagend mit dem Präfix ‚Hyper‘ versehen, sei heute ausschließlich ein „räumliches Instrument ethnorassischer Schließung und Kontrolle“ (ebd.).

Urban Outcasts erfährt bis heute breite Resonanz durch viele Rezensionen und mindestens ein Symposion.[1] Kritisiert wird neben der Stilisierung der Chicagoer South Side zum amerikanischen Ghetto schlechthin die rhetorische Übertreibung des Elends durch den Terminus ‚Hyperghetto‘. Tatsächlich wird man bei der Lektüre den Verdacht nicht los, dass es unter der Oberfläche auch heute eine symbolische Ordnung gibt, was der Autor sogar selbst immer wieder andeutet. Raubdelikte beispielsweise stellen ihm zufolge „eine Art Kleinunternehmertum dar, bei dem sie [die Jugendlichen, A. S.] ihre einzigen wirklichen Stärken zum Einsatz bringen können, nämlich ihre körperliche Gewandtheit und ihre praktischen Kenntnisse der Halbwelt auf der Straße“ (S. 62; siehe auch Wacquant 1998). Solcherlei kriminelle Aktivitäten sind zusammen mit dem Drogenhandel die ökonomische Basis einer „Kultur des Terrors“ (S. 62), die brutal ist, aber dennoch eine symbolische Ordnung aufweist. Sodass es also angesichts des aussichtslosen Verfalls doch die ,agency‘ individuellen Verhaltens gibt, einen eigenwilligen Umgang mit strukturellen Zwängen.

Die Absolutheit, mit der Wacquant dennoch den Verfall diagnostiziert, scheint in erster Linie politisch motiviert zu sein. So schreibt auch eine Rezensentin, dass eine politisch engagierte Soziologie immer starke Worte suche, um die menschlichen Konsequenzen politischer Verachtung und Vernachlässigung aufzuzeigen (Patillo 2009). Vielleicht, so eine andere Stimme, befürchte Wacquant, die Rede von der individuellen ‚agency‘ könne neoliberalen Argumentationen in die Hände spielen (Ley 2009). In jedem Fall zeichnet Die Verdammten der Stadt im Detail ein interessanteres, komplexeres Bild vom Ghettoleben als dies Wacquants ‚catch word‘ des Hyperghettos suggeriert.

Was leistet diese Studie für die deutsche Stadtforschung? Der Beitrag Wacquants ist der, dass er kritisch-materialistische Stadtforschung und Ungleichheitsforschung mit der Diskurslinie ‚Ethnografie subalterner urbaner Milieus‘ verbindet, was in Deutschland noch viel zu wenig getan wird. Spätestens seit der Herausgabe des Suhrkamp-Bands An den Rändern der Städte (Häußermann/Kronauer/Siebel 2004), in dem auch ein Aufsatz von Wacquant erschien, ist Wacquant eine wichtige Stimme innerhalb der deutschsprachigen Stadtforschung. Wacquant steht für eine viel zu seltene, erfahrungsnahe Forschungsstrategie im Stil der Chicagoer Schule der Stadtsoziologie, die gesellschaftliche Entwicklungen und soziale Ungleichheit immer in Bezug zu Lebenswelten beschreibt und kontextualisiert. Er versteht „Ethnografie als Instrument des Bruchs“ (S. XXXVI); es gehe darum „die Ummantelung von Diskursen zu durchbrechen, die diese Territorien städtischer Verdammnis umgeben“ (ebd.). Wacquant leistet dies nicht ohne Konflikte, Polemiken und gelegentliche Einseitigkeiten, doch kann er mit diesem Buch in Deutschland einen Diskurs weiter befruchten, der die Kluft zwischen kritischer Stadtforschung und der Ethnografie sozial marginalisierter Gruppen und Subkulturen weiter auslotet.

Mit dem Begriff der ‚territorialen Stigmatisierung‘ hat Wacquant urban-ökologische Diskurse um ein griffiges Theorem bereichert. Der Zusammenhang von Raum, sozialer Ordnung und psychologischen Strukturen ist in jüngerer Zeit wieder vermehrt diskutiert worden, allerdings im Vergleich zu Wacquants Breitenwirkung eher in Insider-Kreisen. Hierzu zählt das Konzept des „Urban Charisma“ der niederländischen Ethnologen Thomas Blom Hansen und Oskar Verkaaik (Hansen/Verkaaik 2009) sowie des „Imaginären der Stadt“ des deutschen Kulturanalytikers und Stadtsoziologen Rolf Lindner (2016). Moritz Ege (Europäische Ethnologie) hat unter Bezugnahme auf Hansen und Verkaaik beispielsweise dargestellt, wie junge Männer in Berlin unter dem Label ‚Gangster Style‘ den Symbolraum Neukölln und Tempelhof umdeuten – hier ist das territoriale Stigma auch eine Quelle von Stolz (Ege 2013). Eine positive Umdeutung des Stigmas legt auch die eingangs erwähnte Anekdote nahe: Der Boxer hat sehr wohl ein Gefühl für die gute ‚Story‘, die er als von der Freundin zurückgewiesener Unglücksrabe vorzuweisen hat. Das heißt, dass das Ghetto nach wie vor „Mittel zur Hervorbringung eigener Repräsentationen“ (S. XXII) bereitstellt, wie Wacquant diesen Prozess symbolischer Umdeutung nennt.

‚Territoriale Stigmatisierung‘ und verwandte Konzepte zeigen nicht nur die räumliche Ordnung sozialer Marginalisierung, sie zeigen Raum auch als Speichermedium des kollektiven Gedächtnisses. Wacquant kann damit zum Beispiel erklären, wie sich soziales und räumliches Stigma gegenseitig verstärken und somit sozialer Abstieg (und Aufstieg) nicht allein auf gesellschaftliche und ökonomische, sondern auch auf räumliche Faktoren zurückzuführen ist. Hierzu zählt nicht nur die sprichwörtliche ‚schlechte Adresse‘. Auch symbolpolitisch wirkt sich die Gegend aus: Sobald ein Ort öffentlich als rechtloses Gebiet jenseits der Norm etikettiert wird, fällt es Behörden leichter, von Recht und Gewohnheit abweichende Sondermaßnahmen zu rechtfertigen. Stadtplanung verschärft den Trend noch, wenn sozialer Wohnungsbau ausschließlich innerhalb der Grenzen des Problemviertels betrieben wird.

Es sei angemerkt, dass zwar bereits eine deutsche Übersetzung eines Aufsatzes von Wacquant zur „territorialen Stigmatisierung“ erschien (Wacquant 2007), dass aber das Konzept in Die Verdammten der Stadt ausführlicher dargestellt und dadurch die wichtige Schlussfolgerung ermöglicht wird, dass Ab- und Aufwertung, Stigma und Charisma eng beisammen liegen. Wacquant hat außerdem in jüngeren Aufsätzen das Modell des „territorialen Stigmas“ weiter ausgearbeitet (Wacquant/Slater/Pereira 2014) und bereits in Die Verdammten der Stadt so etwas wie eine positive Umdeutung und Aufwertung von Stigma beschrieben – „entsprechend der Formel ‚Black is beautiful‘“ (S. 71).

Das andere Verdienst des Buches ist die transatlantische Perspektive. Der Vergleich plausibilisiert die Verzahnung von Politik und Lebenswelt besonders eindrücklich und zeigt, wie unterschiedliche politische Kulturen in Europa und den USA unterschiedliche Lebenswelten hervorbringen. Der Autor erinnert mit Nachdruck daran, dass, anders als in den USA, in Frankreich die historische Segregation nicht auf ‚Rasse‘, sondern auf Klasse basiert. Erst im weiteren Verlauf wurde sie in Frankreich und anderen Ländern Europas auch durch ethnisch-nationale Zugehörigkeit beeinflusst. Wacquants metaphorisches Feingefühl kommt auch hier zur Geltung: Für die proletarischen, ‚roten‘ Vororte verwendet er den geläufigen Begriff ‚Roter Gürtel‘ im Gegensatz zum ‚Schwarzen Gürtel‘ der US-amerikanischen Ghettos. Während in Frankreich in den neunziger Jahren verschiedene Maßnahmen ergriffen wurden, Armut und steigende Arbeitslosigkeit zu mildern (unter anderem durch die Einrichtung eines Ministers für Stadtentwicklung), kürzte der US Staat das ohnehin „geizige“ (S. 79) Wohlfahrtsbudget. Während in Frankreich mehr als zwei Drittel des Wohnbestandes Sozialbauwohnungen sind, sind die USA das einzige fortgeschrittene Land der Welt ohne maßgebliche staatliche Unterstützung von Bauprojekten für einkommensschwache Haushalte. Deshalb sei auch die Rede von der „Ghettoisierung“ (S. XV) der Banlieues falsch, da die Geschichte und die Rolle des Staates sehr unterschiedlich sind. Beiläufig flicht er in die Kritik ein überraschend zeitgeistiges Plädoyer für ein Grundeinkommen ein (S. 276).

Zu kritisieren ist freilich das Alter des Datenmaterials, das bereits bei der Erstveröffentlichung von Urban Outcasts in die Jahre gekommen war. Wacquant rechtfertigt dies damit, dass es um dauerhafte Mechanismen gehe. Eine angreifbare Position, denn die gesellschaftlichen Entwicklungen seit Obama und Trump sind gravierend; mit Obamacare kommt der Wohlfahrtsstaat in die Ghettos zurück, mit Demonstrationen gegen Trump werden politische Proteste gegen Rassenungleichheit wieder stärker. Die beschriebenen Lebenswelten haben sich nicht unwesentlich verändert, und das ist für einen ethnografischen Ansatz, der das Irreduzible der Lebenswelten hervorhebt, ein Problem. Natürlich können ethnografisch informierte Studien nicht mit journalistischen Reportagen konkurrieren, doch bis zu 30 Jahre altes Datenmaterial ist schon sehr alt. Andererseits sind die zwei zentralen Thesen des Buches, zum einen das Phänomen der ‚territorialen Stigmatisierung‘ und zum anderen der fundamentale Unterschied zwischen dem US-amerikanischen Ghetto und den französischen Banlieues, tatsächlich Erscheinungen der ‚longue durée‘, was eine gewisse Überzeitlichkeit der Studie rechtfertigt und sie auch für Leser_innen in Deutschland im Jahr 2017 relevant macht. Zumal die Studie Ethnografie, das Studium sozialer Ungleichheit und Stadtsoziologie in einzigartiger Weise verknüpft.

Zum Schluss ist noch anzumerken, was bisherige Rezensionen übersehen haben: Um zu verstehen, warum Wacquant starke Metaphern wie ‚Kriegsgebiet‘ und ‚Mondlandschaft‘ für die Ghetto-Atmosphäre verwendet, muss berücksichtigt werden, dass ‚Bronzeville‘ an der Chicagoer South Side, dem Ort von Wacquants Feldforschung, nicht nur ein geografischer Ort, sondern auch ein mythologischer Ort soziologischer Prosa ist: Es wurde in der Soziologie der 1940er Jahre durch die legendäre Studie von St. Claire Drake und Horace R. Cayton unter dem Namen „Black Metropolis“ bekannt (Drake/Cayton, 1970 [1945]). Drake und Cayton zeigten damals, dass das vermeintlich desorganisierte Ghettoleben eine intakte Community-Struktur aufweist und es ein „Netzwerk gemeinschaftlicher Institutionen von Schwarze für Schwarze“ (S. XII) gibt, bei der Grenzen zwischen Weißen und Schwarzen sowie zwischen Arbeiter- und Mittelschicht herausgefordert werden. Wacquant nimmt wiederholt Bezug auf Black Metropolis, um das damalige, gut organisierte „institutionelle Ghetto“ (S. 104) vom heutigen „physischen Ghetto“ (ebd.), das lediglich auf Einschließung basiere und Gefängnischarakter habe, zu unterscheiden. Jenseits der Frage, ob diese Diagnose gerechtfertigt ist, sind Wacquants nahezu lyrische Beschreibungen des Verfalls des heutigen Bronzeville in jedem Fall als Anti-Metapher zur Black Metropolis zu lesen.

Endnoten

Autor_innen

Anja Schwanhäußer forscht in der Europäischen Ethnologie. Ihre Schwerpunkte sind Stadtanthropologie, Ethnografie, Gender, Animal Studies und Subkultur.

as@culture-of-cities.de

Literatur

Drake, St. Clair / Cayton, Horace R. (1970 [1945]): Black Metropolis. A Study of Negro Life in a Northern City. Chicago: University of Chicago Press.

Ege, Moritz (2013): ‚Ein Proll mit Klasse.‘ Mode, Popkultur und soziale Ungleichheit unter jungen Männern in Berlin. Frankfurt am Main: Campus.

Häußermann, Hartmut / Kronauer, Martin/ Siebel, Walter (2004): An den Rändern der Städte. Armut und Ausgrenzung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hansen, Thomas Blom / Verkaaik, Oskar (2009): Introduction. Urban Charisma. On Everyday Mythologies in the City. In: Critique of Anthropology 29/5, 5-26.

Ley, David (2009): A Review of Urban Outcasts: A Comparative Sociology of Advanced Marginality and Badlands of the Republic: Space, Politics and Urban Policy. In: Annals of the Association of American Geographers 99/1, 213-216.

Lindner, Rolf (2016): The Imaginary of the City. In: Anja Schwanhäußer (Hg.): Sensing the City. A Companion to Urban Anthropology. Basel: Birkhäuser:, 114-121.

Patillo, Mary (2009): Revisiting Loïc Wacquant’s Urban Outcasts. In: International Journal of Urban and Regional Research 33/3, 858-864.

Wacquant, Loïc (1998): L’ascension de l’État pénal en Amérique. In: Actes de la recherche en sciences sociales 124, 7-26.

Wacquant, Loïc (2003): Leben für den Ring. Boxen im amerikanischen Ghetto. Konstanz: UVK.

Wacquant, Loïc (2004): Roter Gürtel, Schwarzer Gürtel: Rassentrennung, Klassenungleichheit und der Staat in der französischen städtischen Peripherie und im amerikanischen Ghetto. In: Hartmut Häußermann / Martin Kronauer / Walter Siebel, An den Rändern der Städte. Armut und Ausgrenzung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 148-202.

Wacquant, Loïc (2006): Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays. Bauwelt Fundamente. Basel: Birkhäuser.

Wacquant, Loïc (2007): Territoriale Stigmatisierung im Zeitalter fortgeschrittener Marginalität. In: Das Argument 271, 399-409.

Wacquant, Loïc (2008): Urban Outcasts. A Comparative Sociology of Advanced Marginality. Cambridge: Polity.

Wacquant, Loïc / Slater, Tom / Pereira, Borges Virgílio (2014): Territorial stigmatization in action. In: Environment and Planning 64, 1270-1280.