Stadt der Reproduktion. Einführung in den Themenschwerpunkt

Nina Schuster, Stefan Höhne

Kindermädchen und Hausangestellte unter der HSBC Bank in Hong Kong.
Kindermädchen und Hausangestellte unter der HSBC Bank in Hong Kong.[1]

Das abgebildete Foto zeigt eine Situation, die mittlerweile zum typischen Straßenbild Hong Kongs an einem Wochenende gehört. An jedem Sonntagmorgen wird die sonst vielbefahrene Charter Road für den Verkehr gesperrt und auch der Platz unter dem hier gezeigten Bankgebäude geräumt, die Zugänge werden abgeriegelt und die Rolltreppen außer Funktion gesetzt. Statt des sonst üblichen Verkehrs versammeln sich hier bereits im Morgengrauen tausende von Kindermädchen und Hausangestellten. Schätzungen zufolge arbeiten mittlerweile mehr als 300.000 dieser überwiegend aus Indonesien oder den Philippinen stammenden Frauen in Hongkonger Familien und wohnen für gewöhnlich auch bei ihnen (Boersma 2016). Sonntags allerdings ist ihr einziger freier Tag in der Woche. An diesem Tag ist es ihnen meist verwehrt, sich an ihren Arbeits- und Wohnstätten aufzuhalten. Sie treffen einander stattdessen an (halb-)öffentlichen Plätzen wie dem oben gezeigten – zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter. Hier picknicken sie, tauschen sich aus, musizieren, spielen oder skypen mit ihren Familien zuhause, die sie oftmals schon seit Jahren nicht mehr besuchen konnten. Dies ist einer der wenigen Momente, in denen diese Arbeiterinnen im städtischen öffentlichen Raum überhaupt als Gruppen sicht- und wahrnehmbar werden.

Selten versammeln sich in den Städten die Arbeiter_innen der Reproduktionssphäre in dieser oder ähnlicher Weise. Ihre Arbeitszeiten und -formen haben meist keinen gemeinsamen Rhythmus; auch die Bedingungen, unter denen sie arbeiten, können sich stark unterscheiden, sind also oft äußerst individualisiert. Darüber hinaus haben Hausangestellte und Kindermädchen in vielen Familien einen relativ schwierigen Stand, nicht nur wegen der engen Abhängigkeit von ihren Arbeitgeber_innen. Die Tätigkeit in einem Privathaushalt zur Versorgung von Kindern und für das Erledigen von Hausarbeit nutzen nicht wenige Arbeitgeber für sexuelle Übergriffe auf die Hausangestellten. Viele der Frauen haben längst begonnen, sich gegen die Willkür in ihren Arbeitsverhältnissen zu organisieren. Aufgrund deren Vielgestaltigkeit und Undurchsichtigkeit ist es jedoch nicht einfach, sich zu solidarisieren und Ansatzpunkte für gemeinsames politisches Agieren zu finden.

Unsichtbarkeiten

Sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in der wissenschaftlichen Forschung werden die Arbeitsverhältnisse von Hausfrauen und Hausangestellten, Pfleger_innen und Erzieher_innen, aber auch Fragen der Organisation und die Voraussetzungen von Reproduktionsarbeit, selten fokussiert. Mit dem aktuellen Themenschwerpunkt richtet urban den Blick auf diesen Bereich, der bislang in der kritischen Stadtforschung, mit Ausnahme der feministischen Stadtforschung, weitestgehend marginalisiert ist. Diese Leerstelle sagt bereits viel darüber, was meist mitgedacht wird, wenn über Stadt gesprochen und geforscht wird, und was nicht: Es werden zwar politische und ökonomische Prozesse thematisiert, aber oft ausgeblendet, dass damit soziale Praktiken verbunden sind, die auf den ersten Blick weit entfernt zu sein scheinen von ‚Politik‘ und ‚Ökonomie‘.

Wir gehen mit diesem Themenschwerpunkt jedoch davon aus, dass soziale Praktiken der gegenseitigen Versorgung und Fürsorge der Menschen in ihrem alltäglichen Miteinander sowohl für Politik und Ökonomie, als auch für die Stadt und ihre Bewohner_innen zentrale Bedeutung haben. Nicht zuletzt betreffen sie auch Fragen des alltäglichen Umgangs mit denjenigen, die sich noch nicht oder nicht mehr selbst versorgen können.

Unter dem nüchternen Begriff der Reproduktionsarbeit werden seit Marx gemeinhin alle Tätigkeiten gefasst, die auf die Herstellung und Aufrechterhaltung der Arbeitskraft und damit auf die Regeneration des Körpers und der Psyche gerichtet sind. Dazu können unter anderem Haus- und Familienarbeit, Sexualität sowie die Pflege von Alten, Kranken und Kindern gezählt werden. Während ein Teil des Reproduktionsbereichs, also Schulbildung, Weiter- und Ausbildung sowie die Versorgung mit Wohnraum, im Fordismus weitgehend vom lokalen Staat übernommen worden ist (Cockburn 1977, Bauhardt 1995: 45ff.), wurde und wird ein Großteil der sonstigen Reproduktionsarbeit in der kapitalistischen Moderne von Frauen geleistet sowie entweder gar nicht oder nur sehr schlecht entlohnt. Darauf, sowie auf die Naturalisierung dieser Tätigkeiten als ‚Frauenarbeit‘, haben feministische Autor_innen seit den 1970er Jahren immer wieder hingewiesen (u. a. Hausen 1976, Dietzen 1993: 113ff.). Ein breiter Diskurs zur räumlichen Dimension der Reproduktion und deren räumlichen Mechanismen, der insbesondere auch die Leitdifferenz Öffentlich/Privat oder die Prozesse in der nachfordistischen Phase analysieren würde, scheint jedoch bislang weitgehend zu fehlen.

Dabei ist doch gerade die Stadt auch Reproduktion, im engsten Sinne des Wortes: der Abwasch, die Wäsche und der Einkauf; in verschiedenen Konstellationen des Wohnens; Kindern vorlesen, sie zur Kita oder zur Schule begleiten und wieder abholen; Essen zubereiten (lassen) und Mahlzeiten einnehmen; Unterstützung geben und bekommen; Kranke und Alte versorgen und betreuen; Kinder zum Sport begleiten; gemeinsam oder individuell den Körper beanspruchen, sich entspannen und schlafen; Tote betrauern und beerdigen. Das Private ist eben politisch, weil sich in den verschiedenen individuellen Lebensmustern gemeinsame, also gesellschaftlich bedingte Muster zeigen lassen.

Diese Perspektive ist im Mainstream der gesellschaftlichen Diskurse allerdings bemerkenswert selten. Das mag vielleicht auch daran liegen, dass die Zusammenhänge von stadtraumbezogenen Prozessen und sozialen Praktiken der Reproduktionsarbeit meist schwer zu durchschauen sind. Und oftmals scheinen sie vielleicht allzu alltäglich und banal. Eine wichtige Rolle spielt zudem, dass die Arbeiten und Tätigkeiten, um die es hier geht, gesellschaftlich geringe Wertschätzung erhalten und dem ‚Privaten‘ zugeordnet werden, wobei möglichst wenig Aufhebens um sie gemacht werden soll. Auch wenn diese vielfältigen Tätigkeiten konstitutiv für die gesellschaftliche Ordnung sind und die kapitalistische Lohnarbeit elementar auf der reproduktiven Arbeit aufbaut, wird diese doch selten als Arbeit anerkannt, denn sie soll klassischerweise möglichst unentgeltlich und ‚aus Liebe‘ geschehen. Äußerst gering ist demzufolge auch die Entlohnung von Reproduktionsarbeit im ‚sozialen‘, ‚pflegerischen‘ und Reinigungs-Sektor, die überwiegend von Migrantinnen und Frauen, die der Unterschicht zugerechnet werden, verrichtet wird.

Das ‚Private‘ wird also offenbar nach wie vor als Gegenpol des ‚Öffentlichen‘ und somit auch des Städtischen konzeptualisiert. Aktuelle Bestrebungen, dies auf die politische Tagesordnung zu bringen und für eine bessere Entlohnung und höhere Wertschätzung dieser unverzichtbaren gesellschaftlichen Arbeitsbereiche zu kämpfen, sind jedoch nicht primär auf das Engagement von Gewerkschaften zurückzuführen, sondern vor allem auf feministische Kämpfe. Letztere verbinden eine grundlegende Kritik an der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung mit der an der Geringschätzung der Reproduktionsarbeit (Holland-Cunz 1993, Fraser 1996). Queere Positionen haben darüber hinaus die Heteronormativität kritisiert, die mit der Zweiteilung Öffentlich/Privat verbunden ist. Heterosexuell geprägte Normen legen fest, welche Praktiken in welcher Sphäre stattzufinden haben, und welche nicht: Während Intimitäten, Familie, Emotionales und insbesondere die Sexualität dem privaten Bereich zugeordnet werden, fallen dem öffentlichen Bereich Politik, (Erwerbs-)Arbeit und das Rationale zu (Valentine 1996).

Im Zuge der Etablierung kapitalistischer Raumorganisationen samt der Leitdifferenz von Privat und Öffentlich wurde so ein wesentlicher Teil der Reproduktionsarbeit von der Sphäre der Produktion getrennt. Dies und ihre fehlende Anerkennung haben entscheidend zur ‚Unsichtbarkeit‘ und Marginalisierung der Reproduktionsarbeit beigetragen. Derzeit lassen sich jedoch auch gegenläufige Entwicklungen beobachten: So löst sich die strikte Trennung von Produktions- und Reproduktionsbereich durch die ‚Entgrenzung der Arbeit‘ teilweise wieder auf, allerdings ohne dass es zu einer Aufwertung der Reproduktionsarbeit käme. Stattdessen sind die institutionalisierten und entlohnten Formen von Reinigungs- und Sorgearbeit – nicht zuletzt in den ‚weißen Fabriken‘ (Wildcat 1988), das heißt in den Kliniken, Pflegeheimen und Kinderbetreuungseinrichtungen – oftmals besonders prekär und marginalisiert. In diesen Arbeitsfeldern sind gerade Migrant_innen und Women of Color überdurchschnittlich stark vertreten und besonders von Ausbeutung betroffen. Auch hier sind heterogene Lebenslagen anzutreffen, sprich eine Spaltung der Migration und der Migrant_innen, nicht zuletzt anhand der Kriterien: gebildet/ungebildet, legalisiert/illegalisiert (Butterwegge 2009: 10).

So unsichtbar, wie diese Tätigkeiten im Alltag oftmals sind, so unbemerkt sind sie auch in weiten Teilen der Sozial- und Kulturwissenschaften geblieben. Zudem kann die Sphäre der Reproduktion nicht nur als blinder Fleck klassisch marxistischer Analysen gelten, sondern auch der kritischen Stadtforschung. Dies betrifft neben David Harvey, Neil Smith und zahlreichen anderen auch Henri Lefèbvre, dessen Diktum, dass die Stadt unsere Fabrik sei, übersieht, dass die urbanen Zentren nicht nur wichtige Sphären der Produktion, sondern auch der Reproduktion sind. Marxistische (Stadt-)Forschung hat sich kaum für die Frage interessiert, welchen Einfluss Reproduktionsarbeit auf die Räume des Urbanen hat und wie städtische Strukturen und Kulturen die Praktiken und Vergesellschaftungsformen der Reproduktion prägen. Dieser Befund gilt allerdings nicht vollständig. So hat beispielsweise Manuel Castells (1977) versucht, die fordistische Stadt als zentrale Einheit in der Reproduktion der Arbeitskraft zu bestimmen. Hier wird infolge einer Art historischen Kompromisses die soziale Infrastruktur für diese Reproduktion auf der städtischen Ebene von staatlichen Institutionen bereitgestellt, während die Unternehmen primär die Produktion organisieren. Aus dieser Perspektive kommen Stadtquartiere, ebenso wie Kindergärten und Schulen, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, nun zwar als bedeutende Teile der urbanen Reproduktionssphäre in den Blick. Allerdings fehlt hier der große Bereich der nicht institutionalisierten Sorge- und Pflegearbeit, die in den Privathaushalten getätigt wird. Ebenso wenig spielen öffentliche Orte für Erholung und Freizeit wie Parks oder kommerzielle Orte wie Wellnessoasen, Diskos oder Fitness-Studios in Castells‘ dualisiertem Konzept eine Rolle.

Reproduktion und feministische Stadtforschung seit den 1970er Jahren – ein Überblick

In Abgrenzung zur marxistischen Definition der Reproduktionsarbeit hat die feministische Theoriebildung ihren eigenen Reproduktionsbegriff entwickelt (Bauhardt 1995: 52). Sie hat damit die Bedeutung von unbezahlter Haus- und Sorgearbeit, weitgehend von Frauen verrichtet, für die Reproduktion der Arbeitskraft herausgearbeitet. Die marxistische Theorie hatte dagegen bislang angenommen, dass diese unbezahlte Arbeit „ohne Bedeutung für die kapitalistische Produktion sei“ (ebd.: 50). Seit den 1970er Jahren kämpfen Feministinnen für die Wahrnehmung der Themen, Probleme und Lebenswelten, die viele Frauen gemeinsam haben bzw. hatten. Dabei wird insbesondere die Gewalt an Frauen thematisiert, sowohl in Ehe und Familie als auch im öffentlichen Raum, und die ihnen häufig verweigerte Selbstbestimmung über ihren Körper (z. B. durch das Abtreibungsverbot in der BRD, vgl. die Kämpfe um den Paragraphen 218). Kritisiert wurde durch die Neuen Frauenbewegungen seit den 1960er und 1970er Jahren auch die Diskriminierung lesbischer Lebensweisen sowie die patriarchal strukturierte Zuweisung der Rolle der Ehefrau, Hausfrau, Mutter und Pflegende an heterosexuelle Frauen, die zum Beispiel ohne die Erlaubnis ihrer Ehemänner keiner Erwerbsarbeit nachzugehen und in finanzieller Abhängigkeit von ihren Männern zu leben hatten. In Abgrenzung von tradierten Geschlechterzuschreibungen und den durch sie eingeschränkten Entfaltungsmöglichkeiten von Frauen ging es um die Befreiung der Frauen von der Bevormundung und Abhängigkeit von Männern (vgl. u. a. Sander 1968, Hausen 1976). Daran anschließend begannen Feministinnen, Geschlecht als sozial konstruiert zu diskutieren (vgl. u. a. Kessler/McKenna 1978, West/Zimmerman 1987).

Mit der festgestellten fehlenden Wahrnehmung der Lebensumstände vieler Frauen in Gesellschaft und Politik verbinden feministische Aktivist_innen und Stadtforscher_innen seit den späten 1980er Jahren eine kritische Perspektive auf die Stadt. Diese betont vor allem, dass sich in städtischen Strukturen und den Hierarchien städtischer Räume gesellschaftliche Hierarchien widerspiegeln. Damit wurde auch die räumliche Organisation von vergeschlechtlichten Reproduktionsstrukturen kritisch analysiert. Innerhalb verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen wie der Stadtsoziologie, der Stadtplanung und der Architektur begannen Feministinnen, sowohl in US-amerikanischen als auch in verschiedenen westeuropäischen Kontexten, auf die Zusammenhänge zwischen sozialen und räumlichen Verhältnissen hinzuweisen, insbesondere auf die von Geschlecht und gebautem Raum (Hayden 1983, Rodenstein 1994, Dörhofer/Terlinden 1998, für einen Überblick vgl. Becker 2010). So wurden beispielsweise das Leitbild der ‚autogerechten Stadt‘ und die Funktionstrennung in vielen europäischen Städten der Nachkriegszeit kritisiert. Als Alternative wurde unter anderem eine Rückkehr zu einer „Stadt der kurzen Wege“ gefordert (Bauhardt 1995).

Viele Frauen in Europa verfügten in den 1970 und 80er Jahren weder über ein Auto noch über einen Führerschein. So mussten die zahlreichen Wege, die Frauen in ihrem Alltag zurückzulegen hatten, meist zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewältigt werden: von Kinderbringen und -abholen über Einkäufe, Arztbesuche und weitere Versorgungstätigkeiten. Insbesondere für die Frauen der Mittelschichten, die häufig in suburbanen Wohngebieten oder städtischen Randlagen lebten, waren gerade diese Formen der Fortbewegung ja gar nicht vorgesehen; der ÖPNV war schlecht ausgebaut, Fuß- und Fahrradwege fehlten und machten außerdem durch viel zu große Entfernungen zu den verschiedenen Versorgungsinfrastrukturen auch keinen Sinn.

Susanne Frank weist allerdings bezüglich der US-amerikanischen suburbs darauf hin, „dass gerade Suburbias Geschlechtscharakter bzw. die Geschlechterbilder und Geschlechterrollen, auf denen es aufruhte und die es seinerseits prägte, niemals unumstritten, sondern vielmehr Gegenstand von teils erbitterten Aushandlungs- und Deutungskämpfen waren und sind“ (Frank 2005: 103; vgl. auch Frank 2003: 276ff.), und zwar schon in der frühen Phase ihrer Etablierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In Suburbia habe sich schon früh der „stadt- und zeittypische gender trouble“ (Frank 2003: 298, Hervorh. i. Orig.), also eine Auseinandersetzung um geschlechtsspezifische Rollenmuster, fortgesetzt, wenn auch in anderen Erscheinungsformen als in den Städten. Jahrzehnte später, in den 1960er Jahren, wurde Suburbia immer stärker als Ort der „eingesperrten“, isolierten, gelangweilten und vereinsamten Haus- und Ehefrau kritisiert (ebd.: 317ff.). Selbst wenn sich hier auch emanzipatorische Praktiken zeigten, wie beispielsweise die auch von nichtweißen, geschiedenen oder ärmeren Frauen genutzten Chancen, sich durch den Vertrieb von Tupperware selbstständig zu machen, blieben diese meist individualisiert oder kurzlebig (Clarke 2001). Dies wurde vor allem mit den herrschenden, durch die suburbane Lebensform propagierten, Geschlechterrollen in Verbindung gebracht (Frank 2003: 319) und früh von Betty Friedan (1966 [1963]) als Suburbias „Weiblichkeitswahn“ kritisiert.

Basierend auf dieser Kritik begannen feministische Wissenschaftlerinnen sich nun auch aktiver als bisher in die Prozesse der Konzipierung städtischer Räume in den jeweiligen Disziplinen einzubringen, zum Beispiel in Zeitschriften und entsprechenden fachlichen Interventionen oder durch die Gründung feministischer Gruppen und Arbeitskreise wie „Frauen formen ihre Stadt“ (Bonn), „Frau Steine Erden“ (Westberlin) und „FOPA e. V.“ (u. a. Dortmund, Frankfurt/Main, Berlin). Ins Zentrum stellten sie die Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Hierarchien, welche die patriarchale Ordnung in den gebauten Raum einschreiben und so verfestigen.

An diese Kritik anschließend wurden seither zahllose, zum Teil radikale, zum Teil reformerische Gegenpositionen und utopische Entwürfe formuliert und teilweise auch in die Praxis umgesetzt. Ziel war es, durch feministische Perspektiven in wissenschaftliche Diskurse ebenso wie in Planungsprozesse zu intervenieren. Denn in beiden Bereichen waren bis dahin die Perspektiven von Frauen und eine Aufmerksamkeit für deren damals typische Lebensumständen überhaupt nicht vertreten: ihre Zuständigkeiten für Kindererziehung und -versorgung, für das Reinigen und Instandhalten im Haushalt, das Heranschaffen und die Zubereitung von Lebensmitteln (auch deren Produktion im eigenen Garten und das Haltbarmachen) sowie für die Versorgung und Pflege kranker und nicht mehr selbständiger Angehöriger. Die eklatante Absenz dieser Tätigkeiten in der akademischen Forschung wie auch in den legitimierten Wissensarchiven stellt auch Frigga Haug (2001) nach ihren Recherchen zum Konzept der Hausfrau für das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus heraus:

„Die Allgegenwärtigkeit der H[ausfrau] steht in scharfem Kontrast zu ihrer Abwesenheit in den Archiven begrifflichen Wissens. Eine Suche in 15 Handwörterbüchern und Lexika ergab: es gibt zumeist nicht einmal das Stichwort im Register, geschweige denn einen eigenen Artikel. Das gilt gleichermaßen für historische Wörterbücher […] wie für ökonomische, philosophische oder soziologische.“ (Haug 2001: 11-96; Ergänzung: NiS/SH).

Intersektionalitäten

Feministische FrauenLesbengruppen und mit ihnen verbundene Akteurinnen in Wissenschaft, Planung und Architektur trugen mit ihrer kämpferischen Feststellung: „Das Private ist politisch!“ dazu bei, dass diejenigen Lebensbereiche und Praktiken, die im hegemonialen Diskurs als privat verhandelt wurden, stärker als bisher als Bereiche wahrgenommen werden, die Ausdruck patriarchaler gesellschaftlicher Strukturen und Machtverhältnisse sind. In Folge des dafür wesentlichen Erfahrungsaustauschs konnten feministische Gruppen Probleme, die bislang als individuelle wahrgenommen worden waren, nun als gemeinsame thematisieren und die so entstehenden feministischen Positionen und konkreten Forderungen in politische Debatten einbringen (Schuster 2016).

Doch wer waren damals und sind heute eigentlich ‚Frauen‘? Durch die Interventionen von Women of Color und Migrantinnen seit den 1980er Jahren und ihre neuen theoretischen Reflexionen wurde das Sprechen über ‚Frauen‘ hinsichtlich der Hierarchien zwischen Frauen nach Klasse und Race differenziert und teilweise auch ent-essenzialisiert. Aktivistinnen und Autorinnen wie z. B. Audre Lorde (1983), Katharina Oguntoye, May Opitz, Dagmar Schultz (Oguntoye/Opitz/Schultz 1986) und bell hooks (1990) wiesen bereits früh auf die nicht nur klassistischen, sondern auch rassistischen Strukturen in westlichen Gesellschaften hin (hier insbesondere: der BRD und der USA). Sie betonen, dass sich diese nicht zuletzt in der Ausblendung Schwarzer Positionen im Feminismus weißer Frauen zeigt. Im Hinblick auf die Diskurse zu Reproduktionsarbeit erhielt die Frage nach Differenzierungsprozessen eine deutliche Brisanz. Diese Interventionen hatten und haben bis heute den Effekt, dass auch die Trennungen und Differenzen zwischen Frauen unterschiedlicher sozialer Positionierungen in den Fokus gelangen. Solche „Achsen der Differenz“ (Klinger/Knapp 2005) wurden zwar auch durch weiße Feministinnen ausgemacht und werden seit den 2000er Jahren prominenter im Konzept der Intersektionalität diskutiert.

Allerdings bleiben im feministischen Diskurs bis heute Hierarchisierungen bezüglich der sozialen Positionen und Rezeptionsweisen erhalten. Hier ist vor allem die Schräglage zwischen akademischem Feminismus und Bewegungsfeminismen zu nennen, die einher geht mit einer besonderen Berücksichtigung bürgerlicher Frauenperspektiven gegenüber denen von Frauen unterer sozialer Klassen. Problematisch ist auch die Privilegierung heterosexueller gegenüber lesbischen und trans-Positionen und weißen gegenüber Schwarzen Perspektiven. Mittlerweile haben verschiedene Studien das Ineinandergreifen verschiedener Differenzkategorien untersucht, beispielsweise inwiefern weiße Mittelschichtsfrauen und männer migrantische Haushaltshilfen, Pfleger_innen und Nannys nutzen, um von den Aufgaben der Reproduktionsarbeit entbunden zu sein und in stärkerem Maße selbst einer Erwerbsarbeit nachgehen zu können, was ihre eigene, privilegiertere soziale Lage stabilisiert und rassistische Gesellschaftsstrukturen stützt (Castro Varela 2003, Lutz 2007; 2008, Hess 2009).

Krise und Ökonomisierung der Reproduktion?

Die Ökonomisierung der Reproduktionssphäre zeigt sich unter anderem in der zunehmenden Sichtbarkeit dieser Tätigkeiten, da diese nun aus dem Privaten in die öffentliche Sphäre verlagert werden. Besonders deutlich wird sie zudem in der starken Zunahme von oftmals informell wie prekär Beschäftigten in diesem Feld. Als Dienstleister_innen arbeiten sie beispielsweise in mobilen Pflegediensten, als Nannys und Tagesmütter bzw. väter, in der Betreuung Alter, Kranker und Behinderter sowie als Sexarbeiter_innen oder als Reinigungskräfte für private Haushalte, Unternehmen und öffentliche Einrichtungen. Da insbesondere in der Sorgearbeit Fachkräfte fehlen, auch aufgrund schlechter Entlohnung und unattraktiver Schichtarbeit, richtet sich die staatliche Migrationspolitik zunehmend auf Arbeitskräfte aus dem Ausland, die die Sorgearbeit der ‚alternden Gesellschaft‘ übernehmen sollen. Vor allem die sozial-pflegerischen Formen der Kommodifizierung der Reproduktion werden als „Care-Work“ (England 2005) oder „Affective Labour“ (Batnitzky/McDowell 2011) problematisiert – allerdings selten im Hinblick auf die räumliche oder städtische Organisation. Dies mag erstaunen, sind es doch gerade die Städte, die als Labore und Motoren dieser Entwicklungen gelten können. Gerade hier artikulieren sich neue Anforderungen, aber auch Einschränkungen und Rassismen, ebenso wie Formen kollektiver Auseinandersetzung und des Widerstands. Dies zeigt sich beispielsweise in der Zunahme individueller Lösungsstrategien, wie der Anstellung von Nannys, Reinigungskräften oder der Nutzung von Lieferdiensten und kleiner Dienstleister_innen aller Art. Zugleich formieren sich hier auch verstärkt kollektive Initiativen, wie neue nachbarschaftliche Organisationen, Initiativen und Institutionen oder auch Tauschringe, ‚Neue Nachbarschaften‘, Demenzcafés, selbstorganisierte geteilte Kinderbetreuung, Mütterzentren und vieles mehr. So hat sich weit über den sozial-pflegerischen Bereich hinaus vor allem in den Ländern des globalen Nordens längst ein neues, prekarisiertes ‚Dienstleistungsproletariat‘ herausgebildet, das für Reproduktionsarbeit im umfassenden Sinn zuständig ist. Die zahlreichen lebensnotwendigen Arbeiten wie die Essenszubereitung und anlieferung, das Wäschewaschen, Bügeln, Putzen, Pflegen, Reparieren und anderes mehr werden dabei zunehmend an prekarisierte Dienstleister_innen ausgelagert, viele von ihnen zugewandert.

Diese Phänomene wurden in den späten 1990er Jahren schon einmal thematisiert (Bock/Heeg/Rodenstein 1997) und werden aktuell wieder vor allem in queer/feministischen Zusammenhängen als ‚Krise der Reproduktion‘ und ‚Care-Revolution‘ diskutiert (vgl. Federici 2012 und die folgenden Bände der Reihe kitchen politics. queerfeministische interventionen sowie Winker 2015). Ausgelöst wird diese Krise nicht nur durch die Erosion staatlicher Versorgungs- und Fürsorgeinstitutionen im Zuge der Durchsetzung neoliberaler bzw. post-fordistischer Austeritätspolitiken (Fraser 2016), sondern auch durch den Wandel fordistisch-patriarchal organisierter Familienstrukturen, Solidarformen und Werte (Haug 2008). Während sich deren klassische Formen einerseits auflösen oder auflockern, andererseits aber auch retraditionalisieren, lässt sich eine Vielzahl neuer (und nicht ganz so neuer) Gemeinschaftsstrukturen beobachten, wie zum Beispiel Regenbogenfamilien und (mehrgenerationale) Wohngemeinschaften. Diese orientieren sich nicht mehr zentral am heteronormativen Modell der Kleinfamilie, sondern bilden oftmals neue Fürsorge-Gemeinschaften. Ebenso mehren sich die Anzeichen für eine eskalierende Krise gesellschaftlicher Reproduktion, die aus dem sich verschärfenden Widerspruch zwischen den Reproduktionskosten von Arbeit und der Maximierung von Profit erwächst (Winker 2015). Zugleich wird nunmehr von den Individuen erwartet, sich den sich rasch wandelnden Bedingungen flexibel anzupassen und dementsprechend stets an der Selbstoptimierung zu arbeiten (Boltanski/Chiapello 2003).

Wohnen in der Stadt der Reproduktion

Das Wohnen spielt in dieser Perspektive eine vielschichtige Rolle. War die Wohnung in vielen kapitalistisch geprägten (anders als in den sozialistisch geprägten) Gesellschaften über Jahrzehnte eine wichtige, aber auch ambivalent zu bewertende Sphäre der Reproduktionsarbeit, die die Reproduktionsarbeiterin stark isolierte, gerät diese gesellschaftliche Sphäre mittlerweile stark unter Druck – nicht nur aufgrund der Entgrenzung von Arbeit und der Erosion traditioneller Geschlechterarrangements. Die Finanzialisierung der Wohnungsmärkte (Heeg 2013) und die derzeitige Wohnungs- und Sozialpolitik, die soziale Ungleichheiten verstärkt und zementiert, erzeugen für immer mehr Menschen entsicherte Wohnverhältnisse. Wohn- und Kommuneprojekte sind seit den 1970er Jahren bis heute Experimentierfelder, deren Bewohner_innen große Anstrengungen machen, (Reproduktions-)Arbeit anders zu verteilen und neu zu bewerten (zu Frauenwohnprojekten vgl. z. B. Becker 2006).

Beiträge des Themenschwerpunkts

Welche Strategien gemeinschaftlicher Fürsorge in Wohnprojekten sich in Reaktion auf die Veränderungen sowohl in den Geschlechterverhältnissen als auch im Zusammenhang mit der zunehmenden Erwerbsarbeitsbeteiligung vieler Frauen herausbilden, zeigen in unserem Themenschwerpunkt Susan Schröder und David Scheller in ihrem Aufsatz „Abgesicherte Fürsorge und fürsorgliche Absicherung in Gemeinschaft – Mehrgenerationenwohnprojekte als neue Formen der städtischen Reproduktion?“. Sie beleuchten Projekte des Mehrgenerationenwohnens, deren Bewohner_innen einen alltagspraktischen Umgang mit der Prekarisierung von Arbeit und Leben suchen und dabei auch neue Organisationsformen der Vergemeinschaftung städtischer Reproduktion erproben. Anhand dreier sehr unterschiedlicher Projekte analysieren die Autor_innen aus feministischer Perspektive sowohl die emanzipativen Potentiale als auch die Ambivalenzen kollektiver Wohnformen. Sie zeigen, dass diese fürsorglichen Nachbarschaften immer wieder Fragen von alltäglicher Lebensführung, kollektiver Organisation wie auch Nähe und Distanz aushandeln müssen.

In Bezug auf die Frage des gemeinschaftlich organisierten Wohnens und der Neuverteilung der Sorgearbeit kann der Aufsatz „What would a non-sexist city be like? Speculations on housing, urban design, and human work“ der amerikanischen Stadtplanerin Dolores Hayden als wegweisend gelten. Seit seinem Erscheinen im Frühjahr 1980 in der Fachzeitschrift Signs: Journal of Women in Culture and Society im Kontext eines Sonderhefts mit dem Titel „Women and the American City“ ist der Text rasch auch jenseits von Nordamerika breit rezipiert worden. Er kann mittlerweile getrost als Klassiker der feministischen Stadtforschung bezeichnet werden. Hier zeigt Hayden, wie durch gebaute Umwelt Frauen systematisch diskriminiert und marginalisiert werden. Insbesondere sind es die Strukturen der amerikanischen Vorortsiedlungen, die Hayden kritisch in den Blick nimmt. Die Einfamilienhäuser der Suburbias bewirken nicht nur die Isolation und Unsichtbarmachung der Hausfrauen und ihrer meist unbezahlten Reproduktionsarbeit. Sie erschweren durch mangelnde Infrastrukturen der Mobilität, des Konsums und der Kinderbetreuung auch deren Alltag, ebenso wie eine mögliche Erwerbstätigkeit. Diesen sexistischen und exkludierenden Strukturen und Architekturen setzt Hayden ein Modell namens HOMES (Homemakers for a more egalitarian society) entgegen, das durch ökonomische, soziale und bauliche Interventionen die kollektive Organisation der reproduktionsbezogenen Tätigkeiten ermöglichen soll.

Seit seiner Veröffentlichung hat dieser Text Generationen von feministischen Stadtplanerinnen inspiriert und auch immer wieder Debatten darüber ausgelöst, wie sexistische Gesellschaftsstrukturen und bauliche Formen zusammenhängen. Zudem hat er das Bewusstsein für die oftmals diskreten sozialen Wirkungsweisen von Architektur und Stadtplanung geschärft und Wege für die Schaffung alternativer Formen des Zusammenlebens und -arbeitens eröffnet. Auch den deutschsprachigen Leser_innen wurde der Aufsatz bereits 1981 bekannt gemacht. Die Zeitschrift Arch+ veröffentlichte ihn in gekürzter Form im Rahmen des von Sybilla Hege und Sabine Kraft herausgegebenen Themenheftes „Kein Ort, nirgends – Auf der Suche nach Frauenräumen“ (Hayden 1981). Wir haben Dolores Haydens Essay für diesen Themenschwerpunkt nun erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt und mit allen Abbildungen und Literaturhinweisen versehen. Zudem haben wir fünf feministische Stadtforscherinnen gebeten, diesen Text aus heutiger Perspektive zu diskutieren. Die so entstandene Debatte zeigt dabei deutlich, dass die von Hayden aufgeworfenen Fragen auch heute noch hochgradig relevant und inspirierend sind.

Dörte Kuhlmann verortet in ihrem Debattenbeitrag zunächst Haydens Vorschläge in einer historischen Reihe von visionären planerischen Ideen zur Befreiung von Frauen von der täglichen Last der Haushaltstätigkeiten. Dass Haydens Forderung nach einer nicht-sexistischen Stadt weiterhin nicht realisiert ist, liegt für Kuhlmann neben dem ungebrochenen Leitbild eines (klein-)familiären Eigenheims vor allem in den ökonomischen Strukturen begründet. Auch Marianne Rodenstein verweist in ihrem Beitrag zunächst auf einige historische Experimente emanzipatorischer und feministischer Stadtplanung und Architektur. Wie sie weiterhin zeigt, war und ist die Durchsetzung von Haydens Ideen auch in Deutschland nur schwer möglich, sowohl aufgrund anderer feministischer Ideale und Organisationsformen wie auch durch die Usurpation dieser Ideen durch den planerischen Mainstream. Gesa Witthöft zeichnet in ihrem Beitrag die vielfältigen Wirkungen nach, die Haydens Text in der deutschen feministischen Stadtforschung entfaltet hat. Dabei zeigt sie auch die Grenzen dieser ‚reformistisch‘ orientierten Perspektiven auf und plädiert für die Wiederanfachung einer fachpolitischen Diskussion zu den forschungsethischen und gesellschaftspolitischen Grundsätzen in Architektur sowie Stadt- und Raumplanung. Sandra Huning konstatiert, dass aktuelle Forderungen und Leitfäden von Gender Planning in der Planungspraxis bislang kaum berücksichtigt werden und oftmals auf Desinteresse stoßen. Zugleich betont sie die visionäre Kraft in Haydens Vorschlägen, die es Planer_innen ermöglicht, ihre eigene Tätigkeit mit grundsätzlicheren Überlegungen zu einer gerechten Familien- und Erwerbsarbeit wie auch zu einer emanzipatorischeren Gesellschaft zu verbinden. Felicita Reuschlings Beitrag wiederum aktualisiert die Thesen von Hayden zur Diskussion der aktuellen Stadtentwicklungsdynamiken in Berlin. Dafür beleuchtet sie insbesondere den Planungsprozess um das Dragonerareal in Kreuzberg und argumentiert, dass dieses das Potential hat, zum Modell einer progressiven städtepolitischen Stadtentwicklung zu werden. In einem eigens für diese Debatte verfassten Beitrag schaut auch Dolores Hayden selbst zurück auf den Entstehungskontext ihres Textes und bezieht ihn auf die heutige Situation. Da zahlreiche der von ihr bereits vor nahezu 40 Jahren beklagten Missstände fortbestehen, appelliert sie dafür, weiter gemeinsam für das feministische Ideal einer nicht-sexistischen Stadt zu kämpfen.

Ein gutes Beispiel für neue feministische Initiativen ist das Vernetzungstreffen „Feministische Geographien“. In ihrem Magazinbeitrag „We take the risk of hope“ berichten Nina Fraeser, Sarah Klosterkamp, Juliane Kühn, Eva Kuschinski und Theresa Martens von dem Treffen im Frühjahr 2017 in Hamburg. Hier ging es darum, sowohl in der Arbeitsorganisation des Treffens wie auch in den Diskussionen gemeinsame Formen feministischer Wissensproduktion zu erproben. Neben den aktuellen Reproduktionsverhältnissen und den Bedingungen von Care-Arbeit wurde auch die Universität als Ort der Reproduktion kritisch in den Blick genommen.

In ihrer Rezension zu Gisela Notz‘ Einführungswerk Kritik des Familismus verweist Jana Günther auf die Persistenz des Modells der (heterosexuellen) Kleinfamilie als hegemoniale Lebensform. Das Konzept des Familismus betont, dass Familien- und Sozialpolitik seit Jahrzehnten in Bezug auf die (ZweiEltern)Familie gedacht wird, was sowohl benachteiligende Effekte für Alleinerziehende mit sich bringt als auch die ungebrochene Selbstverständlichkeit unbezahlter Sorgearbeit von Frauen für nahe Angehörige.

Wie vergeschlechtlichte Ungleichheiten durch Reproduktion stabilisiert werden und welche räumlichen Effekte sich in einer Gesellschaft zeigen, die noch in den 2010er Jahren fieberhaft über ‚Herdprämien‘ diskutiert, untersuchen Andrea Mösgen und Jan Kemper in ihrem Aufsatz „Die ungleiche Geographie des Elterngelds“. Sie diskutieren, inwieweit sich infolge der familienpolitischen Einführung der Ressource Elterngeld im Jahre 2007 die Einkommensungleichheiten der Produktions- bzw. Erwerbssphäre auf die Reproduktions- bzw. Familiensphäre übertragen hat. Ihre räumlich orientierte Untersuchung des Elterngeldbezugs führt zudem ungleiche Bewältigungsmöglichkeiten kinderbezogener Sorgearbeiten vor Augen.

Ausblick

Mit den oben skizzierten Beiträgen ist das Themenfeld der ‚Stadt der Reproduktion‘ selbstverständlich längst nicht umfänglich behandelt. Stattdessen sind hier erste neue Zugänge versammelt, von denen wir hoffen, dass sie weitere Erkundungen, Debatten und Forschungen zur Frage anstoßen, welche spezifischen räumlichen Organisationsformen in der aktuellen Stadt der Reproduktion entstehen. So bleibt die Frage nach den sozialräumlichen Effekten und Strukturierungen von Reproduktionsarbeit ein weitreichendes Desiderat – auch für die kritische Stadtforschung. Dies betrifft sowohl die Veränderungen stadtstruktureller Prozesse als auch die möglicherweise besonderen Territorien der Reproduktion und deren Transformationen, die Bedeutung traditioneller bzw. pluraler Lebensformen (andere Familien, Freundschaften, Communitys etc.) ebenso wie Protest und Selbstorganisation in den Bereichen von Reproduktions- und Fürsorgearbeit. Auch die vielfältigen Ausbeutungsverhältnisse und Widerstandsformen der eingangs erwähnten Kindermädchen und Hausangestellten in Hongkong sind bislang noch kaum Gegenstand kritischer Forschung geworden. Hier gilt es neue Perspektiven sowie empirische und theoretische Zugänge zu entwickeln, um diese zentrale Dimension urbaner Wirklichkeit stärker als bisher in den Blick zu nehmen.

Dass dies ein herausforderndes Unterfangen ist, ist nicht zuletzt durch die Schwierigkeiten deutlich geworden, Beiträge für diesen Schwerpunkt zu akquirieren. So freuen wir uns weiterhin über Einreichungen, die sich dieser Herausforderung stellen. An möglichen Forschungsfeldern und Fragestellungen herrscht dabei kein Mangel: Können ‚Ghettos‘ bzw. ‚benachteiligte‘ Stadtteile mit familiärer Benachteiligung in Verbindung gebracht werden? Gibt es Zusammenhänge zwischen familiären Benachteiligungen und marginalisierten Quartieren? Inwieweit kann Sexarbeit als Teil von Care- oder Reproduktionsarbeit verstanden werden? Welche Formen der Organisation, des Protests und des Widerstands mit Bezug auf Reproduktionsarbeit lassen sich historisch wie gegenwärtig in den Städten beobachten? Und inwieweit kann Reproduktion als Feld utopischer, emanzipatorischer oder gar widerständiger Politiken und Organisationsformen gelten?

Endnoten

Autor_innen

Nina Schuster ist Soziologin und forscht an der Schnittstelle von stadtsoziologischen und queer/feministischen Theorien zur sozialen und räumlich-materiellen Produktion sozialer Ungleichheit.

nina.schuster@tu-dortmund.de

 

Stefan Höhne ist Kulturwissenschaftler und Historiker. Er forscht zu Geschichte und Theorie des Städtischen sowie zu technischen Raumproduktionen und materieller Kultur.

stefan.hoehne@metropolitanstudies.de

Literatur

Bauhardt, Christine (1995): Stadtentwicklung und Verkehrspolitik. Eine Analyse aus feministischer Sicht. Basel u. a.: Birkhäuser.

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