Das Wagnis des Spekulierens: Inspirationen aus der nicht-sexistischen Stadt

Kommentar zu Dolores Haydens „Wie könnte eine nicht-sexistische Stadt aussehen?” (1981)

Sandra Huning

Im Juli 2017 fand beim Kongress der Association of European Schools of Planning (AESOP) ein Runder Tisch mit dem Titel „Engendering cities. Designing sustainable urban spaces for all“ statt. Nach einer umfassenden Problemanalyse durch die Stadtplanerin Clara Greed, Bristol, kam die Diskussion schnell auf ‚die‘ zentrale Frage, die alle feministischen und Gender- und Diversity-bewegten[1] Planer_innen umtreibt, nämlich darauf, wie „Gender“ in den planerischen Mainstream gebracht werden könnte. Die Themen, um die es dabei gehen müsste, scheinen mehr oder weniger klar zu sein: Wohnen, Wohnumfelder, Siedlungs- und Infrastrukturen, Sicherheit, Mobilität, öffentliche Räume… In so gut wie allen planerischen Handlungsfeldern ist hierzu seit Jahrzehnten umfangreiches Wissen angesammelt worden. Eine Vielzahl von Leitfäden, Kriterienkatalogen und Handbüchern ist erschienen (vgl. z. B. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung 2011, Stadtentwicklung Wien 2013), die helfen sollen, Gender Mainstreaming in der Planung (= Gender Planning) umzusetzen, ohne dass Stadtplaner_innen und Architekt_innen sich in die entsprechenden theoretischen Grundlagen einarbeiten müssen. Dennoch – möglicherweise teils aber auch deswegen – sind Begeisterung für und Interesse an Gender Planning in der Planungspraxis, gelinde gesagt, verhalten. Die Gründe hierfür sind zumindest teilweise durchaus nachvollziehbar.

Einer der Gründe, der auch bei dem Runden Tisch zur Sprache kam, sind die uneindeutigen und zum Teil unbefriedigenden Antworten auf die Frage, wie Städte im Idealfall aussähen, die in einem Prozess des Gender Planning entstehen könnten. Die Uneindeutigkeit liegt in der Natur der Sache, geht es doch bei Gender Planning immer auch darum, auf einen konkreten Kontext bezogene Lösungen mit Blick auf Alltagstauglichkeit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf et cetera zu finden. Aus der Dekonstruktion sozialräumlich verfestigter Geschlechterordnungen lassen sich deshalb nicht unmittelbar Entwürfe ableiten, die völlig anders aussehen als solche, die sich auf andere aktuelle planerische Leitgedanken wie Barrierefreiheit oder Nachhaltigkeit beziehen. Zwischen ihnen gibt es viele Parallelen. Die Best Practice-Vorbilder des Gender Planning von heute zeichnen sich eher durch städtebauliche Details oder spezifische Verfahren aus, als dass sie radikale Gegenentwürfe bieten, über die Betrachter_innen kontrovers diskutieren können. Im Gegenteil: Zum Teil scheinen sie vor allem dadurch Irritationen hervorzurufen, dass sie sich auf den ersten Blick gar nicht so drastisch von anderen ambitionierten Planungsprojekten, zum Beispiel neuen gemeinschaftlichen Wohnprojekten, unterscheiden. Die Ziele, die im Zusammenhang mit Gender Planning heute formuliert werden, sind in der Regel eher allgemein: Frauen – und, wenn kombiniert mit Diversity-Ansätzen, auch anderen diskriminierten oder benachteiligten Bevölkerungsgruppen – soll gleiche Teilhabe an städtischen Räumen und Ressourcen ermöglicht werden; Planung soll alltagstauglicher oder zielgruppenspezifischer werden; Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und demokratische Legitimität planerischer Entscheidungen sollen verbessert werden… Das bedeutet nicht, dass es sich nicht um spannende Projekte handelt, die für die Nutzer_innen einen großen Unterschied machen und mittel- oder langfristig auch subversiv wirken können. Zu einer Debatte über implizite Annahmen hinter heutigen Selbstverständlichkeiten in Planung und Architektur – zum Beispiel über Familienkonstellationen oder geschlechtsspezifische Arbeitsteilung – oder gar zu einem grundsätzlich neuen Verständnis von Planung oder von Stadt motivieren sie aber nicht.

Die nicht-sexistische Stadt von Dolores Hayden hingegen stellt einen Gegenentwurf dar, der provoziert und Stadtplaner_innen und Architekt_innen bis heute inspirieren und ermutigen kann. Dies gilt vor allem mit Blick auf die Stellschrauben, die Geschlechterverhältnisse stabilisieren und an denen gedreht werden müsste, um diese neu zu organisieren, und auf eine Haltung – man müsste vielleicht sogar sagen: Anmaßung – von Planer_innen und Architekt_innen, eigene Visionen gesellschaftlicher (Geschlechter-)Verhältnisse, die sich von den heutigen radikal unterscheiden, in ihre Entwürfe explizit einzubeziehen.

Haydens Text zur nicht-sexistischen Stadt gibt auf die Frage nach einer sozialräumlichen Vision vergleichsweise klare Antworten: Nicht nur werden die Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit, die sozialräumliche Organisation von Produktion und Reproduktion und von Geschlechterstereotypen als Stellschrauben identifiziert, sondern es wird auch, aufbauend auf konkreten Vorbildern, anhand von räumlichen Umsetzungsmöglichkeiten im Bestand gezeigt, wie an diesen Stellschrauben gedreht werden könnte. Erkennbar werden Bezüge zu Konzepten und Vorschlägen prominenter Protagonistinnen aus der ersten Frauenbewegung, die Familie und Wohnen neu und anders denken wollten als ihre zeitgenössischen Kollegen. Hayden entwickelt ihr HOMES-Konzept vor dem Hintergrund der guten, aber gescheiterten Ideen dieser Vordenkerinnen und anderer Projekte, die sie vor allem in Europa gefunden hat.[2]

Für Planer_innen von heute sind diese ‚alten’ Visionen und Entwürfe meiner Meinung nach deshalb so interessant, weil sie Kontingenzen in der Entwicklung des Wohnens aufzeigen: Elemente wie das cooperative housekeeping konnten sich nicht zuletzt deshalb nicht durchsetzen, weil es in den USA – wie auch in Deutschland und anderswo – gelang, den Traum vom Einfamilienhaus im Grünen im kollektiven Selbstverständnis zu verankern. Mithilfe eines umfassenden Konjunkturprogramms wurde dieser Traum für eine große Zahl von Haushalten ökonomisch realisierbar (und wurden nebenbei die Privilegien der ‚weißen’ Bevölkerung gesichert).[3] Für heutige Stadtplaner_innen und diejenigen, die es werden wollen, können die alternativen Beispiele und Visionen, die einmal verworfen wurden, Kontingenz bewusst machen: Wohnen hätte etwas Anderes sein können und kann auch heute etwas Anderes sein als ein sozialräumlicher Bezugsrahmen für die abgeschlossene Konsumeinheit Kleinfamilie. Dank aktueller Projekte des gemeinschaftlichen Wohnens und ähnlicher Initiativen steigt derzeit in der Praxis die Aufmerksamkeit dafür. Die nicht-sexistische Stadt könnte ein Anknüpfungspunkt sein, solche Initiativen nicht mehr nur als neue Nachfragegruppen auf dem Wohnungsmarkt zu betrachten, deren Bedürfnisse es durch den Markt oder Staat zu befriedigen gilt. Vielmehr könnten sie eingebettet werden in grundsätzlichere Überlegungen zur Neuorganisation von Familien- und Erwerbsarbeit, Mobilität, technischen und sozialen Infrastrukturen sowie nicht zuletzt auch sozialen Beziehungen. Mit dem HOMES-Konzept gibt der Text zumindest eine Richtung zum Weiterdenken vor.[4]

Haydens Text ist aber auch interessant mit Blick auf die dahinterstehende Haltung. Er spiegelt ein Verständnis von Planung und Architektur, das diesen Professionen sehr viel zutraut und davon ausgeht, dass gesellschaftliche (Geschlechter-)Verhältnisse über Raumstrukturen absichtsvoll beeinflusst werden können – auch wenn das vorgeschlagene HOMES-Modell dies überspitzt. Dieser Anspruch ist in der Zwischenzeit sehr viel bescheidener geworden, und zwar sowohl mit Blick auf die Aufgaben, die von der Gesellschaft an Planung und Architektur herangetragen werden, als auch mit Blick auf das Selbstverständnis vieler Planer_innen und Architekt_innen. Planung und Architektur sind kooperativer und partizipativer geworden und halten sich eher zurück, wenn es darum geht, top-down über Raumstrukturen gesellschaftliche Verhältnisse umfassend beeinflussen zu wollen – einerseits in Anerkennung der eigenen Grenzen, andererseits aber auch in dem Wissen, dass sie mit Top-down-Ansätzen auf große Widerstände treffen würden. Nicht zuletzt beeinträchtigt auch der globale Umweltwandel die Planbarkeit von städtischen Räumen. Verglichen zum Beispiel mit den Vätern (und wenigen Müttern) des Bauhaus hat Planung ihren gesellschaftlichen Reformanspruch verloren (vgl. Göschel 2016); kommunikative, temporäre und adaptive Planungen werden wichtiger. Nichtsdestotrotz beeinflussen Planung und Architektur gesellschaftliche Verhältnisse aber natürlich durch eben das, was sie tun und lassen. Auch wenn partizipativ geplant wird, entstehen (Un-)Möglichkeitsräume, die einige Aktivitäten zulassen und andere eher behindern, bestimmte Gruppen ein- und andere ausschließen. Sich damit nicht auseinanderzusetzen, würde nicht zu mehr, sondern zu weniger Demokratie und Teilhabe führen. Darauf will Gender Planning – zumindest in einigen Lesarten – aufmerksam machen, und das lässt sich auch in der Diskussion um die nicht-sexistische Stadt erkennen.

Und trotzdem: Wäre es nicht interessant zu spekulieren, wie denn nun Städte aussähen, in der auch Platz wäre für ‚andere’ Lebensentwürfe – was auch immer ‚anders’ in diesem Zusammenhang meinen könnte? Wie sähen die Städte aus, wenn Planer_innen als visionäre Reformer_innen eigene Vorstellungen einer ‚just city’ (Fainstein 2010) oder ‚just diversity’ (Fincher 2003) umzusetzen hofften und sich für diejenigen einsetzten, die sonst nicht ‚mitgedacht’ werden? Wie könnten sich auch queere Denkansätze konsequent und radikal in Entwürfen widerspiegeln? Es geht nicht um neue moralisierende Vorschriften für ein gesellschaftliches Gemeinwohl, sondern um eine Debatte, die – unabhängig von der Anschlussfähigkeit an heutige Planungsroutinen – Lust macht, über die nicht-sexistische/geschlechtergerechte Stadt nachzudenken und dabei vielleicht sogar utopisches Potenzial entwickelt. Mit Gender Planning haben feministische Stadtplaner_innen und Architekt_innen einen pragmatischen Weg eingeschlagen; vielleicht können wir auch wieder mehr über Utopien nachdenken.

Andere Akteure spekulieren schließlich auch ständig: Zukunftsforschungsinstitute beflügeln über ihre Prophezeiungen, wie wir morgen wohnen werden, die normative Kraft des Faktischen; Unternehmen und Verwaltungen investieren in eine smartere, effizientere, digitale… Zukunft, ohne dass immer ganz klar ist, ob die Effizienzgewinne auch in höhere Lebensqualität und Nachhaltigkeit münden, oder ob damit nicht vor allem viel Geld verdient und nebenbei Überwachung optimiert werden soll (vgl. Welzer 2016). Angesichts dessen wäre es vielleicht nicht nur wünschenswert, sondern geradezu notwendig zu spekulieren, wie eine lebenswerte – und eben auch nicht-sexistische – Stadt aussehen könnte und wie wir morgen leben wollen. Die Spekulationen von Dolores Hayden zum Wohnen, zu Design und zum Arbeiten können hier insofern ein Vorbild sein, immer noch.

Endnoten

Autor_innen

Sandra Huning ist Raumplanerin und Stadtsoziologin.

sandra.huning@tu-dortmund.de

Literatur

Droste, Christiane (2014): Women architects in West and East Berlin 1949-1969. London: University of Westminster.

Fainstein, Susan (2010): The just city. Ithaka: Cornell University Press.

Fincher, Ruth (2003): Planning for cities of diversity, difference and encounter. In: Australian Planner 40 (1), 55-58.

Frey, Katia / Perotti, Eliana (Hg.) (2015): Theoretikerinnen des Städtebaus. Berlin: Reimer.

öschel, Albrecht (2016): Soziale Vernunft und soziale Form: Wandel des Sozialen in Architektur und Wohnungsbau. In: Forum Stadt (1), 49-64.

Hayden, Dolores (1981): The grand domestic revolution. A history of feminist designs for American homes, neighborhoods, and cities. Cambridge u. a.: MIT Press.

Hayden, Dolores (2002 [1984]): Redesigning the American dream. Gender, housing, and family life. New York: W. W. Norton & Company.

Rodenstein, Marianne (1998): Von der frauengerechten zur nicht-sexistischen Stadt. Ein Plädoyer für eine neue Perspektive in der feministischen Stadt- und Regionalplanung. In: Frei•Räume: Streitschrift der Feministischen Organisation von Planerinnen und Architektinnen 10, 142-150.

Senatsverwaltung für Stadtentwicklung (2011): Gender Mainstreaming in der Stadtentwicklung. Gender Planning Handbuch. Berlin.

Stadtentwicklung Wien (2013): Handbuch Gender Mainstreaming in der Stadtplanung und Stadtentwicklung. Wien: Magistratsabteilung 18 – Stadtentwicklung und Stadtplanung (Werkstattberichte, 130).

Terlinden, Ulla / Oertzen, Susanna von (2006): Die Wohnungsfrage ist Frauensache! Berlin: Reimer.

Welzer, Harald (2016): Die smarte Diktatur. Frankfurt am Main: S. Fischer.