Elitenkritik, populare Bündnisse und inklusive Solidarität

Interview zur Debatte um Linkspopulismus

Violetta Bock, Thomas Goes, Lisa Vollmer

In der aktuellen ökonomischen und politischen Krise haben Debatten um linke Strategien wieder Hochkonjunktur. Besonders kontrovers werden Vorschläge diskutiert, die einen Linkspopulismus als Alternative zum rechten politischen Projekt, zum Neoliberalismus und als Transformationsstrategie hin zu einer sozialistischen Gesellschaft propagieren. Thomas Goes und Violetta Bock haben mit ihrem Buch Ein unanständiges Angebot? Mit linkem Populismus gegen Eliten und Rechte (2017) eine programmatische Aufarbeitung existierender linker Populismuskonzepte und ihre eigene Vorstellung davon, wie ein linker Populismus gelingen kann, vorgelegt. Damit haben sie die Debatte um Linkspopulismus in Deutschland befeuert. Im Interview werden sie nach ihren Positionen und den Kontroversen um das Buch befragt. Das Interview soll als Aufschlag für eine Debatte dienen. Antworten zu den dargestellten Positionen und Bezüge zu städtischen Themen und städtischen sozialen Bewegungen sind sehr willkommen.

Lisa Vollmer (LV): In öffentlichen Debatten und auch in manchen wissenschaftlichen wird Populismus oft mit Rechtspopulismus gleichgesetzt. Wo seht ihr die Unterschiede zwischen Links- und Rechtspopulismus und was ist euer Verständnis von Populismus?

Violetta Bock und Thomas Goes (VB/TG): Klar, bei vielen ist die erste Assoziation, wenn sie Populismus hören, Rechtspopulismus, Manipulation, dem ‚Volk nach dem Maul reden‘ und vereinfachte Antworten geben. Gleichzeitig werden Linke, deren Sprache jenseits der Linken gut ankommt und die Forderungen aufstellen, die eine bessere Gesellschaft entwerfen, schnell vom Gegner als Linkspopulisten beschimpft. Als wir uns entschieden, ein Buch darüber zu schreiben, wurde in den USA gerade Trump gewählt. Gleichzeitig konnte man auf eine Kampagne von Bernie Sanders zurückblicken, mit der sich viele identifizierten und Hoffnung schöpften.

Als Linke stehen wir immer vor der Aufgabe aus der linken Ecke heraus zu kommen, die eigene Blase platzen zu lassen. Unser Vokabular entstammt noch zu oft dem letzten Jahrhundert und ist entweder nicht verständlich oder steckt uns gleich in eine Schublade. Es hat uns gereizt, uns mit dem Linkspopulismus auseinanderzusetzen und die Frage nach vorne zu stellen, wie wir an mehr Menschen rankommen, sie für emanzipatorische Perspektiven gewinnen können und wie demnach in unseren Augen ein linker Populismus gestaltet sein müsste. Wichtig war uns dabei auch, unsere Erfahrungen aus Theorie und Praxis zusammenzubringen.

LV: Warum kommt es gerade jetzt zu einer Diskussion populistischer Ideen?

VB/GT: Beschäftigt man sich näher mit dem Begriff des Populismus und löst sich von dem Alltagsverständnis, ist zuerst einmal festzuhalten, dass Populismus keine Ideologie an sich ist. Unter Populismus verstehen wir vor allem die Gegenüberstellung von Volk und Eliten in einer Sprache, die verständlich bleibt und Menschen nicht nur über den Verstand, sondern auch mit Emotionen anspricht. Es ist eine Art der Anrufung, bei der Zuspitzung eine wesentliche Rolle spielt. Klare Gegner- und Feindschaften gehören dazu und sind gewollt.

Populistische Politik wird historisch gerade dann wirksam, wenn sich die dominierenden Parteien unfähig erweisen, die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung aufzugreifen, zu befriedigen oder einzubinden. Das heißt, es setzt eine Hegemoniekrise voraus, in der populistische Lücken entstehen, also Situationen, in denen tradierte Deutungsmuster, die einem im Alltag Orientierung geben, nicht mehr greifen. Im Moment leben wir in so einer Zeit, die aus den Fugen scheint. In unserem Buch ist die Skizzierung der Zeit, in der wir leben, daher auch Ausgangspunkt.

Unserer Meinung nach befinden wir uns in einer organischen Krise des Kapitalismus, sowohl durch die ökologische Krise, die das Fortbestehen unseres Planeten, wie wir ihn kennen, in Frage stellt, aber auch durch die anhaltende ökonomische Krise. Während letztere in Ländern des Südens durch Austeritätspolitik ganz offen zu Tage tritt, wird in Deutschland vom ökonomischen Boom gesprochen. Doch auch hier blicken wir auf jahrelange Sparpolitik zurück, die Ausweitung des Niedriglohnsektors, Hartz IV, Schuldenbremse, fehlende Investitionen in Schulen und den sozialen Wohnungsbau und eine zunehmende Ökonomisierung immer größerer Bereiche der Daseinsfürsorge – die Pflege sei hier nur beispielhaft genannt. Dennoch führt dies bislang nicht wie in anderen Ländern zu großen Aufständen. Wir bezeichnen die Situation eher als eine schleichende soziale Krise. Durch das Erstarken von Pegida und ähnlichen rechten Bewegungen ist es der Rechten gelungen, diese Situation zu nutzen, um unter dem Dach der AfD rechte und rechtsoffene Kräfte zu sammeln. Dennoch kann man nicht einfach von einem Rechtstrend sprechen. Vielmehr beobachten wir eine Polarisierung. Denn auf der fortschrittlichen Seite sieht man etwa die Mietkämpfe, die Pflegebewegung und die zahlreichen Ehrenamtlichen in der Migrationsbewegung – nur haben sie noch keine politische Entsprechung unter einem gemeinsamen Dach gefunden.

Vor dieser Herausforderung stehen wir: Perspektiven gegen die Neoliberalisierung und die politische Rechte zu entwickeln und umzusetzen. Wir stehen vor der Frage, ob wir populistische Lücken rechts liegen lassen oder die organische Krise des Systems nutzen, um Perspektiven jenseits des Kapitalismus auf sozialistischer und internationalistischer Grundlage zu stärken. Diejenigen müssen wir ins Zentrum nehmen, die unentschieden sind, die auf der Suche sind und nur merken, dass irgendwas nicht richtig läuft in diesem Land. Diejenigen, die sich bisher nicht unbedingt als Linke identifizieren, aber in deren Alltagsbewusstsein es Anknüpfungspunkte für inklusive Solidarität gibt, hier gilt es anzuknüpfen.

Und damit wären wir wieder bei dem Unterschied von Rechts- und Linkspopulismus. Denn entscheidend ist bei Populismus, wie die Vorstellungen von Volk und Elite konstruiert werden. Kurz zusammengefasst beschreiben wir die Unterschiede so: Rechts- und Linkspopulismus sind wie Feuer und Wasser. Rechtspopulismus ist eine Rebellion auf den Knien, Linkspopulismus eine Revolte des aufrechten Gangs.

Die Wut der Rechten mag sich auch gegen das Establishment richten, in erster Linie trifft sie aber Sündenböcke, (vermeintlich) Fremde und Schwache. Rechte Elitenkritik ist rückwärtsgewandt, ihre verkürzte Kritik am Liberalismus verschließt die Tore zu einer tieferen Auseinandersetzung mit den Übeln des Kapitalismus. Rechtspopulisten konstruieren ein homogenes „Wir“. Gegen die universelle Solidarität der popularen Linken setzt die Rechte die Solidarität des Blutes, der Ethnie oder der eigenen Kultur. Gegen die Egalität aller Menschen, verstanden als Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung, setzt die Rechte die Gleichheit der eigenen Sorte und die Abwertung eines zuweilen austauschbaren Anderen: Juden, Araber, sogenannte asoziale Leistungsverweigerer, Homosexuelle, Linke. Gegen die pluralistische Volksherrschaft, deren zentrale Momente freier Meinungsstreit und Institutionen sind, in denen qua Wahl Macht ausgeübt werden kann, setzt die extreme Rechte die Identität des Volkes mit sich selbst und dessen Repräsentation durch charismatische Führer.

Das Volk der Linken dagegen entsteht im Kampf um Würde, um Demokratie, um Selbstbestimmung und schließt alle mit ein, unabhängig von Religion, Herkunft oder Geschlecht. Wir sprechen dabei von einem UntenMitteBündnis. Und damit meinen wir eben nicht eine Volksfront, sondern einen Machtblock von unten. Dieser besteht aus den Volksklassen, die dem Mittel- und Großkapital antagonistisch oder abhängig gegenüberstehen. Die Arbeiterklasse, andere lohnabhängige Schichten des Privatsektors sowie des Staates, neue Selbständigengruppen, klassische Kleinstgewerbetreibende und Erwerbslose. Aus diesen gilt es ein Bündnis zu schmieden und darin stets die Perspektive der am stärksten Marginalisierten und Unterdrückten stark zu machen. Während Rechtspopulismus auf Angst setzt, muss es uns gelingen, Hoffnung zu schüren, dass eine sozialistische Gesellschaft möglich ist, und dies heißt nicht, wie leider oft üblich, Klassen- und Identitätspolitik zu trennen, sondern mit einem feministischen, antirassistischen und internationalistischen Herangehen Politik mit Klassenbezug für einen Sozialismus von unten zu betreiben.

LV: In eurem Buch beschreibt ihr verschiedene Ausformungen linker Populismen und kritisiert sie. Wofür?

VG/GT: Wir gehen konkreter auf die Ausformungen von Chávez, Podemos, Sanders und Wagenknecht ein. Als erstes ist dabei natürlich zu beachten, dass sie alle in ganz unterschiedlichen politischen Kontexten agieren.

Linker Populismus ist ohne soziale Bewegungen, ohne Wut und Empörung von unten, ohne Organisierung und politische Selbsttätigkeit der Volksklassen nicht zu haben.

Wichtig ist uns daher immer der Bezug zu Bewegungen. Zu schnell wird beim Blick auf andere Länder eine Person ins Zentrum gerückt. Podemos etwa wäre undenkbar ohne die Platzbesetzungen und Basisinitiativen. Die Partei startete mit einer basisdemokratischen Dynamik, die viele Menschen einbezog. Die Durchsetzung eines Modelles der ‚Wahlkampfmaschine‘ führte dann allerdings dazu, dass ein lebendiges Mitgliederleben fehlte und pluralistische Debatten in der Partei ausblieben. Umstritten ist in der Partei nicht nur das Verhältnis zur Sozialdemokratie und welchen Stellenwert Organisierungsarbeit und Bewegungsorientierung haben sollten. Umstritten ist in der Partei auch organisationspolitisch, wie die Partei funktionieren sollte. Das alte Führungsbündnis hatte Regeln durchgesetzt, die ein lebendiges Mitgliederleben eher verhinderten und konstruktive und harte Diskussionen in den Führungsgremien der Partei ausschlossen.

In gewissem Sinne hat die Sanders-Kampagne angedeutet, wie ein kämpferischer Linkspopulismus aussehen könnte, wenngleich sie selbst das zu keinem Zeitpunkt verwirklicht hat: Auf die Organisierung von unten setzen, Partizipation von Menschen fördern und eine klare Konfrontation mit den Eliten fahren, die um mobilisierende Forderungen organisiert werden kann.

In Deutschland ist die wohl bekannteste und auch umstrittene Linke Sahra Wagenknecht und sie wird daher als Linkspopulistin bezeichnet. Wir denken, von ihr kann man viel für eine zeitgemäße Politik lernen: Ihr gelingt es zuzuspitzen, Menschen zu erreichen und die Frage nach der sozialen Ungleichheit ins Zentrum zu rücken. Dennoch bezeichnen wir sie als scheiternde Linkspopulistin. Im Buch gehen wir genauer auf ihre ökonomischen Vorstellungen ein. Für dieses Interview sind aber vor allem Punkte wichtig, in denen sie sich sowohl von Podemos als auch Sanders unterscheidet. Wegen dieser Unterschiede ist ihre Art von Linkspopulismus zugleich gefährlich und hilflos. Er ist gefährlich, weil er eine klare antirassistische und internationalistische Färbung vermissen lässt. Und er wirkt relativ hilflos, weil es ihm an einer realistischen Strategie fehlt, wie denn Wagenknechts Forderungen gegen die von ihr scharf kritisierten Eliten umgesetzt werden sollen. Erschwerend kommt hinzu, dass ihre Kritik an den Eliten sich auf die Großkonzerne konzentriert und mittelständische Unternehmen damit zu den ‚besseren Kapitalisten‘ werden. Organisierung, soziale Kämpfe und Bewegungen spielen in ihrem Denken und Reden kaum eine Rolle. Zu ergänzen wäre nach den jüngsten Debatten in der und um die Linkspartei sicherlich auch ihre Vorstellung der Sammlungsbewegung, die eher auf Führungsfiguren und nicht auf demokratische lebendige Bewegungen von unten gerichtet ist und dieses Denken weiter zu vertiefen droht.

LV: Ihr seid beide selbst politisch aktiv. Wie setzt ihr eure linkspopulistischen Ideen in eurer politischen Praxis um?

VB/GT: In unserem Buch betten wir unser Plädoyer für linkspopulistische Verdichtungen explizit in sieben Thesen für einen Sozialismus von unten ein. Denn einfach nur mehr Linkspopulismus würde nichts ändern, es wird keine Abkürzungen geben und wir werden an mehreren Fronten arbeiten müssen, um der Kapitalmacht etwas entgegen zu setzen. Nur eine Linke, die einen fortschrittlichen Populismus erfindet, wird dazu in der Lage sein. Er verbindet, was gespalten ist, damit ein buntes Bündnis der ‚kleinen Leute‘ überhaupt entstehen kann. Dafür versuchen wir darauf zu zielen, als organisierende, verbindende und einigende Kraft neue Räume von Gegenmacht und Hoffnung sowie ein Hinterland der Solidarität zu schaffen. Zu diesem Zweck brauchen wir lernende Organisationen, mit denen wir am Aufbau popularer Bündnisse arbeiten können und die uns helfen, unsere Interessen durchzusetzen sowie uns in unseren Kämpfen zu stärken. Wir versuchen dabei an das widersprüchliche Alltagsbewusstsein anzuknüpfen und konkrete Organisierungsprojekte zu unterstützen. Durch Lernen im Konflikt kann sich das Denken weiterentwickeln, manchmal macht es Sprünge, und Brücken nach links können gestärkt und möglicherweise ausgebaut werden. Diese Thesen verstehen wir als strategischen Kompass. Soweit zu einem ersten und nicht vollständigen Eindruck von den Thesen, die wir im Buch vorschlagen.

Wir hatten am Anfang gesagt, dass für uns das Buch auch der Versuch ist, Theorie und Praxis zusammen zu bringen. Wir selbst sind in verschiedenen politischen Feldern aktiv, zwei sind vielleicht als Beispiel am ehesten geeignet. Wir hatten lange Diskussionen darüber, was wir als politisch sinnvoll erachten, inspiriert haben uns dabei auch Erfahrungen aus den USA, Griechenland et cetera, aber auch die kritische Auseinandersetzung mit manchen Ansätzen, die wir aus Deutschland kannten, sowohl aus der historischen, als auch der ‚neuen‘ Linken. Davon ausgehend haben wir vor etwa vier Jahren entschieden, dass unser Ziel eben nicht darin besteht, propagierend in Kämpfe einzugreifen oder Linke zu sammeln, sondern wir uns gerade an die Unentschiedenen wenden wollen, um gemeinsam Organisierungsprozesse zu unterstützen und zu entfachen. Dies bedeutet, viel zuzuhören, statt mit fertigen Rezepten zu kommen. In Kassel haben wir die Gründung eines Stadtteiltreffs vorangetrieben, in dem wir versuchen, nach Prinzipien des transformativen organizing Themen aufzugreifen, die direkt die Nachbarschaft betreffen und dabei helfen, Interessen ‚gegen die da oben‘ durchzusetzen (vgl. Rothe Ecke Kassel 2016). Gleichzeitig haben wir damit aber auch ein „Hinterland der Solidarität“ geschaffen. So gibt es etwa Foodsharing, also Essensverteilung, die gerade am Monatsende stark nachgefragt wird, direkte Unterstützung, eine Bildungsreihe, aber auch soziale Treffen, um Kraft für den Alltag schöpfen zu können. Als Ressource für verschiedene Gruppen verbindet der Ort unterschiedliche Akteure, von Nahverkehrsinteressierten bis zu von Abschiebung Bedrohten. Damit haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht und gewinnen durch niedrigschwellige Zugänge Menschen für radikale Politik.

Gewerkschaftlich sind wir beteiligt an dem Projekt OKG – Organisieren Kämpfen Gewinnen. Ob es ein linkspopulistisches Projekt ist, sei dahingestellt. Die Grundrichtung stimmt mit einigen der sieben Thesen aber durchaus überein: Kolleginnen und Kollegen aus Betrieben zusammen zu bringen, aus ihren Erfahrungen zu schöpfen und diese weiterzugeben, um die Arbeiterbewegung zu stärken. Im Oktober fand mit etwa 70 Teilnehmer_innen die erste Konferenz von OKG statt. Es tat so gut, betriebliche Erfahrungen ins Zentrum zu stellen und einen gewerkschaftsnahen, aber unabhängigen Austausch über die Fragen zu schaffen, wie es gelingen kann, Kolleg_innen jenseits von sozialpartnerschaftlicher Gewerkschaftspolitik im Betrieb zu erreichen. Auch hier konnten wir übrigens durch Einbeziehung migrantischer Vereine, Foodsharing, des Stadtteilladens et cetera Brücken in verschiedene Richtungen bauen.

LV: Kann man den Begriff ‚Volk‘ in Deutschland noch verwenden? In welchem Sinne tut ihr das? Und in welchem Verhältnis steht er zur Klassenanalyse?

G/GT: Uns geht es gar nicht darum, den Begriff ‚Volk‘ wortwörtlich nach vorne zu stellen, sondern das Bild der Vielen lebendig werden zu lassen und dabei an Alltagsverständnis anzuknüpfen. Occupy Wall Street hat dabei den Begriff der ‚99 Prozent‘ geprägt. Die konkrete Kampagnen- und Symbolpolitik für hier wäre entsprechend unserer Kultur und Geschichte zu entwickeln.

Nichtsdestotrotz ist der Begriff aber da und Menschen beziehen sich darauf, genauso wie sie von sich als den ‚einfachen Leuten‘ sprechen. Das Volk als oberster Souverän, Volkspartei… Die Frage ist, ob wir als Linke das einfach rechts liegen lassen können. ‚Volk‘ ist mitnichten eine soziale und/oder ethnische Kategorie (das ist die rechte Auslegung), sondern eine politische. Wir sprechen uns dafür aus, dass die Linke einen politischen Begriff des Volkes (wieder-)entwickelt, in dem ‚das Volk‘ das Bündnis der unteren Klassen gegen den Block an der Macht ist. Der Block an der Macht ist ein Bündnis der verschiedenen Teile der herrschenden Klasse unter der Führung des monopolistischen Kapitals. Wir argumentieren zudem, dass dies aus linker Perspektive nur post-national und internationalistisch funktionieren kann, es also wichtig ist, Volk und Nation nicht zu vermischen, in unseren Kämpfen und Kampagnen immer die Perspektive der Ausgebeuteten, am stärksten Unterdrückten, der am stärksten Marginalisierten und der am stärksten Ausgegrenzten stark zu machen (in der Regel sind das Menschen mit Migrationsgeschichte und Frauen), und so unser populares ‚Wir‘ aufzubauen. Dass es zentral ist, aus einer Perspektive, die die demokratische Souveränität von unten nach oben verteidigt, gegen den deutschen Imperialismus zu kämpfen. 

Auch wenn wir selbst nicht unbedingt für die Verwendung des Volksbegriffs plädieren, gibt es durchaus auch in Deutschland linke, nicht-nationalistische Traditionen, die nach der Shoa antifaschistisch ‚das Volk‘ angerufen haben. Die erste ist die Kurt Schumachers, des ersten SPD-Vorsitzenden nach dem Faschismus. Die zweite ist die kommunistische Volksdemokratiekonzeption, die in der DDR entwickelt wurde (wir wissen um die Entstehungsbedingungen, bitten lediglich zu bedenken, dass selbst Opfer des Faschismus an einem emanzipatorischen Volksbegriff festhielten).

Außerdem wollen wir daran erinnern, dass es die Verbindung Rasse–Volk ist, die die historische radikale Rechte (vor den Nazis etwa der Alldeutsche Verband, zum Teil parallel zu ihm die DNVP) in ihrem Volksbezug stark gemacht hat. Was sie im Zuge ihres Kulturkampfes und ihrer Hegemoniepolitik ausgemerzt hat, war jeder demokratische und republikanische Volksbezug. Wie gesagt, geht es uns nicht darum, in Kampagnen möglichst oft und laut ‚Volk‘ zu sagen, sondern die populistische Verdichtung unterschiedlicher Klassenkräfte auf eine Weise hinzubekommen, die ein größeres ‘Wir der Kämpfenden‘ auf antirassistischer und feministischer Grundlage entstehen lässt. Ob die gebräuchlichen Bilder eher dem ‚we the people‘ eines Bernie Sanders oder dem ‚we the many‘ eines Corbyn gleichen, das ist uns ganz egal.

LV: Ihr seid verschiedentlich dafür kritisiert worden, dass ihr eine zu optimistische Einschätzung der Möglichkeiten eines linken, ‚rebellischen Regierens‘ habt beziehungsweise die Verwobenheit von Staat und Kapital unterschätzt (Offermann 2017, Schäfer 2017). Was entgegnet ihr solcher Kritik?

VG/GT: Wir sind an anderer Stelle ausführlich auf diese Kritik eingegangen. Man kann sie etwa auf der Facebook-Seite zum Buch nachlesen.[1] Das rebellische Regieren ist eine der sieben Thesen, mit der wir vor allem stark machen wollen, dass wir uns in all unseren Projekten darauf ausrichten müssen, wie wir letztendlich die Machtfrage stellen können. Damit haben wir nicht die Illusion, dass wir rein über Regierungen oder Parlamente Macht erringen. Es bezieht sich daher auch gar nicht auf Vorschläge à la R2G, sondern ist entstanden vor dem Hintergrund der Regierungsübernahme durch Syriza in Griechenland.

In den Kritiken wurde angemerkt, dass wir die strukturelle Abhängigkeit des Staates vom Kapital unter- und die Spielräume linker Regierungen überschätzen. Jakob Schäfer, führendes Mitglied der Internationale Sozialistische Organisation ISO, kritisierte, dass wir ein Konzept des Gradualismus vertreten würden, also eine schrittweise Überwindung des Kapitalismus. Das entspricht jedoch nicht unserer Vorstellung. Daher versuchen wir mal genauer darauf einzugehen, was wir damit meinen, und was in der Kürze in unserem Buch vielleicht nicht deutlich genug umrissen wurde. Im Zuge des sozialistischen Übergangs muss mit der Macht des Kapitals gebrochen werden, soll sie nicht die Kämpfe der Arbeiterklasse und die politische Linke brechen. Um das zu tun, sind Massenkämpfe – kreative, wilde soziale Bewegungen – nötig und radikale Reformen, die den Weg bereiten und mobilisierend wirken. Die „rebellische Regierung“, von der wir schreiben, sollte deshalb solche Reformen auf den Weg bringen – darunter notwendigerweise auch antikapitalistische Strukturreformen. Sie sollte dabei eine Politik entwickeln, die Selbstorganisation fördert und nicht begrenzt, Klassenbewusstsein hebt und nicht senkt. Es wäre ein politisches Programm zu verwirklichen, das Übergänge eröffnet, also Einstiege in den Ausstieg (Candeias 2016) aus ‚dem‘ Kapitalismus bietet – ein Programm, das popular-nationalen Führungsanspruch formuliert und dem zu schmiedenden ‚Machtblock von unten‘ aus verschiedenen Klassenfraktionen und sozialen Bewegungen Ausdruck verleiht. Wir greifen dabei auf einige Überlegungen zurück, die Panagiotis Sotiris (2017) entwickelt hat und die als ‚Strategie der permanenten Doppelmacht‘ bezeichnet werden kann. Grundlegend ist dabei, dass in Übergangsgesellschaften Arten des Lebens und Produzierens gegen die kapitalistische weiterhin erkämpft werden müssen – und damit auch der Klassenkampf bzw. die sozialen und politischen Kämpfe weitergehen (Bettelheim 2016). Die sozialistische Transformation ist auf den Aufbau von Bewegungen und neuen Institutionen der direkten Demokratie (Volksmacht) angewiesen. In welcher Geschwindigkeit der kapitalistische Staat aber demokratisiert und überwunden werden kann, ist von den Klassenkämpfen abhängig.

Buchstäblich jede geschichtliche Erfahrung lehrt uns, dass eine linke Regierung nur die Wahl hat, entweder – gestützt auf eine breite Mobilisierung – den Bruch mit der bestehenden Produktionsweise und Eigentumsordnung zu vollziehen oder aber sich den Systemzwängen zu unterwerfen und dann doch als Verwalterin der bürgerlichen Gesellschaft zu fungieren, wozu sich leider Syriza schnell entschieden hat. Dass dies einfach oder linear erfolgt, behauptet (glauben wir) niemand. Dennoch gibt es auch vereinzelte Beispiele, etwa von Kommunen in Spanien, die als lokale Regierung in Opposition zur herrschenden Politik gehen und gemeinsam mit Bewegungen „Rebellisch regieren“, um den Spielraum zu erweitern.

LV: Genau: Die lokale Ebene des Regierens und Organisierens, urbane Themen wie zum Beispiel steigende Mieten und stadtpolitische Bewegungen sind für uns als Stadtforscher_innen besonders interessant – und spielen auch in der öffentlichen Debatte über die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus eine immer stärkere Rolle. Was hat Linkspopulismus mit Stadt zu tun beziehungsweise was könnten die beiden miteinander zu tun haben?

VG/GT: Linkspopulismus ist wie gesagt eine Herangehensweise und Mobilisierungsstrategie mit klarer Gegenüberstellung von Volk und Elite. Uns geht es darum, die fortschrittlichen Kräfte zu bündeln und, das ist der entscheidende Punkt, die Unentschiedenen ins Zentrum der eigenen Politik zu rücken. Dabei spielt die kommunale Ebene eine sehr große Rolle – das Leben der meisten Menschen spielt sich hier ab, hier wird Herrschaft ganz konkret. Es ist ja eben nicht so, dass Menschen unter ‚dem Kapitalismus‘ leiden, sondern unter niedrigen Löhnen, steigenden Mieten oder aber auch schlechter Gesundheit, zum Beispiel verursacht durch Feinstaub, oder unter fehlender Infrastruktur. Uns geht es genau darum, diese Themen aufzugreifen, Widerstand zu organisieren und mit den großen gesellschaftlichen Fragen zu verknüpfen. Bei Arbeitsbedingungen ist man schnell beim Interessengegensatz von Lohnarbeit und Kapital, beim Feinstaub spielt die ganze Frage des Verkehrs und damit der Klimagerechtigkeit eine Rolle, Wohnen und Gesundheit werfen die Fragen auf, was in unserer Gesellschaft eigentlich alles Ware ist beziehungsweise sein darf und sein soll. Hier gilt es anzuknüpfen, zu kämpfen, Solidarität und Zusammenhalt zu erleben und einen Sozialismus von unten vorstellbar werden zu lassen.

LV: Vielen Dank für eure spannenden Antworten.

 

Das Email-Interview führte Lisa Vollmer.

Endnoten

Autor_innen

Violetta Bock setzt seit einem Auslandsaufenthalt in den USA Ansätze des Organizing in ihrer eigenen Nachbarschaft um. Sie ist Stadtverordnete der Kasseler Linken.

 

Thomas Goes ist Arbeitssoziologe. Er forscht zu Arbeitsbeziehungen, Prekarisierung der Arbeitsgesellschaft und Kapitalismustheorien.

 

Lisa Vollmer ist interdisziplinäre Stadt- und Bewegungsforscherin. Ihre Forschungsinteressen sind soziale Bewegungen, Wohnungspolitik und politische Theorie.

lisa.vollmer@metropolitanstudies.de

 

Die Publikation dieses Beitrags wurde durch den Open-Access-Fonds der Bauhaus Universität Weimar ermöglicht.

Literatur

Bettelheim, Charles (2016): Die Klassenkämpfe in der UdSSR, Berlin: Die Buchmacherei.

Candeias, Mario (2016): Lost in Crowd? In: Zeitschrift LuXemburg Nr.2., 16-21.

Goes, Thomas E. / Bock, Violetta (2017): Ein unanständiges Angebot? Mit linkem Populismus gegen Eliten und Rechte. Köln: PapyRossa Verlag.

Offermann, Rebecca (2017): Linker Populismus. Unanständig, aber gut. https://www.marx21.de/linker-populismus-unanstaendiges-angebot-goes-bock/ (letzter Zugriff am 15.2.2018).

Rothe Ecke Kassel (2016): Organisierende Zentren am Beispiel einer Kampagne zum Nahverkehr in Kassel. In: sub/urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 4/2-3, 127-130.

Schäfer, Jakob (2017): Mit linkem Populismus gegen die Eliten? http://intersoz.org/mit-linkem-populismus-gegen-die-eliten/ (letzter Zugriff am 15.2.2018).

Sotiris, Panagiotis (2017): Rethinking Dual Power. https://www.academia.edu/35145688/Rethinking_Dual_Power (letzter Zugriff am 15.2.2018).