„Dekolonisieren wir unsere Köpfe“… und unsere Städte!

Rezension zu Zwischenraum Kollektiv (Hg.) (2017): Decolonize the City! Zur Kolonialität der Stadt. Gespräche, Aushandlungen, Perspektiven. Münster: Unrast Verlag.

Laura Nkula-Wenz

„Decolonize the City!“ – mit diesem Schlachtruf organisierte das Herausgeber_innenkollektiv „Zwischenraum“ bereits 2012 eine akademisch-aktivistische Konferenz in Berlin mit dem Ziel, einen längst überfälligen rassismuskritischen Blick auf die deutsche Stadtforschung zu werfen. Mit dem gleichnamigen Buch ist nun jedoch weit mehr als nur ein Tagungsband erschienen. Obwohl ganze fünf Jahre zwischen Konferenz und Buchveröffentlichung liegen, könnten die vorgestellten Debatten, Konzepte und Interventionen kaum aktueller sein. Anhand einer breiten Palette von konzeptionellen Diskussionen und illustrativen Beispielen aus verschiedenen Städten des ‚globalen Nordens‘ stellen sich die versammelten Autor_innen der Frage, was es im deutschen Kontext bedeutet, ‚Dekolonisierung‘ einzufordern und an welchen Punkten und Orten hierfür intellektuell und praktisch angesetzt werden kann. Die Bandbreite der Themen reicht dabei von kritischen Dekonstruktionen städtischer Erinnerungspolitik über urbane Verdrängungsprozesse und rassistisch motivierte Polizeigewalt bis hin zur Marginalisierung queerer people of color (im Folgenden PoC abgekürzt).

Kolonialität und Dekolonisierung bilden dabei die zwei zentralen konzeptionellen Ankerpunkte der Autor_innen des Sammelbands. In kritischer Auseinandersetzung mit postkolonialen Theorien betont die ‚dekoloniale‘ Denkschule nicht nur die physische Verdrängung von kolonialisierten Gesellschaften und die daraus resultierenden negativen sozioökonomischen Effekte wie anhaltende Armut und systematische Benachteiligung, sondern lenkt den Blick außerdem auf die Marginalisierung alternativer Wissensformen in der westlichen Moderne. Als zentrale Autoren dieser aktuellen Debatte haben sich bisher vor allem lateinamerikanische Entwicklungskritiker wie Walter Mignolo, Arturo Escobar und Anibal Quijano hervorgetan, welche unter anderem auf Basis der rassismuskritischen Analysen des afrokaribischen Psychiaters und Philosophen Frantz Fanon die Universalitätsansprüche westlicher Erkenntnistheorie kritisieren. Dekolonisierung als Prozess zu verstehen, geht dabei jedoch über reinen „epistemologischen Ungehorsam“ (Mignolo 2011: 122f., Übers. d. A.) hinaus und schließt explizit politische Unterstützung für weltweite indigene, feministische, queere und antirassistische Kämpfe mit ein. An diese akademisch-aktivistische Praxis knüpft auch der vorliegende Sammelband an. Er übersetzt zentrale Argumente anhand von anschaulichen Beispielen aus dem ‚globalen Norden‘ für den deutschen Sprachraum und insbesondere für die hiesige kritische Stadtforschung.

Besonders angenehm fällt dabei die Tatsache auf, dass die Autor_innen nicht nur Institutionenkritik üben, sondern sich auch selbstkritisch mit antifaschistischen und antirassistischen Organisationen der politischen Linken auseinandersetzen. Dies wird besonders im Kapitel von Paola Bacchetta, Fatima El-Tayeb und Jin Haritawon deutlich. Hier zeigen die Autor_innen, wie rassistische Ausschlussmechanismen auch in links-alternativen Projekten reproduziert werden und sich im Gegenzug kreativer Widerstand durch queere PoC-Gruppen formiert. Exemplarisch hierfür beschreiben die Autor_innen die Auseinandersetzung über den „Transgenialen CSD“ in Berlin-Neukölln, welcher von queeren PoC-Gruppen als neokolonialer Gentrifizierungstreiber öffentlich kritisiert wurde. Das in „Sachen Rassismus Unterscheidungen zwischen homo/rechts/normativ und queer/links/transgressiv“ (2017: 44) problematisch sind, weil so systematisch Stimmen, Körper und Identitäten queerer PoC durch das binäre Raster fallen, ist durchaus eine Problematik mit globaler Resonanz. Dies zeigt auch das jüngere Beispiel der „Johannesburg Pride“ im Jahre 2012. Hier kam es während des Umzugs zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen einerseits überwiegend schwarzen lesbischen und nicht genderkonformen Feministinnen, die durch eine Schweigeminute auf die anhaltend hohe und grausame sexuelle Gewalt vor allem gegen die Körper schwarzer Frauen in Südafrika aufmerksam machen wollten, und den überwiegend weißen Teilnehmer_innen und Organisator_innen des Umzugs andererseits. Letztere überzogen Erstere mit rassistischen Äußerungen und versuchten, sie gewaltsam vom Umzug zu entfernen. Betrachtet man diese Auseinandersetzung mithilfe eines intersektionalen und dekolonialen Analyserahmens, zeigt sich schnell, dass Homophobie zwar das ganze LGBTI-Spektrum betrifft, rassifizierte Klassenunterschiede jedoch trotzdem dazu führen, dass schwarze Körper innerhalb dieses Spektrums weiterhin unterdrückt und ihre Erfahrungen nicht ernst genommen werden (siehe Scott 2017).

Ein weiteres einprägsames Beispiel, dass die Dringlichkeit aber gleichzeitig auch die Komplexität antirassistischer Stadtpolitik verdeutlicht, findet sich im Text von Mahdis Azarmandi und Roberto D. Hernandez. Ausführlich analysieren die Autor_innen hier den Umbenennungsprozess des – nach einem prominenten Sklavenhändler benannten – „Antonio López Plaza“ in Barcelona. Dabei zeigen sie sehr anschaulich, wie weiße liberale Linke genau jene gewaltsamen kolonialen Ausschlussprozesse reproduzieren, welche sie durch die Umbenennung eigentlich bekämpfen wollen. Auf den ersten Blick zeugen die von diesen Gruppen vorgeschlagenen Namen – wie „Nelson Mandela“ und „Rana Plaza“ – zwar von einer augenscheinlichen Sensibilität für Menschen- und Arbeiter_innenrechte, Toleranz und Antirassismus. Allerdings zeigen die Autor_innen wie durch die Belegung solch abstrakter moralischer Allgemeinplätze – wie globaler Gerechtigkeit, Solidarität und Versöhnung – eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen rassistischen und geschlechtsspezifischen Kolonialgeschichte aktiv vermieden wird. So wird koloniale Gewalt nicht nur dem lokalen Kontext enthoben, sondern auch historisiert und damit als abgeschlossen betrachtet. Wie die Autor_innen eingängig argumentieren, führt dies letztendlich dazu, dass die alltäglichen Kämpfe afrospanischer Gruppen mit den Mikroaggressionen der kolonialen Gegenwart weder wahr- noch ernstgenommen werden.

Neben diesen eher beispielgeleiteten Texten bietet Decolonize the City! aber auch stärker theoretisch-konzeptionelle Zugänge an. Ramón Grosfoguel gibt – gestützt auf die postkolonialen Philosophen Frantz Fanon und Boaventura de Sousa Santos – Antworten auf die Frage „Was ist Rassismus?“, während Noa K. Ha mit ihren Ausführungen „Zur Kolonialität des Städtischen“ die dazugehörige stadttheoretische Fundierung liefert. Obwohl beide Kapitel im akademisch-aktivistischen Spektrum eher auf der akademischen Seite verortet werden können, sind sie weitestgehend verständlich geschrieben und verschaffen den Leser_innen einen guten Überblick über zentrale Theorien und Debatten.

Obwohl sich die Geografie der – in Decolonize the City! besprochenen – antirassistischen Kämpfe und dekolonialen Widerstände von Barcelona über Lissabon bis nach Oakland zieht, spielt Berlin in vielen Kapiteln eine zentrale Rolle. Dies mag zum einen dem ursprünglichen Ort der Tagung geschuldet sein, zum anderen aber auch mit den zahlreichen erinnerungspolitischen Kontroversen der letzten Jahre zusammenhängen. Insbesondere das geplante „Humboldt Forum“ ist dabei ein Brennglas, durch das vieles von dem, was in der deutschen Hauptstadt in Sachen kolonialer Aufarbeitung und Dekolonisierung schief läuft, unverhohlen zutage tritt. Daher bildet das Forum auch im letzten Buchteil einen wichtigen Referenzpunkt für die Autor_innen. Ganz im Sinne einer postkolonialen Agenda zeigen die eingängigen Kritiken dominanter Identitätsmuster und nationaler Erinnerungspolitiken, dass die Stadt mehr als nur ein Ort kapitalistischer Akkumulation ist. Sie ist auch ein Ort aktiver nationaler Identitäts(re)konstruktion und politischer Ideologisierung, weshalb besonders städtische Museen als eine Art „imperialer Mikrokosmos“ (2017: 137; Übers. d. A.) fungieren. Nicht zuletzt gewinnt dieser Teil dadurch an Aktualität, dass Ende Juli 2017 die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy dem Expert_innen-Beirat des Humboldt Forums den Rücken kehrte. Dabei warf sie dem Forum vor, es zeige mangelnde Sensibilität für kritische Provenienzforschung und scheue eine ernsthafte und umfassende Auseinandersetzung mit der Gallionsfigur Alexander von Humboldt. Zwar entfernt sich Decolonize the City! in diesem Teil am weitesten von einem stadttheoretischen Anspruch, aber dies tut der Relevanz des Gesamtwerks keinen Abbruch. Im Gegenteil: Weil die Herausgeber_innen vermeiden, allen Autor_innen eine einheitliche Stadtforschungsschablone überzustülpen, beweisen sie, dass sie Interdisziplinarität ernst nehmen. Einziger Wermutstropfen in diesem Zusammenhang: Obwohl sich die Problematisierung der ‚europäischen Stadt‘ als scheinbar universaler globaler Entwicklungsstandard – mal mehr, mal weniger sichtbar – durch das gesamte Buch zieht und das Herausgeber_innenkollektiv selbst zum Großteil aus weiblichen PoC besteht, verweist lediglich das Kapitel von Noa K. Ha explizit auf die zahlreichen Autor_innen of Color, welche die Debatte um die Kolonialität der Stadt innerhalb der Urban Studies geprägt haben und weiter unermüdlich vorantreiben, wie unter anderem AbdouMaliq Simone, Brenda Yeoh, Ananya Roy, Aihwa Ong, Katherine McKittrick, Patricia Noxolo und Edgar Pieterse.

Abgesehen davon zeichnet sich Decolonize the City! nicht nur durch die große Bandbreite und Qualität der einzelnen Beiträge aus, sondern zeigt sich auch in Bezug auf die dargebrachte kritisch-reflektierte Publikationspraxis vorbildlich. Neben zahlreichen Co-Autor_innenschaften sind etwa ein Drittel der Texte Übersetzungen aus dem Englischen, womit auch nicht-deutschsprachigen Autor_innen ein wichtiger Raum gegeben wurde, um sich in die Debatte einzubringen. Auch die kollektive kuratorische Praxis der Herausgeber_innen, auf der sowohl das Buch als auch die vorangegangene Konferenz fußt und die im Abschlusskapitel näher erläutert wird, ist wegweisend. Es bleibt zu hoffen, dass sie zunehmend Nachahmer_innen findet. Denn angesichts der noch immer zu häufig vorkommenden ‚Manels‘ (rein männlich besetzte Panels) und/oder ‚all white panels‘[1] ist es unbedingt notwendig, über die thematische Ebene hinaus verstärkt auch auf die personelle Zusammenstellung von Konferenzen und Sammelbänden zu achten, um hegemoniale Repräsentationsstrukturen aufzubrechen. Nicht zuletzt wird so auch dem Ziel Rechnung getragen, neue Allianzen zu bilden und Solidarisierungen zwischen kritischen Wissenschaftler_innen und dekolonialen Aktivist_innen zu stärken. Dass diese Praktiken zu den wichtigsten Aufgaben und Pflichten von de- beziehungsweise postkolonialen Autor_innen gehören, wird somit vom Zwischenraum Kollektiv nicht nur betont, sondern auch aktiv vorgeführt.

Insgesamt ist Decolonize the City! für eine breite Leser_innenschaft relevant, sowohl für Wissenschaftler_innen, die sich nicht davor scheuen, ihre eigenen Erkenntnistheorien und Forschungspraxen selbstkritisch zu hinterfragen, als auch für Aktivist_innen, die sich über antirassistische Kämpfe und Dekolonisierungsinitiativen in verschiedenen Städten und Kontexten informieren und ihre Arbeit mithilfe neuer Vokabeln und theoretischer Konzepte stärken wollen.

Endnoten

Autor_innen

Laura Nkula-Wenz arbeitet als kritische Stadtgeografin zu urban governance, postkolonialer Stadtentwicklung und kultureller Praxis mit Schwerpunkt Südafrika.

laura.a.nkula@gmail.com

Literatur

Mignolo, Walter (2011): The Darker Side of Western Modernity: Global Futures, Decolonial Options. Durham: Duke University Press.

Scott, Lwando (2017): Disrupting Johannesburg pride: gender, race, and class in the LGBTI movement in South Africa. In: Agenda 15/2, 42-49.

Zwischenraum Kollektiv (Hg.) (2017): Decolonize the City! Zur Kolonialität der Stadt. Gespräche, Aushandlungen, Perspektiven. Münster: Unrast Verlag.