Thesen zur Soziologie der Stadt

Hartmut Häußermann, Walter Siebel

1. Stadtsoziologie – Stadtplanungssoziologie*

Was sich in der BRD seit Mitte der sechziger Jahre unter dem Titel Stadtsoziologie rapide ausgebreitet hat, ist höchst disparat: Theoretische Arbeiten, kulturkritische Essays und Pamphlete, dazu eine wachsende Zahl harter Auftragsforschung zu den verschiedensten Gegenständen: Folgeprobleme der Sanierung, soziale Bedeutung städtebaulicher und architektonischer Formen, Leben in Stadtrandsiedlungen, Segregation, Versorgung mit Infrastruktur und Nutzerhalten, ortsgebundene Sozialbeziehungen, Wohnbedürfnisse, Zusammenhänge zwischen gebauter Umwelt und sozialem Verhalten. Die Aufzählung ließe sich fortführen. Kein gemeinsames Erkenntnisinteresse und keine Theorie der Stadt verbinden die verschiedenen Arbeiten. Eher ist von zwei Soziologien der Stadt zu reden: einer gesellschaftstheoretisch angeleiteten Stadtsoziologie und einer vom Informationsbedarf der Verwaltung geprägten Stadtplanungssoziologie.

Die ältere Soziologie der Stadt nahm Stadt entweder als eigenständigen Gegenstand der Sozialwissenschaft; hierfür steht die Gemeindesoziologie, soweit sie Gemeinde als ortsgebundenes und ortstypisches Geflecht sozialer Beziehungen (Nachbarschaft), als Focus lokaler Integration und damit als einen sozialen Tatbestand unterstellt vergleichbar der Familie. Oder Gemeinde wurde als verkleinertes Abbild der Gesamtgesellschaft Gegenstand sozialwissenschaftlicher Analyse. Insofern galten Gemeindestudien als besondere Methode der Gesellschaftsanalyse, die am überschaubaren Modell gesellschaftstheoretisch relevante Fragen (Schichtung/Machtstruktur) empirisch zu untersuchen erlaubte. Von beiden Ausprägungen der Gemeindesoziologie zu unterscheiden sind solche Untersuchungen, die den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und Entwicklung der Stadt thematisieren. Hierfür stehen: Max Webers Studie über die Rolle der occidentalen Stadt in der Entfaltung des Kapitalismus oder Georg Simmels Arbeit über den Zusammenhang von Geldwirtschaft und urbaner Zivilisation. Der Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und Stadtentwicklung ist auch Anhaltspunkt der utopischen Entwürfe zu Beginn des 19. Jahrhunderts wie später – in ideologischer Verkehrung – bei der konservativen Stadtkritik (Riehl, Spengler).

Gemeinde als lokalspezifische soziale Institution, die eigenständiger Gegenstand soziologischer Theoriebildung werden könnte, existiert heute nicht mehr, oder doch nur als politisch-administrative Einheit, an die die Stadtplanungssoziologie [485] anknüpft. Erforschung von Gemeinden als eine besondere Operationalisierung soziologischer Fragestellungen ist keine Stadtsoziologie, sondern eben eine Methode der empirischen Sozialforschung. Eine Soziologie der Stadt heute hätte anzuknüpfen an den gesellschaftstheoretischen Ansätzen, die den Zusammenhängen zwischen politischen, ökonomischen, sozialen und räumlichen Entwicklungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene mit denen auf lokaler Ebene nachgehen. Wenn die Soziologie der Stadt – so unsere These – dieses Niveau nicht (wieder) gewinnt, wird sie weder einen Beitrag zur kritischen Theorie der Gesellschaft noch einen praktisch relevanten Beitrag für die Steuerung der Entwicklung städtischer Strukturen leisten können.

Der Boom der Stadtsoziologie seit der Mitte der 60er Jahre wird nicht von einem gesellschaftstheoretischen Interesse getragen, sondern vom Bezug auf aktuelle Probleme der Stadtplanung. Diese besser ,,Stadtplanungssoziologie“ (Schäfers 1970) zu nennende Richtung soziologischer Beschäftigung mit Stadt orientiert sich darauf, in und von der planenden Verwaltung anwendbare Ergebnisse zu produzieren. Eben die nur allzu freiwillig akzeptierte In-Dienst-Nahme durch die planende Verwaltung ist nun eine der wesentlichen Ursachen für die Disparatheit, die Theorielosigkeit und für die Entpolitisierung der Soziologie der Stadt.

Die ,Jugend‘ der Disziplin ist keine zureichende Erklärung für diesen Zustand. Nicht die – ja keineswegs so kurze – Geschichte der Disziplin, sondern ihre Ankettung an staatliches Krisenmanagement ist verantwortlich zu machen. Stadtplanungssoziologie trifft zwar auf eine kaufkräftige Nachfrage nach sozialwissenschaftlichen Informationen, aber nur dort, wo für die planende Verwaltung krisenhafte Entwicklungen sichtbar werden. Verkehrsmisere, selektive Abwanderung, Verfall innerstädtischer Wohnquartiere, Finanznot etc. sind Stichworte, unter denen die zunehmende Krisenhaftigkeit städtischer Entwicklung wahrgenommen wird. Zugleich nimmt die Steuerungskapazität des politisch-administrativen Systems zumindest relativ zum steigenden Problembestand ab, wodurch Planung immer mehr auf’s kurzfristige Reagieren eingeengt wird. Wenn sich aber planende Verwaltung in Feuerwehrfunktionen erschöpft, wird sie nur zu eng definierten und schnell wechselnden Problembereichen Informationen nachfragen. Stadtplanungssoziologie wird so am goldenen Strick von Forschungs- und Gutachteraufträgen in die kurzatmigen Aktualitäten staatlichen Krisenmanagements hineingerissen. Darin sind ihre Theorielosigkeit und Banalität begründet. Wir wollen das im Folgenden kurz erläutern.

Die Nachfrage nach sozialwissenschaftlichen Informationen durch die politische Administration schafft Beschäftigung für Soziologen, aber noch keinen Gegenstand für eine Soziologie der Stadt. Im Unterschied zu antiken und mittelalterlichen Stadtstaaten ist heute Stadt weder politisch noch ökonomisch oder gar militärisch eine selbständige Einheit. Die Einbindung der kommunalen Administration in das nationale Rechtssystem und in die Politik von Bund und Ländern sowie die Integration der ortsansässigen Produktion in national und international verflochtene Märkte haben auch einer lokal gebundenen Sozial- und Kommunikationsstruktur [486] die Basis entzogen. Mit der Auflösung eines durch Unterschiede der Produktion und des Überbaus gekennzeichneten Gegensatzes von Stadt und Land kann Stadtsoziologie sich nicht (mehr) auf einen sozialen Tatbestand als ihren eigenen Gegenstand berufen, wie er für andere Bindestrichsoziologien konstitutiv ist. Stadt und Land sind keine Kategorien mehr, die unterschiedliche Produktions-, Reproduktions- und Herrschaftsformen bezeichnen. Der Gegensatz von Stadt und Land hat sich aufgelöst zu einem Mehr-Oder-Weniger vom Selben, also Disparitäten, die – und das ist das zweite, hier relevante Argument – innerhalb verstädterter Gebiete wie zwischen diesen und ländlichen Regionen auftreten. Auf der kategorialen Ebene macht es keinen Unterschied, ob man das Nebeneinander von verfallenden Gebieten mit Kümmernutzungen und Gebieten höchsten Investitionsdrucks mit allen seinen politischen und sozialen ,Folgen‘ innerhalb einer Agglomeration oder, großräumiger, als Problem von Konzentration und Entleerung untersucht. Wenn sich aber in hochentwickelten kapitalistischen Industriestaaten die städtische nicht mehr eindeutig von einer ländlichen Produktionsweise unterscheiden läßt und wenn 70 % der Bevölkerung in Städten wohnen, ist die Untersuchung der Stadt in Wirklichkeit die Untersuchung der ,modernen‘ (= industriellen) Gesellschaft, die Stadt also nur der Ort, an dem die Gesellschaft in ihrer Struktur und ihren Konflikten erscheint. Woran aber könnte sich eine gesellschaftswissenschaftliche Theorie der Stadt entwickeln, wenn Stadt als eigenständiges gesellschaftliches Phänomen nicht mehr existiert?

Die Chicagoer Schule der Humanökologie hat darauf eine Antwort gegeben, die heute in der Umweltpsychologie, in den Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen gebauter Umwelt und sozialem Verhalten und zur räumlichen Mischung oder Segregation sozialer Gruppen wieder aufgenommen worden ist: die These von der kausalen Bedeutung räumlicher Faktoren für gesellschaftliche Phänomene. Sie liegt Mitscherlichs Polemik gegen die Unwirtlichkeit unserer Städte ebenso zugrunde wie der Behauptung James Beshers, daß räumliche Segregation die Schichtstruktur der amerikanischen Gesellschaft zu einer Hierarchie von Kasten verhärte. Für den Stadtbegriff der Chicagoer Schule ist die Definition von Louis Wirth klassisch geworden: „Für soziologische Zwecke kann die Stadt definiert werden als eine relativ große, dicht besiedelte und dauerhafte Niederlassung gesellschaftlich heterogener Individuen“ (Wirth 1974; 48). Damit wird Stadt in erster Linie nach räumlichphysischen Merkmalen definiert. In der Tat sind städtische Strukturen nach diesen Merkmalen heute noch am ehesten von „Land“ zu unterscheiden. Doch zumindest Dichte und Größe sind keine gesellschaftlichen Kategorien, und der Versuch, gesellschaftliche Phänomene mit nichtgesellschaftlichen Kategorien zu erklären, muß zu ideologischen Konstruktionen führen, in denen die Großstadt oder die räumliche Verteilung sozialer Gruppen für die politischen und sozialen Konsequenzen einer kapitalistisch organisierten Industrialisierung verantwortlich gemacht werden, statt daß die vorfindlichen städtischen Strukturen selber zu diesen Konsequenzen gezählt werden. Wird also die Stadt als ein physisches Phänomen zur unabhängigen Variablen genommen, [487] dann unterliegt man entweder der Gefahr, Ursache und Erscheinung zu verwechseln, oder – wenn es tatsächlich gelingt, einen räumlichen Faktor als verursachenden zu isolieren – es ist der Verhaltensbereich, der damit erklärt werden kann, so minimal, daß die Erklärungskraft nicht mehr für eine Stadttheorie hinreicht (vgl. Gans 1974). Eine solche Soziologie der Stadt kommt über Banalitäten hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen gebauter Umwelt und sozialem Verhalten nicht hinaus.

Räumliche Faktoren oder doch wenigstens die Großstadt für Konflikte und Krisenerscheinungen verantwortlich zu machen, die angemessen nur aus der Struktur der Gesamtgesellschaft zu erklären sind – solche Verwechslung von Ursache und Wirkung, von zugrundeliegender Struktur und Erscheinungsform ist Geburtsfehler jeder Soziologie der Stadt, seit es Stadt als lokale Identität nicht mehr gibt. Beinahe jeder Konflikt hat seinen „Ort“, beinahe jede staatliche oder private Maßnahme beeinflußt lokal konzentrierte Produktions- und Reproduktionsbedingungen. Gibt es also fast nichts, was nicht seinen Niederschlag auf kommunaler oder regionaler Ebene fände, so ist doch kaum ein Konflikt, der als kommunales oder regionales Problem erscheint, als solcher adäquat zu analysieren. Analysen kommunaler Planungen, Krisen und Konfliktsituationen vergessen allzu leicht, daß sie es mit Problemen zu tun haben, die höchst vermittelte Erscheinungsformen gesellschaftlicher Konflikte und Krisen sind. Kommunale und regionale Planungen [müssen] untersucht werden, und erst die Darstellung der spezifischen Vermittlungen und Verschleierungen, die zentrale Konflikte als lokale erscheinen lassen, kann über die bloße Addition einzelner Aspekte hinausführen.

Die Eingrenzung des Forschungsinteresses auf einen Ausschnitt der gesellschaftlichen Wirklichkeit theoretisch und pragmatisch-empirisch zu begründen, ist zunächst das Problem jeder Bindestrich-Soziologie. Allerdings stellt sich dieses Problem für die Stadtsoziologie nicht einfach schärfer, sondern grundsätzlich anders. Familie, Industriebetrieb, Bildungssystem sind ausgegliederte, in sich ausdifferenzierte gesellschaftliche Institutionen, gekennzeichnet durch besondere Rollen und Normensysteme. Das Begründungsproblem von Stadtsoziologie liegt demgegenüber nicht darin, den eigenen Gegenstand in seinen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen. Für sie gibt es in diesem Sinn kein Vermittlungsproblem, weil es keinen gesellschaftlich, sondern nur einen räumlich ausdifferenzierten Gegenstand gibt.

2. Die Entpolitisierung der Soziologie der Stadt

Verstädterungen und städtische Strukturen zu untersuchen heißt, den gesellschaftlichen Prozeß als Einheit der dauernden Umwälzung ökonomischer, sozialer und räumlicher Strukturen zu untersuchen. Die Stadtsoziologie dagegen hat im Anschluß an die konservative Großstadtkritik diese Parallelität der Dimensionen, in denen gesellschaftlicher Wandel sich vollzieht, zu einem Verhältnis kausaler [488] Abhängigkeiten hierarchisiert, indem sie räumliche Strukturen und ihre Veränderungen als eigenständige Ursachen sozialer Phänomene isolierte. Sie ist damit hinter die Utopisten des frühen 19. Jahrhunderts zurückgefallen. Für Fourier, Cabet und Owen war die Einheit von räumlichem Modell der idealen Stadt und sozialem Entwurf einer besseren Gesellschaft selbstverständlich. Daß sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Stadtplanung als eine rein technische Veranstaltung entwickeln konnte, hat Benevolo auf die Spaltung zwischen bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen und der Arbeiterbewegung nach 1848 zurückgeführt. Letztere konzentrierte sich auf die zentrale Frage des Eigentums an den Produktionsmitteln. Stadtplanung, generell Kommunalpolitik wurde zur Domäne eines konservativ gewordenen Bürgertums (Benevolo 1971), dem weit mehr als die politischen und ökonomischen Grundlagen seiner eigenen Existenz die Größe und Dichte der Großstädte als Quellen allen Übels einleuchten mußten, zumal mit dem Wachstum der großen Städte auch sein Gegner, die darin zusammengepferchten Arbeitermassen, sich immer stärker organisierte.

So fand die Soziologie weder beim Bürgertum noch in den politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiterschaft den Bezugspunkt für eine politische Definition des Gegenstands Stadt. Die faktische Dominanz des Besitzbürgertums in der kommunalen Politik – nach innen gegen die Arbeiterschaft abgesichert durch das Klassenwahlrecht, nach außen, gegenüber den feudalistisch-autoritären Herrschaftsstrukturen des Kaiserreichs abgeschirmt durch die verfassungsrechtliche Sonderstellung der kommunalen Selbstverwaltung – wurde überdeckt durch die Konzeption von Kommunalpolitik als technischer, auf das Gemeinwohl orientierter Verwaltungsaufgabe, eine Auffassung, die noch in heutigen Kommunalverfassungen vielfach institutionalisiert ist. Hinzu kam das weitgehende Desinteresse der Arbeiterbewegung an kommunaler Politik. Beides begünstigte die unpolitische Definition von Stadt und Stadtplanung, wie sie in der Konzentration stadtsoziologischer Forschung auf die kausale Bedeutung räumlicher Faktoren und auf Gemeinde als eigenständiges Gebilde impliziert ist. Unterschlagen wird dabei, daß die räumliche und die soziale Struktur der Stadt integrale Bestandteile des Vergesellschaftungsprozesses sind, daß damit weder räumliche Struktur noch die Gemeinde eigenständige Gegenstände soziologischer Forschung sein können.

3. Die Politisierung der Soziologie der Stadt

Wenn die alte Polarität von Stadt und Land und damit die Stadt als eigenständiger Gegenstand der Gesellschaftswissenschaft im Sinne der klassischen Stadtsoziologie im Ozean der kapitalistischen Industriegesellschaft versinkt, so treten umgekehrt die Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Entwicklung in städtischen Strukturen deshalb nicht weniger deutlich hervor als früher, eher noch schärfer. [489] Der Zusammenhang zwischen kapitalistischer Entwicklung und Stadtentwicklung wird heute im Zuge der Politisierung der Kommunalpolitik aufs Neue thematisiert.

Die These von der unpolitischen Kommunalpolitik war immer schon Ideologie. In der Praxis hat die staatliche Administration stets versucht, alle Dimensionen des Vergesellschaftungsprozesses zu beeinflussen. Insbesondere für die Kommunen hat es eine Periode des Laissez-Faire nie gegeben. Kommunale Politik umfaßte von Anfang an Förderung der Produktivkraftentwicklung und sozialpolitische Milderung der Folgeprobleme kapitalistischer Industrialisierung. In jüngster Zeit haben diese Funktionen jedoch an politischer Brisanz gewonnen. Drei Entwicklungstendenzen sind zu nennen:

Mit Herausbildung national und übernational organisierter Kapitale und mit der Verschärfung der Kapitalverwertungsschwierigkeiten müssen die staatlichen Maßnahmen der Produktivkraftentwicklung zunehmend auf nationaler Ebene organisiert werden. Parallel dazu wurden auch die sozialpolitischen Interventionen zur Bewältigung der Folgeprobleme kapitalistischer Entwicklung zentralisiert und intensiviert. Im Zuge dieses Funktionswandels durch Zentralisierung, Ausweitung und Intensivierung staatlicher Interventionen ist auch die räumliche Dimension staatlichen Handels institutionell ausgeformt worden. Raumordnung und regionale Strukturpolitik wurden in dem Maße instrumentiert, in dem die räumliche Dimension ökonomischer Entwicklung wachstumspolitische Bedeutung gewann. Zusammen mit den Versuchen zu einer strafferen konjunkturpolitischen Steuerung der Einnahmen und Ausgaben aller öffentlichen Hände hat dies Stadtpolitik und Stadtplanung unübersehbar in den Zyklus zentralstaatlichen Krisenmanagements hineingerissen. Damit verlieren kommunale Politik und Planung zwar ihre Autonomie, werden zugleich aber durch ihre Instrumentalisierung für die zentrale Wachstums- und Konjunkturpolitik ‚von oben‘ politisiert.

Die zweite Entwicklungstendenz liegt in der ausgreifenden Vergesellschaftung von Funktionen der Reproduktion, d. h. in ihrer zunehmend marktförmigen und staatlichen Organisation. Vor allem die Ausweitung der Infrastruktur unter staatlicher Regie bedeutet eine Politisierung von Bereichen der Reproduktion. Nicht in dem Sinn, daß ihre demokratisch-politische Lenkbarkeit zugenommen hätte; erweiterte Staatseingriffe sind nicht notwendig gleichzusetzen mit einer Ausweitung von Steuerungsmöglichkeiten. Aber die Entwicklung der Stadt als einer Einheit der Reproduktion (Castells) vollzieht sich zunehmend vermittelt über staatliches Handeln, sichtbar in der Ausweitung und Detaillierung der entsprechenden Gesetzgebung und in den Bemühungen um „comprehensive planning“.

Damit verbunden ist eine dritte, die Politisierung der Kommunalpolitik bezeichnende Tendenz: die sogenannte Krise der Städte. Sie hat zwei Aspekte: Das unmittelbare Aufbrechen politischer Konflikte in den verstädterten Gebieten und die Krise des staatlichen Steuerungssystems. In der Perspektive des politisch-administrativen Systems wird die Krise der Städte greifbar als fortschreitender Verfall kommunaler Steuerungskapazität. Neben politischen und rechtlichen [490] Restriktionen (Bodenrecht, interkommunale Konkurrenz) wird hier in erster Linie auf die Finanzkrise der Städte verwiesen. Im Konzept des circulus vitiosus der Stadtentwicklung ist diese Problemeperzeption am deutlichsten formuliert: Stadtentwicklung wird vorgestellt als kumulativer, sich selbst verstärkender Kreislauf von Verschlechterung der Lebenssituation in den Städten – Abwanderung – Verschlechterung der Finanzsituation – Zunahme des Pendlerverkehrs – wachsende Verkehrsbelastung – weitere Abwanderung, d. h. als ein Teufelskreis, der die Probleme vor allem der Kernstädte in den Agglomerationsgebieten verschärft und ihnen zugleich die Mittel entzieht (Abwanderung der guten Steuerzahler), sich dagegen zu wehren.

Zusätzlich belastet wird die staatliche Steuerungskapazität durch wachsenden politischen Widerstand von Bürgerinitiativen und anderen Selbstorganisationen von Betroffenen, den neuerdings auftretenden „grünen“ Parteien usw. Die sogenannten Folgeprobleme naturwüchsiger Stadtentwicklungsprozesse und staatlicher Planungseingriffe bedrohen zunehmend auch die Oasen bürgerlichen Wohnens in den Städten. Bürgerlicher Widerstand artikulierte sich als Protest gegen die Unwirtlichkeit unserer Städte, gegen den Verlust von Urbanität und ästhetischer Qualitäten der gebauten Umwelt. Planungsbeteiligung wurde die zentrale Forderung. Die fortschreitende „Krise der Städte“ hat diese stark von bürgerlicher Betroffenheit geprägte Thematik erweitert. Gesellschaftliche Widersprüche und politische Konflikte in den verstädterten Gebieten brechen immer unvermittelter und offensichtlicher auf. Es gibt kein Wachstum mehr, aus dessen überreichen Füllhorn auch die Mittel flössen, seine Folgeprobleme vergessen zu machen. Sanierungsmaßnahmen können nicht mehr zuende finanziert werden. So werden aus freigemachten citynahen Investitionsflächen Parkplätze und Müllabladeflächen – Zahnlücken im Gesicht der Stadt. Ganze Stadtviertel können bis zum bitteren Ende der „blighted areas“ verfallen, ohne daß ein Investitionsdruck rentablere Nutzungen nachschiebt. Die innerstädtische Polarisierung zwischen Zonen des Verfalls und Zonen hektischen Stadtumbaus wird sich auf regionaler Ebene in der Polarität zwischen reichen suburbanen Stadtvierteln und der Kernstadt als dem Sammelbecken der alten Armen, der diskriminierten Minoritäten, der dauerhaft Arbeitslosen wiederholen.

In dem Maße, in dem die verstädterten Gebiete in der BRD sich amerikanischen Zuständen anzunähern scheinen, werden auch hier Widersprüche kapitalistischer Entwicklung offensichtlich. Die naturwüchsige Entwicklung der Städte muß nicht nur als Film angesehen werden, der Folgeprobleme des Wachstums sichtbar macht, sondern auch als Medium, durch das sich Klassenverhältnisse durchsetzen und verschärfen: Durchsetzen, denn die naturwüchsige Entwicklung der Städte führt gegenwärtig auch in der BRD zu stärkerer Segregation der sozialen Schichten bis hin zur Bildung von Randgruppenghettos; verschärfen, denn durch Prozesse der Stadtentwicklung wird das Reproduktionsniveau großer Teile der Bevölkerung gesenkt (Verlängerung und Verteuerung der Distanz Wohnen – Arbeitsplatz, Mietpreissteigerung, Umweltbelastung…). Je deutlicher aber die Probleme in den großen Städten die Probleme der Unterschicht werden, desto mehr müssen auch die Auseinandersetzungen in den Städten an politischem Gehalt gewinnen. [491]

4. Die Banalität der Stadtplanungssoziologie

Die hier dargestellten Tendenzen drängen der Soziologie den politischen Gehalt städtischer Probleme auf. Die Zentralisierung ehemals rein lokal bearbeiteter Themenbereiche einerseits, die sichtbare Konfliktträchtigkeit von Stadtplanung und Kommunalpolitik andererseits zwingen auch die sozialwissenschaftliche Stadtforschung zu einer politischen Definition ihres Bezugs zur Planungspraxis. Zugleich wächst die Nachfrage staatlicher Stellen nach sozialwissenschaftlichen Informationen. Damit werden sozialwissenschaftliche Analysen und Informationen in die institutionalisierte Politik eingebaut (Sozialplan, Vorbereitende Untersuchungen nach Städtebauförderungsgesetz). Diese institutionelle Politisierung der Stadtplanungssoziologie ist durchaus janusköpfig:

Für die kommunale Administration können sozialwissenschaftliche Qualifikationen, Daten und Erklärungen in dreierlei Verwendungszusammenhängen Bedeutung gewinnen: Bei der Bewältigung von Folgeproblemen naturwüchsiger und gesteuerter städtischer Entwicklungsprozesse, zum besseren Marketing von Infrastrukturmaßnahmen und schließlich im Rahmen partizipatorischer und PR-Strategien. Es ist anzunehmen, daß mit fortschreitender Krise der Städte auch diese Nachfrage wächst. Eine so beschaffene Aktualität ist Chance und Gefahr zugleich. Die Chancen sind leicht benannt: sie liegen vor allem im Aufbau sozialwissenschaftlicher Arbeitskapazität und in der Akkumulation von Informationen, deren Verwendungsmöglichkeiten zumindest nicht vollständig determiniert sind. So hat gerade die – sicherlich interessierte – Fehlinterpretation des Mai 68 als einer partiell durch Dysfunktionalitäten der Großstadt bedingten Krisenerscheinung in Frankreich zu einem Boom öffentlich geförderter Stadtforschung geführt. Paradoxerweise aber hat eben diese durchaus an die ideologischen Topoi konservativer Großstadtkritik anknüpfende Forschungsförderung die Entwicklung der gegenwärtig wohl am weitesten vorangetriebenen marxistischen Ansätze in der Stadtforschung zur Folge gehabt.

Gerade an der Konjunktur von Stadtsoziologie bestätigt sich aber auch die Gefahr, in die Soziologie als eine Wissenschaft der Krise und eine Hilfswissenschaft der staatlichen Administration notwendig gerät. In Krisensituationen von der Administration gerufen, dient sie nicht nur als letzte Bastion gegen die Politisierung, indem sie als eine Wissenschaft an die Stelle von Selbstorganisation der Betroffenen, von Beteiligung und Demokratisierung führt. Sie dient auch der Durchsetzung der je spezifischen Problemperzeption der Verwaltung. Je mehr sich Stadtplanungssoziologie um Praxisrelevanz bemüht, desto mehr läuft sie auch Gefahr, ideologische Funktionen im Sinne der Wiederspiegelung der administrativen Problemperzeption als einer wissenschaftlichen zu erfüllen. Z. B. ist das Nachbarschaftskonzept nicht nur aus der Ghettobildung in den US-amerikanischen Städten gewonnen, seine Lebensfähigkeit verdankt es wohl auch der Nähe zur planerischen Aufgabestellung. Zum einen erhebt es die räumliche Dimension, noch heute die wesentliche Dimension stadtplanerischer Interventionen, zu einer die Gesellschaft strukturierenden. [492] Zum zweiten konnten mit dem Begriff Nachbarschaft als einer auf der Tatsache des Nahe-Beieinander-Wohnens basierenden Gesellschaftsform der bis in die 60iger Jahre vorherrschenden Aufgabenstellung der Stadtplanung, nämlich dem Neubau großer Wohnsiedlungen am Stadtrand, gesellschaftstheoretische Korsettstangen eingezogen werden.

Die Dominanz der durch den Handlungsspielraum und den Gegenstand kommunaler Planung vorgegebenen Problemdefinition vor allem in der anwendungsorientierten sozialwissenschaftlichen Stadtforschung zeigt sich heute in der Wiederbelebung der Chicagoer Schule ebenso wie in Mobilitätsforschung, Umweltpsychologie und den zahllosen Studien zum Zusammenhang zwischen gebauter Umwelt und sozialem Verhalten. Der Ertrag solcher Untersuchungen wird auch von ihren Auftraggebern häufig als banal eingeschätzt. Daß Wissenschaft der Planungspraxis nichts zu bieten habe, daß sie entweder unpraktisches Zeug oder bestenfalls das, was man selbst schon immer gewußt habe, produziere, ist unter Praktikern teils gern, teils resigniert geäußerte Erfahrung.

Wissenschaftler und ihre Auftraggeber suchen Ausweg in noch engerer Anlehnung an den geäußerten Informationsbedarf der Verwaltung. Relevant für die Planungspraxis sind in den Augen der Praktiker nur solche Informationen, die innerhalb des Handlungsspielraums der planenden Verwaltung auch anwendbar sind. Eine anwendungsorientierte Stadtplanungssoziologie muß in ihre Problemdefinition daher die Restriktionen der Praxis aufnehmen (vgl. Offe 1977). Beispielsweise sind Ergebnisse, wonach etwa die Wohnzufriedenheit von Unterschichtsangehörigen durch Mietpreissenkungen gesteigert werden könnte, in diesem Sinne nicht praxisbezogen. Da Stadtplanung die Entwicklung der Städte nur in ihrer räumlich-physischen Dimension beeinflussen kann, sind sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse vor allem dann praxisrelevant, wenn sie sich auf diesen engen Aspekt der städtischen Entwicklung beziehen. Hierin ist einer der Gründe für die Wiederbelebung der Sozialökologie in den letzten Jahren zu sehen (vgl. Atteslander/Hamm 1974, Friedrichs 1977). Sie verdankt sich nicht zuletzt der Tatsache, daß es sich um einen Forschungsansatz handelt, der annähernd die gleichen Aspekte städtischer Entwicklung wahrnimmt, wie sie das Instrument der Bauleitplanung greifen kann und sie in gleicher Weise, nämlich gebietsbezogen, organisiert. Beide Male geht es um die baulichen, die sozialen und die Nutzungsmerkmale von Gebietseinheiten. Es ist eine ironische Pointe, daß die Stadtplanungssoziologie damit zu einer Zeit auf gebietsbezogene Problemdefinitionen zurückgreift, zu der einerseits in einzelnen Sparten der kommunalen Entwicklungsplanung bereits auf soziale Gruppen ausgerichtete Konzepte formuliert werden (Altenpläne, Jugendpläne), zu der andererseits eine incrementalistische Aufsplitterung des umfassenden Planungsentwurfs auch den großangelegten Gebiets-Survey zunehmend uninteressant machen könnte.

Der Rückgriff auf die Konzepte der Sozialökologie ist ein Beispiel für die Verinnerlichung der administrativen Problemeperzeption in der anwendungsorientierten sozialwissenschaftlichen Stadtforschung, die neuerdings aktuelle [493] Wirkungsforschung ein anderes. Wirkungsforschung soll effektivere Nutzung staatlicher Steuerungsressourcen ermöglichen, indem sie staatliche Maßnahmeprogramme ex post oder begleitend hinsichtlich der Wirkungszusammenhänge, in die sie eingreifen, und ihrer realen Handlungsspielräume analysiert (vgl. Hellstern/Wollmann 1977). Daß damit relevantes und vor allem detailliertes und konkretes Wissen zur Beschreibung und Erklärung der Wirkungsweise staatlicher Steuerungsversuche erarbeitet werden kann, ist unmittelbar einsichtig. Daß damit der wirkungsanalytischen Sozialwissenschaft aber auch Scheuklappen aufgezogen sind, die all jene Themenbereiche aus dem Blickfeld ausblenden, die nicht bereits von der politischen Administration als krisenhaft wie auch als prinzipiell politisch-administrativ regelbar wahrgenommen worden sind, gerät über der Euphorie, empirisch gehaltvolle Forschungsansätze (zusammen mit möglicherweise ergiebigen Forschungstöpfen) entdeckt zu haben, leicht in Vergessenheit. Mit der Verlagerung auf ex post oder begleitende Analysen staatlichen Agierens gibt die Sozialwissenschaft die Thematisierungskompetenz aus der Hand. Wenn staatliche Politiken vorrangig Mittelschichtspolitiken sind, werden die Interessen der Unterschicht auch nicht in den Analysen der Wirkung dieser Politiken thematisiert, allenfalls unter der Rubrik „negative Nebenfolge“ und im Nachhinein. Das heißt aber, daß Wirkungsanalysen sich kaum zur Vorbereitung neuer Politiken eignen, die die Lage derer, die sich am wenigsten helfen können, verbessern sollen. Wirkungsanalysen werden die Effektivität bei der staatlichen Bearbeitung bereits erkannter Probleme steigern. Die Belange bislang unberücksichtigter Interessen kann die Wirkungsanalyse nur insoweit thematisieren, als sie im Brunnen nach den hineingefallenen Kindern forscht.

Zwischen soziologischer Problemdefinition und der der Planungsadministration besteht eine grundsätzliche Diskrepanz. Die Soziologie definiert ihre Gegenstände nach sozialen Merkmalen, die Stadtplanung nach physisch-räumlichen. Für die Stadtplanung werden soziale Gruppen zunächst nur insoweit zum Problem, als sie innerhalb eines Gebiets wohnen, das Gegenstand eines Planungseingriffs ist. Für sie gibt es in erster Linie nur ,,Situationsgruppen“. Sofern die Soziologie bei dieser Problemdefinition stehen bleibt, also die Lebenssituation der (von Sanierung) Betroffenen und nicht die der Lohnabhängigen in verstädterten Gebieten zum Gegenstand macht, übernimmt sie die in Handlungsspielraum, Instrumentarium und Organisation der planenden Verwaltung institutionalisierte Ideologie: Die Stadt ist bevölkert von Situations- und Randgruppen, nicht von Angehörigen verschiedener Schichten/Klassen.

Die Übernahme der Problemdefinition der Verwaltung sichert mit der Praxisnähe einer anwendungsorientierten Stadtplanungssoziologie zugleich ihre Banalität. Daß diese Banalitäten trotzdem immer wieder produziert werden, ist vor allem auf die Zwänge zurückzuführen, denen eine strikt auf Praxisrelevanz bedachte Stadtplanungssoziologie unterliegt. Aber wenn ihre Ergebnisse auch dem Praktiker meist nur wiederholen, was er selbst schon weiß, ist sie deshalb noch nicht nutzlos; vielmehr liegt gerade darin eine ihrer wesentlichen Funktionen: sie bestätigt der ,Praxis‘, daß die Wissenschaft es genauso sieht. [494]

5. Aufgaben einer kritischen Soziologie der Stadt

Die Attraktivität der Stadtsoziologie für die staatliche Administration liegt darin begründet, daß in einer Situation der Hilflosigkeit und der Angst angesichts sich zuspitzender Krisen eine Wissenschaft, die vorgibt, spezifisch städtische Probleme manipulieren zu können, natürlich eine gewisse Hoffnung gibt. Diese Hoffnung kann sie nur geben, wenn und solange sie ihren Gegenstand verfehlt. Wenn die Soziologie der Stadt nicht nur die von der Administration perzipierten Probleme aufgreifen will, muß sie demnach Distanz halten zur Praxis der Administration. Wir wollen im folgenden die Aufgaben einer solchen kritischen Stadtsoziologie umreißen.

Zunächst wäre Wissenschaftskritik zu nennen. Die Soziologie muß sich kritisch mit den in der BRD dominierenden Problemdefinitionen auseinandersetzen. Das legitimatorische Geschäft solcher Wissenschaft, administrative Problemstellungen auch als die wissenschaftlich abgesicherten und wichtigen auszugeben, müßte zu allererst erschwert werden. Das heißt nicht, Anwendungsorientierung und die Bemühung um Bezug auf die Praxis der politischen Administration seien bloß noch zu „entlarven“. Unsere bisher vorgetragenen Argumente sollen keine Antinomie zwischen einer guten und einer bösen Forschung aufbauen. Unsere These, wonach die feststellbare Konzentration von Forschungskapazität auf anwendungsorientierte Auftragsforschung zur Dethematisierung gerade politisch relevanter Gegenstandsbereiche beiträgt, erlaubt nicht den Umkehrschluß, die sogenannte freie, akademische Forschung sei ausreichende Basis für eine Thematisierung gesellschaftlich relevanter, politischer Probleme, wie sie in städtischen Strukturen auftreten. Einmal gibt es außerhalb anwendungsbezogener Forschung kaum ,freie‘ Forschungsmöglichkeiten. Was außerhalb der Auftragsforschung gemacht wird, ist dementsprechend uninformiert und kurzatmig. Zum anderen liefe eine solche Gegenüberstellung auf die Intellektuellenideologie einer Frei-Schwebenden-Intelligenz als Träger der Wahrheit hinaus. Daß in der BRD im Vergleich zu Frankreich und Italien administrative Problemstellungen stärker dominieren, ist nicht allein der Forschungspolitik, noch weniger den Intentionen der Soziologen, zuzurechnen, sondern auch der Tatsache, daß hier die politischen Auseinandersetzungen in den Städten nicht den gleichen Stand erreicht haben. Auch eine politisch engagierte Soziologie unterliegt Grenzen der Praxis, nämlich denen der Entwicklungsstufe der politischen Bewegung. (Dies wird am italienischen Beispiel im Beitrag von Bodenschatz/Harlander in diesem Heft gezeigt). Daß in Deutschland so viel Ableitungs-Marxismus und vergleichsweise wenig konkrete Analyse betrieben wurde, ist auch Reflex der Tatsache, daß hier zwischen Marx’scher Theorie und den politischen Bewegungen in den Städten nur wenig Verbindungen bestehen.

Ideologiekritik also ist als erste Aufgabe zu nennen – und zwar gegenüber der anwendungsorientierten wie der universitären soziologischen Stadtforschung. Sieht man einmal von den sozial-ökologischen Forschungen ab, in denen Gesetzmäßigkeiten der räumlichen Bewegung thematisiert werden, so gibt es in der BRD [495] bisher nur einen bedeutsamen Versuch zur Formulierung einer stadtsoziologischen Theorie, nämlich den auf Verhaltensstilen aufbauenden von Bahrdt (1969). Die inneren Widersprüche und Unmöglichkeiten eines solchen Ansatzes haben wir schon dargelegt, hier sei nur noch auf eine Wirkung dieser ,Theorie‘ hingewiesen, die sicher nicht in der Absicht des Erfinders lag: Bahrdt setzte sich in seinem Entwurf zur ,modernen Großstadt‘ von der konservativen Großstadtkritik ab, die seit Beginn der Industrialisierung den sich bildenden Agglomerationen die heile vorindustrielle Welt ländlich-sittlichen Daseins entgegenhielt. So richtig die Widerlegung vieler Argumente der konservativen Stadtkritik im einzelnen ist, so grundsätzlich falsch ist die Ebene, auf der Bahrdt seine Antitheorie entwickelte: er wies diese Großstadtkritik nicht so sehr deshalb zurück, weil sie Erscheinungen der Industrialisierung als Erscheinungen „der Stadt“ interpretierte, sondern versuchte auch, die „negative“ Stadttheorie durch eine „positive“ zu ersetzen. Dadurch kam er auf ein fatales Gleis: hatte die konservative Stadtkritik mit ihrer Verdammung des Lebens in den Städten immerhin unbestreitbar katastrophale Lebensbedingungen im Visier, denen zumindest das Industrieproletariat unterworfen war, so verlegte sich Bahrdt mit seiner stadtsoziologischen Theoriebildung ganz auf Verhaltenstugenden des Bourgeois. Die weltoffene Individualität, die er zu einer typischen Verhaltensweise stilisiert, kann nur auf einem bestimmten Existenz- und Bildungsniveau erwachsen, das der Masse der abhängigen Lohnarbeiter in der Regel verwehrt ist. Bahrdt wehrt sich also gegen den Kulturpessimismus, indem er die proletarische Lebenssituation negiert und die der Bourgeoisie zur Kultur erhebt.

Diejenigen Versuche, die nach wie vor eine Theorie der Stadt auf vorherrschenden Verhaltensstilen aufbauen, sind ihrem kritisierten Gegenentwurf, der konservativ-reaktionären Stadtkritik insofern verbunden, als sie dieselbe Ebene der Analyse und Theorieformulierung wie diese wählen: die äußerlichen Formen des städtischen Lebens. Der kulturpessimistischen Untergangsstimmung wird lediglich der Optimismus bürgerlich-städtischer Kultur entgegengehalten; eine radikale Kritik derart, daß die konservativen Stadtanalytiker ihren Gegenstand verfehlen, weil sie Stadt mit kapitalistischer Industriegesellschaft verwechseln, hätte dieser Art von Theoriebildung selbst die Basis entzogen. Aus der Antikritik zur konservativen Stadtverteufelung wurde so stellenweise schlicht Stadtapologie. Diese äußert sich sowohl in der durchgängigen Glorifizierung großstädtischer Anonymität wie in der Vernachlässigung proletarischer Lebensverhältnisse bei der Bildung einer soziologischen „Theorie“. Damit bleibt dieser Theorieansatz sowohl hinsichtlich seines materiellen Substrats (bürgerlicher Verhaltensstil) als auch hinsichtlich seiner Erkenntnis- und Interessenorientierung bürgerlichen Erfahrungen verhaftet. Welche fatalen Folgen die praktische Wendung solcher Theorie für die verplanten Bewohner soziologisch-konstruktiv entworfener Wohnquartiere hat, hat J. Kirschenmann (1970) in boshafter Schärfe gezeigt.

In Europa ist die Stadt die Existenzform des Besitzbürgertums in der vorindustriellen Epoche; obwohl sie ständisch gegliedert ist, Klassenunterschiede also institutionalisiert sind, steht sie doch als ganze im Gegensatz zu den ländlichen [496] Regionen. Aufgrund ihrer Produktionsweise nehmen alle Städter – wenn auch in unterschiedlichem Maße – an der Ausbeutung des Landes teil. Die sozialen Gegensätze des feudalen Landes und diejenigen der bürgerlichen Stadt sind überlagert vom Gegensatz der Produktionsweisen. Auf dieser Basis ist definierbar, was ,städtisch‘ ist: es sind die sozialen Beziehungen, die durch eine sich entwickelnde Warenbeziehung geprägt sind, in denen die Leibeigenschaft durch den Schein der Gleichheit im Warenaustausch abgelöst ist. Dies ist exakt jene Spannung von persönlicher Beziehung und geschäftiger (öffentlicher) Gleichgültigkeit, die Bahrdt zur Grundlage seiner Stadtʻtheorieʼ gemacht hat.

Wir haben zu Beginn die These aufgestellt, daß der Stadt-Land-Gegensatz und damit die grundsätzliche Unterschiedlichkeit in den Lebensformen zwischen Stadt und Land ihre Basis zu dem Zeitpunkt verlieren, zu dem einerseits die feudalen Strukturen auf dem Lande aufgelöst und andererseits durch die Industrialisierung und die kapitalistische Durchorganisation aller Arbeitsbereiche die vormals ,städtischen‘ sozialen Beziehungen ubiquitär werden. Bei der Auflösung feudaler Strukturen und der Verallgemeinerung kapitalistischer Rationalität handelt es sich um epochale Prozesse, die bis heute nicht abgeschlossen sind. Wir finden zwar heute noch große Unterschiedlichkeiten in den Lebensformen und -auffassungen in Stadt und Land vor, es handelt sich aber um kulturelle Besonderheiten und Phänomene eines cultural lag, die einem raschen Wandel unterworfen sind. Sie geben keine Grundlage mehr ab für eine soziologische Stadttheorie.

Die Frage nach den spezifisch städtischen Lebensbedingungen im Gegensatz zu denen auf dem Land ist in dem Maße relevant, in dem der Land-Stadt-Gegensatz eine reale Erfahrung ist, d. h. solange Verstädterungsprozesse und Land-Stadtwanderungen in größerem Maße stattfinden. Heute, da städtische Strukturen zur „normalen“ Lebenssituation geworden sind, überwiegen Veränderungen innerhalb städtischer Regionen, also Suburbanisierungsprozesse, die Unterschiede zwischen Altbau- und Neubaugebieten, zwischen Innenstadt-und Stadtrandwohnsituationen, zwischen alten Industriestädten und strukturschwachen Regionen und neuen Wachstumszentren. Kurz, die Frage lautet nicht: was heißt städtisches Leben im Vergleich zum Leben auf dem Lande, sondern: was bedeutet Stadtentwicklung für die Entwicklung des Klassenverhältnisses? (vgl. Grauhan 1975, insbesondere die Einleitung) Eine derartige Erweiterung der Perspektive könnte schon einen wesentlichen Erkenntnisfortschritt bei der soziologischen Untersuchung städtischer Phänomene einleiten. Geht man schon von kulturellen Phänomenen der Stadt aus – und dies ist durchaus ein legitimer Gegenstand soziologischer Forschung –, dann stellt die Beschränkung auf einen bestimmten Verhaltensstil eine unzulässige Vereinfachung dar: sie unterstellt, daß es etwas typisch Städtisches über alle Klassen- und Schichtungsgrenzen hinweg gibt. Doch ist offenkundig, daß sich Lebens- und Verhaltensstil städtischer Bourgeoisie und städtischen Proletariats kaum auf einen sinnvoll gemeinsamen Nenner bringen lassen; daß wir Soziologen bis heute so wenig über die spezifischen Lebensformen der Arbeiterklasse wissen, ist noch lange kein Grund für die Annahme, diese gebe es nicht. Obwohl die neue Produktionsweise, die auf Kapital und Lohnarbeit beruht, keineswegs auf die Stadt als Ort der Realisierung angewiesen ist (in vielen Fällen entstanden die ersten Fabriken auf dem Lande oder vor den Toren der Städte), wird doch die Stadt, und später die Großstadt, zum vorherrschenden Siedlungsmuster der industriellen Epoche. Für die lohnabhängigen Massen bedeutete die industrielle Arbeit und die damit verbundene städtische Lebensform lange Zeit Unterwerfung unter die hemmungsloseste Ausbeutung – in der Arbeit und im Wohnbereich, mit all den hinlänglich bekannten Folgen. Die Stadt ist der Ort der Ausbeutung durch industrielle Lohnarbeit – und sie wird in dem Maße, wie sich ihre funktionale und wirtschaftliche Struktur nach den Bedürfnissen von Industrie-und Handelskapital wandelt, zum Medium der Ausbeutung (Helms 1970).

Es wäre wiederum falsch, Stadt einseitig als Ort der Ausbeutung allein zu beschreiben. Verstädterung ist nicht nur Niederschlag, blinde Konsequenz einer von kapitalistischen Verwertungsinteressen bestimmten Entwicklung, sondern selbst auch Produktivkraft. In der Zusammenballung von Produktionsstätten und Arbeitskraft realisiert sich eine Produktivkraft, die eine rasche Steigerung des gesellschaftlichen Reichtums ermöglicht. Die Beteiligung daran muß sich das Proletariat erkämpfen – und die Stärke für diesen Kampf, das ist die andere Seite der städtischen Realität, bezieht die Arbeiterbewegung aus der Ansammlung von lohnabhängigen Massen in den Arbeiterquartieren. Die Stadt ist der Ort, an dem aus der Arbeiterklasse „an sich“ eine Klasse „für sich“ werden konnte, wo eine Kommunikation, die nicht durch die kapitalistischen Pressorgane manipuliert wird, möglich ist, und wo sich durch die räumliche Zusammenballung die Dynamik des Klassenkampfes entfaltet. Die räumliche Konzentration, ja Überkonzentration von Produktions- und Wohnstätten, die allein dem ökonomischen Kalkül folgt, nimmt auf die Lebensinteressen der Lohnabhängigen keine Rücksicht – aber sie erzeugt damit auch den Widerstand gegen ihre sozialen Folgen und gegen die kapitalistische Produktionsweise selbst. Dort, wo diese ihre höchste Entwicklung erreichte, bildete sich auch der stärkste Widerstand. Verstädterung ist Konsequenz und Faktor des sozialen Wandels, der Änderung der Produktionsverhältnisse, Familienstrukturen, der Vergesellschaftung von Funktionen der Reproduktion, des Wandels von Normen und Verhaltensmustern, wie sie Simmel, Wirth, Bahrdt, u. a. beschrieben haben. Verstädterung muß als ein integraler Teil jener progressiven Entwicklung der Revolutionierung der Produktionsweise, der Zerschlagung feudaler Herrschaftsverhältnisse und der Zersetzung festgefügter Rollensysteme angesehen werden, die Marx als die historische Leistung des Kapitalismus enthusiastisch gefeiert hat.

Beschreibungen davon, welchen Verlauf dieser Prozeß im allgemeinen hatte, welches die ihn bis heute bestimmenden Faktoren sind, liegen zahlreich vor. Es ist daher auch kein Zufall, daß sich die marxistisch orientierte Verstädterungsforschung weitgehend in der Rezeption nationalökonomischer Theorien erschöpft hat – und diese Nationalökonomie hat mit der fortschreitenden Differenzierung und Spezialisierung der Wissenschaftsdisziplinen eben die ,Opfer‘ der kapitalistischen Ökonomie längst aus den Augen verloren. [498]

In der soziologischen Diskussion werden zwar die sozialen Folgen der durch die kapitalistische Unternehmensstrategie bestimmten Umwälzung der räumlichen Struktur thematisiert, aber sie werden entweder nur auf dem Niveau von ,Bevölkerung‘ versus Kapital untersucht, oder nur in ausschnitthaften Extremsituationen, welche wiederum selbst durch das (sozial-)politische Interesse der Administration definiert sind (als ,Randgruppen‘ wie z. B. in der Sanierungs- und Obdachlosenproblematik). Und selbst Untersuchungen, die diese Oberflächlichkeit zu durchstoßen versuchen, unterliegen der grundsätzlichen Beschränkung durch die zugrundegelegten Daten: die amtliche Statistik (Volkszählung) ist keine Basis, auf der man ernsthaft Aussagen über die Lage der sozialen Klassen in der Stadt machen kann. Eine Beschreibung der tatsächlichen Situation und der Entwicklung des Niveaus der Reproduktionsbedingungen der verschiedenen Schichten der Lohnabhängigen ist also eine dringliche Aufgabe einer kritischen Stadtsoziologie.

Im Zusammenhang mit den noch sehr sporadischen Ansätzen zur Erfassung von Lebenssituationen in städtischen Gebieten läßt sich eine eigentümliche Umkehrung der Werte in der kritischen Diskussion unter den Soziologen feststellen. Die Leitbilder, deren Kritik den Anfang der neueren kritischen Auseinandersetzung von Soziologen mit Stadtplanung ausgemacht hat (Nachbarschaft und Einfamilienhaus), werden nun insbesondere bei der Auseinandersetzung um die Sanierung unter dem defensiv gewendeten Stichwort Lebensqualität wieder hervorgeholt.

Sicherlich zeigt sich darin auch ein Fortschritt in der Diskussion: Man beschäftigt sich mit den realen Lebensbedingungen, nicht mehr nur mit ihrer verbalen Verbrämung. Vor allem aber steckt hinter dieser Umwertung der Werte eine reale Entwicklung: heute vorherrschende Aufgabenstellung der Stadtplanung ist nicht mehr der Entwurf der neuen Stadt auf grüner Wiese, sondern direkter Eingriff in bestehende Lebenssituationen (Sanierung). Und diese Eingriffe bedeuten zunehmend eine Verschlechterung der Lebenssituation der Betroffenen, angesichts der die alten Wohnbedingungen als bessere erscheinen können. Das Programm einer Zustandsbeschreibung ist insofern auch anwendungsbezogen, als es der Verteidigung eines erreichten Reproduktionsniveaus gegen die Folgen der Veränderung städtischer Strukturen dient. Angesichts der Mülleimerfunktion der Gemeinden, auf die die Folgeprobleme überhöht determinierter Entwicklungen abgewälzt werden bzw. in deren Kompetenzbereich sie sichtbar werden, gewinnt diese Aufgabe an Bedeutung. Dabei sind zunächst Einzelbefunde wie die zunehmenden Pendelzeiten der Arbeitnehmer oder steigende Mieten in den Agglomerationsräumen in Zusammenhang zu bringen und ihre Wechselwirkung mit der Arbeitszeit- und Lohnentwicklung zu untersuchen; mit solchen relativ leicht zugänglichen Daten ist aber nur ein Teil der Lebensorganisation erfaßt. Er muß ergänzt werden durch empirische Studien, die einen unmittelbareren Zugang zu den tatsächlichen Reproduktionsbedingungen eröffnen, in denen die sozialen Dimensionen genau beschrieben und deren räumliche Bedingungen als Ausprägung und Wirkung im besonderen analysiert werden. [499]

Die „Es-geht-uns-allen-doch-immer-besser“-Behauptung ist die Lebensideologie der kapitalistischen Gesellschaft. Die immer stärker regulierten, verwalteten und geplanten Reproduktionsbedingungen der arbeitenden Klasse wären aber daraufhin erst noch zu untersuchen: ob die beobachtbaren Veränderungen auch tatsächlich eine Verbesserung dieses Niveaus bedeuten. Daß dabei die Befunde der anderen Bindestrichsoziologien, wie Industrie-, Sozialisations-, Medizin- oder Familiensoziologie integriert werden müssen, braucht nicht besonders betont zu werden.

Die Konzeption einer Stadtsoziologie setzt, wie dargelegt, eine Identität zwischen einem räumlichen und einem sozialen System voraus. Diese Identität gibt es in der Regel für eine stadt-soziologische Theoriebildung nicht. Aber diese Identität kann es für Teilgebiete oder für andere räumliche Einheiten (Gemeinden) geben, deren soziales System in starkem Maße von einem bestimmten nur dort auftretenden sozialen Faktum geprägt wird (z. B. für eine alte Zechensiedlung), wenn also Lebensverhältnisse von lokal spezifischen Faktoren stärker bestimmt werden als von den in der Gesellschaft allgemein vorherrschenden. Solche lokalen Identitäten können in Forschungen erfaßt werden, die in der Tradition der Community Studies stehen. Da in solchen Studien die spezifischen Einflüsse einer Gemeinde auf die sozialen Beziehungen der Bewohner untersucht werden, und gerade nicht auf deren allgemeine Charakteristika abgehoben werden darf (denn dann würden wiederum nur allgemeine gesellschaftliche Probleme pars pro toto in einer Gemeinde zum Gegenstand), muß dieser Forschungszweig auf Fallstudien beschränkt bleiben. Beim Versuch der Verallgemeinerung verlieren sie das spezifisch Lokale bzw. Städtische.

Neben der Ideologiekritik und der Zustandsbeschreibung liegt in der Analyse der Krise der staatlichen Stadtpolitik die dritte größere Aufgabe der soziologischen Befassung mit der Stadt. Staatsanalyse findet auf lokaler Ebene ein Feld, auf dem im Gegensatz zur Analyse sektoraler Politiken, staatliches Handeln und sein Einfluß auf die gesamte Lebenssituation erfaßt werden können. Ein weiteres Motiv, sich mit kommunaler Selbstverwaltung zu befassen, kommt hinzu: das Interesse an kommunaler Selbstverwaltung enthielt in Deutschland immer auch ein antistaatliches, zumindest antizentralistisches, damit auch spezifisch antiautoritäres Moment. Dies findet in der neueren Diskussion insofern eine Analogie, als das Interesse an kommunaler Politik mit Hoffnungen auf Basismobilisierung und kollektive Selbstorganisation verbunden wird. Das Interesse an kommunaler Politik gründet unter anderem auch in der Annahme, hier, auf der Ebene der Kommune, auch die Ebene der konkreten Erfahrung, der unmittelbaren, kumulierenden Betroffenheit von kapitalistischen Entwicklungsprozessen in den Griff zu bekommen. Daß dieser Ansatzpunkt auch den Blick verstellen kann, ist häufig schon diskutiert worden: die kommunale Selbstverwaltung dient heute dem Kleinarbeiten von Problemen; losgelöst von der Analyse zentraler Konflikte und Konfliktlösungsversuche auf nationaler Ebene wird sie zum Nebenkriegsschauplatz. Gegenwärtig z. B. hat die kommunale Finanzmisere den früher so offensichtlichen Zusammenhang zwischen Wachstumspolitik und Stadtumbau zerrissen. Die Kommunen können den [500] ihnen zugedachten Teil der Wachstumspolitik nicht erfüllen, daher die Aktualität von behutsamer Sanierung und Modernisierung. Hier sind exaktere empirische Analysen des politischen Potentials von Problemen der Reproduktionssphäre vonnöten. Dazu gehört nicht nur, was die Partizipationsdiskussion bisher geleistet hat, eine Analyse der Anlässe und des Verlaufs spontaner Selbstorganisationen auf lokaler Ebene, sondern in erster Linie eine ökonomische Analyse des Reproduktionssektors ebenso wie der Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster, die in ihm zumindest befestigt, teilweise auch produziert werden.

Anmerkungen

Autor_innen

Hartmut Häussermann (†) war Professor für Stadt- und Regionalsoziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

 

Walter Siebel forscht zu Stadtentwicklung, Stadtkultur, Integration, Stadt und soziale Ungleichheit.

Kontakt: walter.siebel@uni-oldenburg.de

Literatur

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Grauhan, Rolf-Richard (Hg.) (1975): Lokale Politikforschung. 2 Bände. Frankfurt/Main.

Hellstern, Gerd-Michael / Wollmann, Helmut (1977): Wirkungsanalysen – Eine neue Variante wissenschaftlicher Politikberatung. In: transfer 4. Opladen.

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