Sich in der ‚Krise’ einrichten?

Rezension zu Jörg Friedrich, Peter Haslinger, Somon Takasaki und Valentina Forsch (Hg.) (2017): Zukunft: Wohnen. Migration als Impuls für die kooperative Stadt. Berlin: jovis.

Frank Eckardt

Die Ankunft großer Flüchtlingsgruppen im Sommer 2015 hat zu einem weitestgehend spontanen Handeln staatlicher Akteure und der Zivilgesellschaft in Deutschland geführt, wobei das Thema Unterkunft und Wohnen an vorderster Stelle stand. Über Nacht mussten vielerorts plötzlich Zelte aufgeschlagen, Container aufgestellt und Sportsäle von Schulen okkupiert werden. Erstaunlicherweise war eine Zunft kaum beteiligt, die sich eigentlich professionell mit dem Thema Wohnen auseinandersetzt und sich dafür für kompetent erachtet: die Architektur und Stadtplanung. Der Sommer 2015 hat in dieser Hinsicht auch die schmerzliche Bedeutungslosigkeit einer Profession gezeigt, die weder bundesweit noch in den Bundesländern ihre Stimme erhoben hat, um in die ad hoc-Entscheidungen eine langfristige Perspektive für das Wohnen von Flüchtlingen in Deutschland einzubringen. Es blieb oftmals überforderten Beamt_innen und Ehrenamtlichen überlassen, mit einer Strategie des Sich-durch-Wurschtelns das Beste aus allem zu machen. Braucht man vielleicht gar keine Architekt_innen für die Planung einer Stadt? Erfreulicherweise haben viele lokale Entscheidungsträger_innen und die ansässige Bevölkerung tatsächlich genügend Weit- und Einsicht in die Notwendigkeiten des Augenblicks bewiesen, sodass die Situation im Grunde gut gemeistert werden konnte. Wenn man von der Berliner Situation absieht, hat sich das ‚Chaos’ von 2015 relativ schnell auffangen lassen.

Es gab natürlich auch Architekt_innen, die sich 2015 und 2016 in den Diskurs einbringen wollten und sich als Teil der Stadtgesellschaft aktiv eingebracht haben. So hat sich die Hamburgische Architektenkammer im Sinne der Willkommenskultur positioniert. Im Bereich der Architektur müssen vor allem die Arbeiten von Jörg Friedrich, Professor für Gebäudelehre in Hannover, und seinem Team genannt werden. Schon im Jahr 2015 hatte er sich als Erster mit Refugees Welcome. Konzepte für eine menschenwürdige Architektur zur Problematik zu Wort gemeldet. Hintergrund des Bandes waren studentische Projekte in Hannover, mit denen leerstehende Räume für eine Umwandlung in menschenwürdige Flüchtlingsunterkünfte vorgeschlagen wurden. Dabei wurden durchaus innovative und anregende Vorschläge entwickelt, die auch die Stadt in ihrer heutigen Verfasstheit infrage gestellt haben. So wurde etwa das Diktum der Auto-Stadt durch das Umnutzen von Parkhäusern in der Innenstadt hinterfragt.

Mit dem 2017 vorgelegten Band Zukunft: Wohnen. Migration als Impuls für die kooperative Stadt werden sowohl aktuelle Arbeiten des Teams erneut in einer anschaulichen und umfassenden Weise vorgelegt und reflektiert. Ausgangspunkt der neuen Publikation ist die Beobachtung, dass nach der Ankunft der Migrant_innen in Deutschland „mittlerweile eine kreative und innovative Architekturdebatte über das Wohnen“ (Klappentext Friedrich et al. 2017) eingetreten sei. Man mag dieses Buch tatsächlich zu Recht als einen Beitrag hierzu einordnen, aber Zweifel sind doch begründet, ob es nicht einer von wenigen einsamen Rufen in der Wüste ist. Mit dem Schließen der Balkanroute und der Verunsicherung durch die weltweiten Krisen ist die Debatte um Flüchtlinge auch aus dem Bewusstsein vieler Architekt_innen wieder verschwunden. Zukunft: Wohnen könnte – vor allem mit seinen entwurfsbezogenen Arbeiten, die zwei Drittel des Buches einnehmen – auch als Beitrag zur aktuellen Diskussion um bezahlbaren Wohnraum gelesen werden. Aber sind die Themen wirklich deckungsgleich? Läuft die Integration von Flüchtlingen schlichtweg auf eine Verbreiterung des Angebots von bezahlbarem Wohnraum hinaus?

In seinem einleitenden Essay nimmt Jörg Friedrich einen kritischen Rückblick auf den Umgang mit der Flüchtlingskrise seit 2015 vor und positioniert sich eindeutig: „Die Gesellschaft der Zukunft wird ohne soziale Architektur und humanistisch orientierte Planungskreativität nicht auskommen.“ (2017: 17). Die Architekt_innen und Planer_innen seien zu schnell den Weg der Container- und Betonfertigteilindustrie mitgegangen. Die Einbeziehung des öffentlichen Raums fehle beispielsweise vollkommen. Seit Beginn der Krise hätte man langfristig vordenken müssen. Friedrich lobt hingegen die „guten, einfachen und kreativen Konzepte“ (ebd.: 18), die 2016 auf der Architekturbiennale in Venedig vorgelegt worden seien. Er verweist auf die Konzepte des „wachsenden Haus[es]“ (ebd.) aus den 1930er-Jahren des Berliner Stadtbaurats Martin Wagner als Beispiel dafür, wie man mit der „flächenfresssenden, horizontal sich ausbreitenden ,Stadt der Arme‘ an den Stadträndern“ (ebd.: 21) Schluss machen könnte. Wagner ziele auf hybride Wohn- und Arbeitsformen in den Zentren der Städte. Wie dies trotz der zunehmenden Immobilienpreise in den Innenstädten umgesetzt werden kann, schildert Friedrich anhand des „Neue Heimat Wohnlabor Hamburg“. Dieses anspruchsvolle Konzept, das als durchdachter Vorschlag einer subjektgeförderten sozialen Wohnungspolitik gelten darf, klingt vielversprechend. Gerne wüsste man mehr darüber, wie dieser Vorschlag aufgenommen wurde.

Wie dies dann praktisch umgesetzt werden könnte, davon ist leider auch im nächsten Beitrag, der dies qua Titel – „Von einer Willkommensarchitektur zur Wohnraumfrage“ – verspricht und auch detailliert durchdenkt, leider nichts zu erfahren. Migration könne eine Chance für ‚eine’ kooperative Stadt sein. Wir könnten, wie überzeugend dargestellt wird, die hybriden Architekturen – die unterschiedliche Funktionen wie Wohnen, Ökonomie, Freiraum und Verkehr miteinander verschmelzen – entwickeln. Die Vorschläge lägen auf dem Tisch. Woran es fehle, sei aber eine differenzierte Auseinandersetzung mit den realen Städten und den politisch und geschichtlich gewachsenen Entscheidungsstrukturen und Planungsprozessen, die auf die drängende Frage eine Antwort geben könnten: Warum werden diese Vorschläge nicht aufgenommen?

Philipp Oswalt setzt – in dem im Buch aufgenommenen Interview – auf Freiwilligkeit. Zumindest gelingt es ihm, die Voraussetzungen für eine veränderte Planungspraxis zu benennen. Ihm zufolge seien dies sachliche Ressourcen, die Bereitschaft der Kommune und eine unterstützende Akteurskonstellation. Nur ein gesellschaftlicher Mentalitätswandel könne die vorhandenen Governance-Strukturen so beeinflussen, dass eine Teilhabe der Flüchtlinge gelinge.

Mit Beispielen aus Berlin und Wien setzt der Band an, weiter zu bestimmen, wie zumindest die politischen und gesellschaftlichen Umstände sein müssten, damit sich der Ansatz einer innovierten Architektur, wie sie hier vorgeschlagen wird, auch in der Praxis umsetzen kann. Letztlich wird eine Reflektion, wie hier vorgelegt, diese Antwort nicht vorwegnehmen können. Stattdessen dürfte man die aufgeführten Projektvorschläge als Einladung zu einer experimentellen Erweiterung der Architekturperspektive verstehen. So ist insbesondere das von Ralph Boch vorgestellte Projekt „Home not Shelter!“ zu verstehen. Er kommt zu folgendem ambivalenten Ergebnis: „Die Provisorien der Unterbringung sind verbessert worden, aber zugleich scheint auch der große Impetus […] mit Mitteln der Architektur und des Städtebaus neu zu denken […], im Abebben begriffen.“ (2017: 66) Die Gefahr drohe, dass die Chance der Migration, die hybride Stadt neu zu konzipieren, verloren gehe. Anschließend werden von Julian Benz Vorschläge für die solidarische Finanzierung von Hausprojekten, auch mit Flüchtlingen, vorgestellt. Damit ergebe sich eine Handlungsoption, die aber die vorhandenen Governance-Strukturen, wie Oswalt fordert, weitgehend unberücksichtigt ließe und somit nur bedingt an die Komplexität der Herausforderungen heranreiche.

Diese Handlungsoptionen werden im zweiten Teil des Buches anhand von anschaulichen Grafiken zum Thema Migration aufgegriffen. Es folgen sehr viele interessante Beispiele für Entwürfe, die zeigen, wie man auf unterschiedlichen Wegen und an verschiedensten Orten mit teilweise provozierender Schönheit und Eleganz die Idee der hybriden Architektur humanistisch umsetzen könnte. Friedrich schaut in seinem abschließenden Statement auf die veränderte Situation in Deutschland im Jahr 2017 und sieht die „neue Angst vor dem Fremden“ (2017: 290) aufziehen. Diese spiele in eine Gesellschaft hinein, in der Altersarmut und Wohnraummangel die Städte vor weitere Herausforderungen stellten. Erneut fordert er die Architekt_innen auf, sich „auf die neuen Fragestellungen in der Stadtgesellschaft aus (zu)richten, nicht umgekehrt.“ (ebd.: 293).

Der vorgelegte Band ist insgesamt ein ermutigendes Beispiel dafür, dass trotz beobachtbarer Verschiebung der Aufmerksamkeit hinsichtlich der Flüchtlingsintegration – in der Architektur und in der Gesellschaft – die dringende Debatte über den Zusammenhang von Migration, Stadtentwicklung, bezahlbarem Wohnraum, Flächenfraß und der Vielfalt von Lebensentwürfen zusammengedacht werden kann und dabei anspruchsvolle architektonische Vorschläge entstehen können. Wenn sich die Architekt_innen – so wie hier gefordert – auf die Gesellschaft stärker einlassen sollen, dann ist allerdings noch ein längerer Weg zu gehen. Zum einen ist die Erwartung, dass „Millionen neuer Arme“ (ebd.: 17) noch kämen, angesichts der sich immer weiter schließenden Festung Europa kaum realistisch. Zum anderen ist die Frage der Integration vielleicht nicht in erster Linie vom Wohnen abhängig. Arbeit und Bildung, Familienvereinigung und auch Gemeinschaftsbildungen sind Faktoren, die die Mobilität von Flüchtlingen trotz Wohnsitzauflage im erheblichen Maße bestimmen werden. Was wird das für die Architektur und den Städtebau bedeuten, wenn Integration nicht durch die gewünschte hybride Stadt, sondern vor allem in den vorhandenen Siedlungsstrukturen mit der Eigenheim-Dominanz stattfindet? Friedrich und seine Mitstreiter_innen haben nun schon zweimal konzeptionelle Vorschläge entwickelt. Es droht Frust und die Abwendung vom Thema, weil sie niemand realisiert. Das wäre falsch. Der Architekturdiskurs muss sich noch intensiver mit der ,realen’ Stadt beschäftigen, bevor er Lösungsvorschläge entwickelt. Wir warten auf jeden Fall auf den dritten Band aus Hannover!

Autor_innen

Frank Eckardt ist Politikwissenschaftler und Stadtsoziologe.

frank.eckardt@uni-weimar.de