Die Kritik zerbricht an der documenta

Eine Erwiderung auf Frank Eckardts Rezension der documenta14

Tim König

Kurz vor Ende der documenta14 in Kassel tauchten geleakte Informationen in der Presse auf, wonach die Ausstellung voraussichtlich mit einem finanziellen Defizit abschließen würde (vgl. Seidenfaden/Thonicke 2017). Infolgedessen erreichten die Auseinandersetzungen um die Ausstellung eine neue, fast schon dramatische Qualität. Gerüchte über die Entstehung des Defizits in Athen machten die Runde. Die Besucherzahlen fielen in der letzten Öffnungswoche in den Keller und lagen in Bezug auf den hunderttägigen Ausstellungszeitraum leicht unterhalb der ursprünglich für Kassel angepeilten Zahl. Der Kasseler Oberbürgermeister blieb der traditionellen Schlussveranstaltung der Ausstellung fern. Die Geschäftsführerin der documenta gGmbH musste ihren Posten räumen. Obwohl nach wie vor kein genauer Betrag des Defizits bekannt ist, wird darüber aufgeregt debattiert. Anfang 2018 steht immer noch das im September für das gesamte Jahr 2017 hochgerechnete Minus von über 5,4 Millionen Euro im Raum, was ungefähr 16 Prozent des Gesamtbudgets entspräche.

Es waren vor allem die teilnehmenden Künstler_innen[1] und zuletzt Kulturschaffende und Museumsleute[2], die einwandten, dass die Unterfinanzierung der Ausstellung schon lange bekannt wäre und dass die internationale, unkommerzielle und unabhängige Ausrichtung der Ausstellung in Gefahr sei, wenn nun die politische Einflussnahme unter dem Vorwand der Kostenkontrolle vergrößert werden würde. Der künstlerische Leiter der documenta14, Adam Szymczyk, wies darauf hin, dass in dieser Diskussion auch eine Menge Ressentiments gegen das angeblich verschwenderische Griechenland mitschwingen (vgl. Fessler 2017). Dass zeitgenössische Kunst nicht unter der Prämisse der Profitabilität und der Standortpolitik betrachtet werden darf oder dass die öffentliche Hand bei anderen, politisch bequemeren Großveranstaltungen selbstverständlich Defizite in Kauf nimmt, hätte aus Perspektive der kritischen Stadtforschung noch hinzugefügt werden können. Doch ein solches Statement blieb aus. Frank Eckardt (2017) hat in der Zeitschrift s u b \ u r b a n eine Rezension veröffentlicht, die als Hauptkritikpunkte anführt, dass die Kunst auf der documenta14 vor allem der bloßen Illustration einer politischen Agenda diente und dass die Ausstellung sich von Kassel abgewendet hätte. Während linke Gruppen in Athen der Ausstellung vor allem einen Beitrag zur Gentrifizierung und eine ausbeuterische Lohnpolitik vorwarfen und andere Kommentatoren wie Petersson (2017) die Radikalität der documenta14 lobten, kommt Eckardt zu Ergebnissen, die in ähnlicher Weise auch in vielen anderen deutschsprachigen Kritiken zu lesen waren. In der Neuen Züricher Zeitung war beispielsweise von Propaganda und Volkserziehung die Rede (vgl. Meier 2017), die Tageszeitung sprach despektierlich von „Importware aus Griechenland“ (Werneburg 2017), welche angeblich in Kassel zu sehen war und selbst die evangelische Kirche störte sich am „moralische[n] Zeigefinger“ (Claussen 2017) der documenta.

Tatsächlich haben die Kurator_innen immer deutlich gemacht, dass es ihnen genau um das geht, was dann letztlich heftig an der documenta14 kritisiert wurde: Die Kunst sei als Teil der Gesellschaft zu begreifen. Es gebe nicht politische und unpolitische Kunst, sondern sie stelle immer eine Reaktion auf gesellschaftliche Bedingungen dar, sie sei immer auch politisch zu verstehender Ausdruck. Von Anfang an war klar, dass diese documenta sich globalen, gesellschaftlichen Krisen zuwenden wolle und dass gar nicht erst versucht werden würde, Kunst in einem neutralen oder unpolitischen Zusammenhang zu zeigen. Wer will, kann die politischen Statements der Kurator_innen lesen und kritisieren. Prominent im einleitenden Text des Readers der documenta14 beschreibt der künstlerische Leiter das Publikum als selbstverantwortlichen und kompetenten Akteur in einem Gesamtprozess, welcher eine „partizipatorische Erfahrung” (Szymczyk 2017: 37) sein solle. Dieser basisdemokratische, selbstkritische und materialistische Ansatz müsste doch eigentlich in der kritischen Stadtforschung auf eine gewisse Sympathie stoßen.

Narrationen der Kritik

Frank Eckardt (2017: 158) schreibt jedoch in der Zeitschrift s u b \ u r b a n, dass auf der documenta14 „ein großes Narrativ [...], dem man sich anschließen sollte”, konstruiert worden sei. Es handele sich dabei um „die große Erzählung der sozialen Ungerechtigkeit” (ebd.). Die Wahl des Begriffs ‚große Erzählung‘ deutet schon an, dass Eckardt wohl die Kritik der politischen Ökonomie auf der documenta für fehl am Platz hält, wenn nicht sogar grundsätzlich überholt findet. Eckardt begründet dies weniger anhand der Publikationen der documenta, sondern vielmehr anhand des Kasseler Teils der Ausstellung. Sie öffne sich nicht für den Ort, sondern nutze ihn lediglich als Bühne, auf der sie einen Monolog aufführe, so der Autor weiter (vgl. Eckardt 2017: 166). Eine konkrete Diskussion entlang der Kunstwerke und der Ausstellung ist also notwendig, um die von ihm aufgeworfenen Grundfragen zu besprechen und mögliche alternative Antworten aufzuzeigen. Schadet es der Kunst, wenn sie sich mit sozialer Ungerechtigkeit beschäftigt oder in einem entsprechenden Kontext gezeigt wird? Woher kommt der Eindruck, die Ausstellung wolle den Besucher_innen ein Narrativ vorgeben beziehungsweise eine Botschaft eintrichtern? War die Kasseler documenta wirklich so ortlos, so abgelöst vom Publikum?

Ruft man sich den zentralen Raum im Erdgeschoss der Neuen Galerie während der documenta14 in Erinnerung, scheint Eckardts Hauptthese auf den ersten Blick zu stimmen. Am Eingang war Ernst Barlachs Skulptur einer Bettlerin zu sehen, seitlich hing Gustave Courbets Zeichnung „Almosen eines Bettlers in Ornans“, direkt daneben Pavel Filonovs Lenindarstellung und in der Vitrine wurden Partituren von Cornelius Cardews maoistischen Popsongs ausgestellt. Auf engstem Raum sah man verschiedene Darstellungen von Armut, gleich daneben den Verweis auf den Kommunismus. Ganz klar, hier wurde soziale Ungerechtigkeit thematisiert. So naheliegend dieser Schluss ist, so oberflächlich ist es aber auch, alles von der Pariser Kommune über die Russische Revolution, die maoistischen Linken der siebziger Jahre bis zu den sozialen Bewegungen der Gegenwart unterschiedslos unter ‚Kapitalismuskritik‘ zu subsumieren. Als wollte Amine Haase (2017) eine solche ahistorische Kapitalismuskritik der documenta selbst vorwerfen, machte sie sich im Kunstforum über den offiziellen Begleittext der documenta zu Courbets Zeichnung lustig. Kurioserweise stände unter dem Werk von 1868, dass der Künstler „die Dringlichkeit prophetisch [vorwegnehme] eine alternative Ökonomie zu erfinden und dem neoliberalen Würgegriff auf unsere menschliche Existenz zu entkommen“ (zit. nach Haase 2017: 61). Der vermeintliche Fauxpas war nicht wirklich einer. Aus Perspektive der kritischen Stadtforschung ließe sich wiederum einwenden, dass angesichts des Neoliberalismus aktuelle, linke stadtpolitische Ideen – Stichwort Boden- und Grundsteuerreform – leider in vielen Fällen gar nicht so weit von der Zins- und Grundrentenkritik von Courbets Freund Pierre-Joseph Proudhon entfernt sind. Wer ignoriert nun also stärker die unterschiedlichen historischen Hintergründe und Entstehungsgeschichten der Werke sowie aktuelle Bezüge in die Gegenwart zugunsten eines Narrativs? Die documenta oder ihre Kritiker_innen? Die documenta hat hier nicht subsumiert, sondern historische Bezüge aufgezeigt. An dieser Stelle soll gar nicht mehr die Rede sein vom jeweiligen künstlerischen Ausdruck der Arbeiten, von den verwendeten Materialien, den Formaten und vielen anderen stofflichen Eigenschaften, welche selbstverständlich in der Ausstellung ebenso in ihrer Differenz wahrnehmbar waren. Das verbindende Motiv wiederum war so zwingend, aber gleichzeitig so fragil, dass es natürlich auch zur Kritik einlud. Man kann folglich zu dem Schluss kommen, dass die documenta hier mit konkreten kuratorischen Mitteln versuchte Zusammenhänge aufzuzeigen, um diese aber gleich darauf auch wieder in Frage zu stellen.

Große Teile der Kunstkritik blieben stattdessen bei der Behauptung stehen, hier sollte dem Publikum ausschließlich eine Botschaft kommuniziert werden. Diese Behauptung nahm bisweilen Züge einer selbsterfüllenden Prophezeiung an, da viele Kritiker_innen genau den Fehler machten, den sie doch eigentlich der documenta vorwarfen: Sie besprachen die Werke nur noch als Kommunikationsmittel der behaupteten Narration. Aspekte, die einer solchen Interpretation entgegenstanden, wurden ausgeblendet. Glücklicherweise fanden sich aber meist schon in den Werken selbst komplexere Zusammenhänge. Nur bei einigen wenigen Kunstwerken auf der documenta fielen Form und Inhalt auf groteske Art auseinander, weil die Künstler_innen unbedingt eine Botschaft übermitteln wollten. Prominentestes Beispiel hierfür war sicher Franco Bifo Berardi mit seiner Performance „Auschwitz on the beach“, welche von Eckardt allerdings nicht angesprochen wird.

Der Autor kritisiert vielmehr Piotr Uklańskis Installation „Real Nazis“ in der Neuen Galerie für ihre Monumentalität und dafür, dass sie den Eindruck vermittele, der Nationalsozialismus sei eine „personifizierte Herrschaft“ (Eckardt 2017: 164) gewesen. Jedoch zeigte der Künstler nicht, wie von Eckardt beschrieben, Fotos von „bekannten Individuen“ (ebd.), sondern auch namenlose Nazis, Illustrationen und künstlerische Darstellungen sowie von Nazigegner_innen angefertigte Porträts. Schon im Kunstwerk selbst waren die verschiedenen Perspektiven angelegt: erstens der Gesamtblick auf die Wand mit den über 200 gerahmten Porträts mit identischen Formaten, zweitens der Blick aufs Detail, auf die einzelne Darstellung, jeweils für sich eine Reproduktion aus den verschiedensten Quellen und schließlich drittens ein nüchternes Plakat an der seitlichen Wand, eine Art Index, auf dem die Namen der abgebildeten Personen oder die Quelle der jeweiligen Darstellung nachgelesen werden konnten. Im Vorbeigehen sah die Installation wie eine Ansammlung von mug shots aus. Wer aber einen zweiten Blick zuließ, musste das erste Urteil gegebenenfalls revidieren. Es war gar nicht möglich, die Gesamtheit der wahren Nazis zu erfassen und gleichzeitig jedes Detail, jede Lebensgeschichte oder jeden Kontext zu würdigen. Der Künstler gab hier weniger ein Narrativ vor, sondern eröffnete bewusst verschiedene Perspektiven und Widersprüche. Beliebig war das Kunstwerk deshalb nicht, schließlich wird im Titel ein Wahrheitsanspruch markiert, auch wenn er hinterfragt wird. Zudem wurde mit dem Porträt des jungen Joseph Beuys in Fliegerjacke auch ein direkter Bezug zur Installation im angrenzenden Raum hergestellt. Dort war „The pack (das Rudel)“ von Beuys als Teil der Dauerausstellung des Museums zu sehen.

Uklańskis Arbeit ist somit ein Beispiel für zahlreiche zeitgenössische Kunstwerke auf der documenta, die den Perspektivwechsel als künstlerische Strategie einsetzten – wenn auch bei den „Real Nazis“ etwas plakativ. Konzeptionell war mittels der Verdopplung der Ausstellung durch den Standort Athen ja bekanntlich von Anfang an die Erweiterung der eigenen Perspektive vorgesehen. Hierin liegt auch der Bezug zur Spaziergangswissenschaft, deren Aufgabe Lucius Burckhardt (1995: 265) wie folgt beschreibt:

„Eindrücke zu sammeln und zu eindrücklichen Bilderketten aufzureihen, ohne auf die traditionellen Metaphern zu verzichten, die ja allein die gewonnenen Bilder kommunizierbar machen, aber auch ohne den Eindruck hervorzurufen, mit der Schilderung einer Einheit sei das Funktionieren dieser Einheit erschöpfend beschrieben und verstanden. Die Spaziergangswissenschaft ist also ein Instrument sowohl der Sichtbarmachung bisher verborgener Teile des Environments als auch ein Instrument der Kritik der konventionellen Wahrnehmung selbst.”

Lokale Bezüge, globaler Anspruch

Wenn die konventionelle Wahrnehmung hinterfragt werden sollte und wenn die These der documenta14 stimmt, nämlich dass der aktuelle krisenhafte Zustand der Welt von Athen aus besser zu begreifen sei, bedeutet dies nicht notwendigerweise, dass im Kasseler Teil der Ausstellung eine gewisse Ortslosigkeit erfahrbar hätte werden müssen? Eine Ausstellung, die ernsthaft international und postkolonial sein will, deren Publikum aber nach wie vor größtenteils aus der mehrheitlich weißen Kasseler Bevölkerung besteht, muss fast zwangsläufig lokale Erwartungen enttäuschen. Das muss natürlich nicht heißen, dass die documenta das Kasseler Publikum offensiv missachtet oder bewusst vor den Kopf stößt. Im besten Falle wird die traditionelle Wahrnehmung als nicht erschöpfend erkannt und die Sichtbarmachung von bisher nicht Wahrgenommenem als Bereicherung empfunden.

Der Bezug zum Publikum ist vor allem auch im Hinblick auf das Vermittlungskonzept zu beurteilen. Eckardt (2017: 159) führt beispielhaft den Beirat[3] an, der von der documenta12 ins Leben gerufen wurde und den es in dieser Form bei der aktuellen documenta nicht gab, um zu zeigen, dass die Organisator_innen sich auch in der Vermittlungsarbeit von der Stadtgesellschaft entfernt hätten. Wie sahen vergleichbare Aktivitäten der documenta14 aus? In den Publikationen der Ausstellung sind insgesamt 19 verschiedene „Institutionelle Partner und Gesprächspartner“[4] aufgelistet, vor allem große Institutionen wie die Universität oder die Museumslandschaft Hessen Kassel, aber auch kleine Initiativen wie „Tokonoma“ oder „Das Haus“. Das „Aneducation“ genannte Bildungs- und Vermittlungsprogramm der documenta14 richtete sich mit verschiedenen Programmen an unterschiedliche Zielgruppen. Veranstaltungen unter dem Namen „Nourishing Knowledge“ fanden an verschiedenen Orten statt, an denen mit Gästen und lokalen Akteur_innen in eher informellem Rahmen gemeinsam gekocht und gegessen wurde. Das „Kulturagent-Projekt“ richtete sich an Schüler_innen von acht Schulen in Kassel und Umgebung. „Under the Mango Tree“ war eine Workshopreihe mit internationalen Teilnehmer_innen, die sich mit postkolonialen Bildungskonzepten auseinandergesetzt hat. Ein umfassenderer Vergleich der Vermittlungskonzepte seit der documenta12 wäre sicherlich fruchtbar und könnte eventuell aufzeigen, was sich seitdem entwickelt hat, wo Verbesserungen feststellbar sind und wo Errungenschaften verloren gegangen sind. Dies kann hier nicht geleistet werden. Aus der exemplarischen, nicht abgeschlossenen Aufzählung der Vermittlungsprogramme der documenta14 lassen sich aber zwei Schlüsse ziehen: Erstens wurde mit verschiedenen lokalen Institutionen zusammengearbeitet und zweitens wurden offene Angebote ins Leben gerufen, die verschiedene Menschen jenseits dieser Institutionen erreichen sollten. Ob dies gelungen ist, kann hier, wie gesagt, nicht geklärt werden. Aber genauso fraglich ist, ob ausgerechnet ein Beirat diese unterschiedlichen Gruppen hätte adressieren können. Es bleibt eine bloße Behauptung des Kritikers, dass ein Vermittlungsprogramm mit Beirat sinnvoller gewesen wäre und eine solche Kritik, die wenig immanent argumentiert, dafür aber stets angeblich gelungenere Gegenbeispiele parat hat, wird schnell willkürlich. Eckardt nimmt die verschiedenen Möglichkeiten der Partizipation bei der documenta14 gar nicht wahr und kann sich folglich auch gar nicht die Frage stellen, ob eine Entwicklung aufgrund der Erfahrungen mit den vorangegangenen Vermittlungsprogrammen stattgefunden hat.

Dass es mit der Ortslosigkeit der documenta14 möglicherweise gar nicht so weit her gewesen ist, ist auch an der sorgfältigen Wahl der Ausstellungsorte und besonders an den Außenkunstwerken zu sehen. Vom ganz im Kasseler Westen gelegenen Ballhaus abgesehen – ein Frühwerk des Architekten Leo von Klenze, der später an der klassizistischen Umgestaltung Athens beteiligt war und eine kaum bekannte Verbindung nach Griechenland aufmachte – lagen die Ausstellungsorte in Nord-Süd-Richtung aufgereiht im Stadtgebiet. Im Süden nutzte die documenta mehrere Museen am noblen Weinberg. Ein prägnantes Außenkunstwerk an diesem Standort war das Marmorzelt mit dem Titel „Biinjiya‘iing Onji (From inside)“ von Rebecca Belmore, welches in Athen auf dem Filopappou-Hügel gegenüber der Akropolis gezeigt wurde. Im August wurde das Zelt nach Kassel transportiert. Der von Eckardt vermisste Bezug zu Sophie Henschel hätte auch am Weinberg stattfinden können. Das 2015 erbaute, neue Grimm-Museum steht auf dem Standort der 1932 abgerissenen Henschel-Villa. Doch warum sollte Sophie Henschel mehr zum „Verständnis für die Ursprünge einer sozialen Marktwirtschaft” (Eckardt 2017: 160) beitragen können, als die auf der documenta14 gezeigte Geschichte des in Nordhessen geborenen August Spies, welcher im Zusammenhang mit den Haymarket-Demonstrationen 1886 in Chicago als Anarchist zum Tod verurteilt wurde? Es ist wohl einerseits schlicht eine Frage des politischen Standpunkts, ob einem nun ein emigrierter Anarchist oder eine sozial engagierte Industrielle nähersteht. Andererseits ist nach Sophie Henschel ein Platz in Kassel benannt und sie dürfte damit dem Kasseler Publikum besser bekannt sein als August Spies.

Der, vom traditionellen Zentrum am Friedrichsplatz abgesehen, weitere große Schwerpunkt der Ausstellung befand sich in der vorderen Nordstadt, einem Arbeiterstadtteil an den ehemaligen Henschel-Fabriken, der inzwischen stark migrantisch und studentisch geprägt ist. Die geografische Metapher vom reichen Süden und dem armen Norden in Kassel passt nur bedingt. Auch weil dazwischen noch ein kleines Viertel rund um den Stern, die Jäger- und die Gießbergstraße liegt, welches wohl am ehesten als ein innenstadtnaher, sozialer Brennpunkt zu bezeichnen wäre. Die documenta ist auf die kleinräumige Stadtgeografie durchaus eingegangen. Es waren die nördlichsten documenta-Standorte in der Gottschalkstraße und am Nordstadtpark, in denen eine Verbindung zur gegenkulturellen und studentischen Geschichte der vorderen Nordstadt gezogen wurde: Die bepflanzte Pyramide von Agnes Denes und die temporären Bauten von Termokiss im Nordstadtpark erinnerten an die improvisierte, utopische Ästhetik der Kasseler Bauwagenplätze, die sich bis in die neunziger Jahre an diesem Standort befanden. In der nahen Gottschalkstraße wurde im Rahmen der documenta ein Piratensender im „Narrowcast House“ betrieben. Angelo Plessas Installation „Eternal Internet Brotherhood/Sisterhood 6“, welche er mit verschiedenen Protagonist_innen aus nordhessischen Kommunen erstellte, wurde in der Gottschalk-Halle gezeigt. Wenn also, wie von Eckardt bemängelt, auf der documenta14 ein „Mythos Nordstadt” (2017: 159) konstruiert wurde, dann wohl eher ein etwas zu romantischer Mythos von der linken Gegenkultur in Kassel. Zweifellos verstand es aber die documenta14 auch in Kassel, Stadträume einzubeziehen und räumliche Bezüge herzustellen.

In der Zusammenfassung komme ich zu völlig anderen Schlussfolgerungen als Eckardt und wie gezeigt, hätten an vielen Stellen Bezüge zur kritischen Stadtforschung eigentlich auf der Hand gelegen. Die documenta14 war eine politische Ausstellung und ihr selbstreflexives Konzept musste auch zu einer gewissen Distanzierung von der documenta-Stadt Kassel führen. Auch wenn die Wahrnehmung eines politischen Narrativs und der Ortslosigkeit also nicht völlig falsch ist, bleibt es eine Behauptung, dass damit auch eine besonders geringe künstlerische oder kuratorische Qualität einherging. Dies wäre, wenn überhaupt, nur durch sorgfältige Argumentation anhand von ganz bestimmten Objekten nachweisbar. In diesem Zusammenhang werfen die kleinen und größeren Recherchemängel ein schlechtes Licht auf Kritiker_innen wie Eckardt. Denn eines sollte sich eigentlich ausschließen: Die angeblich simple Botschaft der documenta zu kritisieren, gleichzeitig aber zugunsten der eigenen Narration nicht genau genug auf das Objekt der Kritik zu schauen.

Endnoten

Autor_innen

Tim König lebt und arbeitet in Kassel, auf den letzten beiden documenta-Ausstellungen war er als Kunstvermittler tätig.

tim_koenig@gmx.de

Literatur

Burckhardt, Lucius (1995): Spaziergangswissenschaft. In: Markus Ritter / Martin Schmitz (Hg.), Warum ist die Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft. Berlin: Martin Schmitz Verlag, 257-300.

Claussen, Johann Hinrich (2017): Offenes Nachdenken. http://chrismon.evangelisch.de/blogs/kulturbeutel/kulturbeutel-johann-hinrich-claussen-ueber-fluechtlingskunst (letzter Zugriff am 20.3.2018).

Eckardt, Frank (2017): Kassel ohne Athen. Die documenta 14 zerbricht an ihrer Ortslosigkeit. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 5/ 3, 157-166.

Fessler, Anne Katrin (2017): Adam Szymczyk: „Es ist wie ein Gangsterfilm, wie ein Drehbuch“. https://derstandard.at/2000065409032/Adam-Szymczyk-Es-ist-wie-ein-Gangsterfilm-wie-ein-Drehbuch (letzter Zugriff am 17.1.2018).

Haase, Amine (2017): Keine Schule von Athen oder Diogenes als Säulenheiliger. In: Kunstforum International 248, 60-66.

Meier, Philipp (2017): Die Documenta braucht niemand. https://www.nzz.ch/meinung/fuer-die-freie-sicht-auf-kunst-die-documenta-braucht-niemand-ld.1306747 (letzter Zugriff am 9.2.2018).

Petersson, Frans Josef (2017): We Need to Reclaim the Narrative of Documenta 14 as a Radical Exhibition. http://www.kunstkritikk.com/kommentar/we-need-to-reclaim-the-narrative-of-documenta-14-as-a-radical-exhibition/ (letzter Zugriff am 9.2.2018).

Seidenfaden, Horst / Thonicke, Frank (2017): Szymczyk setzt Millionen in den Sand. In: Hessische Allgemeine HNA, 12.9.2017, 1.

Szymczyk, Adam (2017): 14: Iterabilität und Andersheit: Von Athen aus lernen und agieren. In: Quinn Latimer / Adam Szymczyk, (Hg.), Der documenta 14 Reader. München: Prestel Verlag, 17-42.

Werneburg, Brigitte (2017): Importware aus Griechenland. https://www.taz.de/Documenta-14-eroeffnet-in-Kassel/!5416030/ (letzter Zugriff am 9.2.2018).