Henri Lefebvres „Recht auf Stadt“ feministisch denken

Eine stadttheoretische Querverbindung von 1968 bis heute

Anne Vogelpohl

1968 veröffentlichte Henri Lefebvre seinen Text zum ‚Recht auf Stadt‘ (Le droit à la ville), ein buchlanger Meilenstein in seiner länger andauernden Auseinandersetzung mit der Beziehung von Stadt und Gesellschaft. In den 1960er Jahren wurden auch weitere, heute noch oft zitierte Texte geschrieben, die sich als kritische Stadtforschung der 1960er Jahre zusammenfassen ließen: Edgar Salins „Urbanität ist tot“ (1960), Jane Jacobs Tod und Leben großer amerikanischer Städte (1963) [1961] oder Alexander Mitscherlichs Die Unwirtlichkeit der Städte (1965) beklagten wie Lefebvre die auf Funktionalität und Funktionstrennung ausgerichtete Stadtplanung, die Verödung der Innenstädte, den Verlust der urbanen Vielfalt. 1968 spitzte sich also auch im Nachdenken über Städte etwas zu, was sich in den gesamten 1960er Jahren schon entwickelt hatte.

Henri Lefebvre war allerdings einer der wenigen, die sich auch weiterhin über Jahre mit dieser Thematik auseinandersetzten. Er verstand das Urbane als entscheidendes Moment der Gesellschaft als Ganzer und verband seine Stadttheorie sukzessive mit seinem Werk zu Alltag, Kapitalismus und Raum. Auch hat er auch schon 1968 zum Recht auf Stadt das Recht auf Aneignung, auf Partizipation, auf Differenz hinzugezählt. Wegen dieser Querverbindungen ist Lefebvres Arbeit besonders spannend für aktuelle städtische Bewegungen und gegenwärtige Stadttheoriebildung. Doch lassen sich seine Gedanken nicht so einfach auf heute übertragen. Zu viele gesellschaftliche Veränderungen und zu viele methodologische Neuerungen hat es seither gegeben.

Besonders fruchtbar wäre es im Moment, die feministischen Konzepte von Alltag und Differenz sowie feministische Methodologien enger in Bezug zu Lefebvres Stadt-, Alltags- und Differenztheorie zu stellen. Dafür werde ich seine Ansätze zunächst in die kritische Stadtforschung der 1960er einbetten, dann den Text Recht auf Stadt detaillierter einführen und auf bereits vorgenommene Aktualisierungen eingehen und schließlich eine feministische Perspektive auf Lefebvres Arbeit entfalten.

1968 und das stadttheoretische Erbe

Die 1960er Jahre waren eine turbulente Zeit. Arbeitende, Studierende, Frauen und anderweitig zusammenfassbare Gruppen begehrten gegen patriarchale, kapitalistische Machtbeziehungen sowie gegen autoritäre Verhältnisse in allen gesellschaftlichen Bereichen auf. In den Protesten und kreativen Aktionen der 1968er brach sich die angestaute Wut schließlich Bahn. Das hat auch die Stadtforschung nicht unberührt gelassen. Im Gegenteil: auch in Städtebau und Stadtplanung der Nachkriegszeit wurde eine Ursache für die Organisation und Stabilisierung von Autorität und Hierarchien gesehen. Die Produktion von Stadt wurde damit als Teil des gesellschaftlichen Umbruchs diskutiert.

Früh war in dieser Debatte der Wirtschaftswissenschaftler Edgar Salin engagiert (der übrigens einer der Gründer der Prognos AG war, die mit ihrer Beratungstätigkeit bis heute Stadtpolitik beeinflusst). Vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in den neuen Städten Israels (vgl. Wilhelm/Gust 2013) mahnte, man könnte sogar sagen: empörte Salin in einer Rede vor dem deutschen Städtetag 1960 die damalige Stadtpolitik und -planung. Vor allem kritisierte er die städtische Funktionstrennung und die daraus resultierende Monotonie (Salin 1960, siehe dazu Binder 2006, Haubold 1997). Nachdem das schlicht baulich interpretiert und in Funktionsmischung übersetzt worden war, spitzte er seine Beobachtungen zehn Jahre später mit dem provokanten Satz „Urbanität ist tot“ zu (Salin 1970). Stattdessen forderte er, Urbanität nicht nur planerisch, sondern auch geistes- und sozialwissenschaftlich zu denken. Der „der runde, freie, der lebendige Mensch“ war für Salin (1960: 34) das langfristige Ziel einer interdisziplinär und humanistisch gedachten Urbanität.

Die Verknüpfung von Kritik an der zeitgenössischen Stadt mit utopisch anklingenden Gegenentwürfen war typisch für die stadttheoretischen Debatten der 1960er Jahre. Die Gleichzeitigkeit von Empörung und Enthusiasmus prägte auch die Schriften von Jane Jacobs, Alexander Mitscherlich und nicht zuletzt Henri Lefebvre. Sie alle sahen die inzwischen versteckten, aber wiederzuentdeckenden Möglichkeiten in der Stadt, Entfremdung und Unterdrückung zu überwinden. Die Journalistin und Aktivistin Jane Jacobs (1963) wird insbesondere für ihre Idee erinnert, dass das lebendige Treiben auf städtischen Bürgersteigen eine kollektiv garantierte Sicherheit sowie Vertrauen und Beteiligung erzeuge, dieses lebendige Treiben allerdings von Politik und Planung systematisch zerstört werde (mehr dazu vgl. Schubert 2014). Laut Jacobs vereinigen spezialisierte Komponenten des Urbanen „ihre Wirkung auf dem Bürgersteig, der nicht im Geringsten spezialisiert ist. Und das ist seine Stärke.“ (1963: 46) Der Sozialpsychologe Alexander Mitscherlich sah ebenfalls in der Entmischung urbaner Komponenten das Problem, dass sich die Menschen der Stadt nicht mehr zugehörig fühlen, sondern diese nur noch gleichmütig ertragen. Sein explizit als „Pamphlet“ (Mitscherlich 1965: 7) bezeichneter Standpunkt bezichtigte über Politik und Planung hinaus auch die verrechtlichten Eigentumsverhältnisse als Ursache für mangelnde Veränderungsmöglichkeiten. Als Alternative griff er die Idee der Erbpacht – also die Trennung von Grundbesitz und Bebauung – auf, die auch heute wieder in den Recht-auf-Stadt-Initiativen an Bedeutung gewonnen hat.

Recht auf Stadt? Seit 2009 haben sich in vielen deutschen Städten – nach internationalem Vorbild, aber natürlich mit lokal ganz unterschiedlichen Ausprägungen – viele stadtpolitische Netzwerke unter dem Titel „Recht auf Stadt“ gebildet. Auch wenn dies zum Großteil ohne expliziten Bezug zu Lefebvres Text zum Recht auf Stadt entstanden ist, haben viele Initiativen im Laufe der Zeit Inspiration bei Lefebvre gesucht und sich mit seinem Werk identifiziert. Über die Initiativen und deren Bezug zu Lefebvre ist in den letzten Jahren schon viel geschrieben worden (Gebhardt/Holm 2011, Sugranyes/Mathivet 2010, Vogelpohl 2015, Vrenegor 2014). Über die aktuelle politische Vernetzung wiederum gibt die Seite wiki.rechtaufstadt.net einen hervorragenden Überblick. Im Mittelpunkt dieses Beitrages soll deswegen Lefebvres theoretisches Nachdenken über Stadt seit 1968 stehen. Wie die kurzen Ausführungen zu Salin, Jacobs und Mitscherlich zeigen, war Lefebvre nicht der erste und einzige, der mehr Raum für Unterschiedlichkeit, mehr Begegnungen, mehr gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen und mehr Interdisziplinarität im Denken über Stadt gefordert hat. Wie genau seine Kritik und seine Forderungen im Jahr 1968 lauteten und wie sie bislang weiterentwickelt wurden, diskutiere ich im folgenden Abschnitt.

Das Recht auf Stadt – damals und heute

Das Buch Recht auf Stadt, in dem auch ein Kapitel mit demselben Titel vorkommt, ist im französischen Original 1968 erschienen. Seit 2016 erst liegt es auch in deutscher Übersetzung vor (Lefebvre 2016). Das Interesse an einer Übersetzung ist eng im Zusammenhang mit den Recht-auf-Stadt-Bewegungen der letzten Jahre zu sehen. Der Hamburger Recht-auf-Stadt-Aktivist Christoph Schäfer beschreibt dies im Vorwort der Übersetzung. Lefebvres Vorstellung eines ‚Rechts auf Stadt‘ kann allerdings nicht auf das Kapitel mit diesem Titel in dem Buch verkürzt werden, weil dann ausgeblendet würde, wie Lefebvre das Stadtthema weiterentwickelt hat. Seine Ausführungen zur Stadt gleichen einer dauernden Suchbewegung, mit der er Ende der 1960er nur begann. Unter anderem betont er, dass mit der Forderung nach einem Recht auf Stadt nicht ein Anspruch auf Teilhabe an der aktuellen Stadt gemeint sein kann, sondern eher das „Recht auf das städtische Leben“ (Lefebvre 2016: 166), welches erst in der Aneignung und damit Veränderung der jetzigen Stadt entsteht. Sehr viele Varianten und Ergänzungen koppelt Lefebvre deswegen an das Recht auf Stadt: das Recht auf Beteiligung, auf Bewohnen, auf Aneignungen von Raum und Politik, auf Freiheit, auf Individualisierung in Bezug auf die Sozialisation etc. – und ganz zentral das ‚Recht auf Differenz‘ (Lefebvre 2008: 109).

Ich lese Lefebvres Werk so, dass Differenz genauso im Zentrum seiner Gesellschaftstheorie steht wie Stadt und Raum. Differenz steht vielleicht sogar am Beginn (als Bedürfnis) und am Schluss (als das Mögliche – Lefebvres Auffassung einer Utopie). Die Stadt ist der Ort, der Differenz möglich macht; die urbanisierte Gesellschaft als Zukunftsvorstellung ist die Gesellschaft, in der überall Differenz gelebt wird; und die Produktion des Raumes ist das grundsätzliche Vehikel von Veränderung (dazu einführend: Elden 2004, Ronneberger/Vogelpohl 2014, Schmid 2005). Die Forderung nach einem ‚Recht auf Stadt‘ – verstanden also als ein Recht auf eine Gesellschaft, in der Unterschiedlichkeit und Teilhabe ermöglicht und gelebt werden – hat Lefebvre mindestens über die Begriffe Differenz und Raum weiterentwickelt. Über diese Begriffe möchte ich die Querverbindungen von 1968 bis heute ziehen.

Der Idee von Differenz widmet sich Lefebvre nach 1968 ausführlicher in Le Manifeste différentialiste (Lefebvre 1970) sowie im dritten Band zur Kritik des Alltagslebens, der in den frühen 1980er Jahren erschienen ist (Lefebvre 2008 [1981]). Differenz ist sozial konzeptualisierte Unterschiedlichkeit. Das heißt sie ist nur wahrnehmbar und auslebbar in Kollektiven, im Wissen um Andersartigkeit. Eine differentielle Gesellschaft braucht diese Relation zum Anderen: „As for differences, they are defined only socially – that is to say, in specifically social relations. Unlike particularity, difference is not isolated.“ (Lefebvre 2008: 111) Lefebvre knüpft diese Konzeption von Differenz explizit an eine Kritik an Rassismus und Sexismus, die beide nicht relationale Differenzen, sondern essentielle Besonderheiten betonen.

Das Recht auf Stadt als Recht auf Differenz weiterzudenken, erkennt den Alltag als Ort an, an dem dieses Recht praktisch gelebt werden kann. Wird Differenz im Alltag lebbar, dann ist für Lefebvre eine gesellschaftliche Revolution vollzogen. Rechte denkt Lefebvre also nicht als Liste von Prinzipien, sondern als praktische Maximen, die im Alltag gelebt werden (zur Vertiefung des Rechtsbegriffs siehe Attoh 2011, Pierce et al. 2016). Rechte müssen allerdings immer wieder erobert und in politischen Auseinandersetzungen erkämpft werden (Lefebvre 2008).

Heute wird Lefebvre in der feministischen Stadtforschung interessanterweise gerade für eine Ignoranz gegenüber Differenz kritisiert (Buckingham 2010, Fenster 2006). Während diese Kritik mit Blick auf Lefebvres wiederholte Ausführungen zu Differenz konzeptionell etwas zu kurz greift, verweist sie doch auf empirische Defizite: Wie unterschiedliche geschlechtliche, ethnische oder altersbezogene Voraussetzungen den Alltag prägen und was dies für die Möglichkeit, Rechte zu erkämpfen, bedeutet (Fenster 2006), hat Lefebvre kaum vertieft. Zwar hat er die Zweite Frauenbewegung keineswegs ignoriert. Er bemängelte jedoch bereits damals das gleichheitsfeministische Denken, mit dem ‚Frauen‘ als Kategorie essentialisiert würden und Forderungen zu sehr auf eine Anpassung an maskuline Normen zielten (Lefebvre 2008: 110).

Essentialisierungen werden manchmal leider weiterhin vorgenommen, wenn Lefebvres Werk auf heute übertragen wird. Das gilt, wenn Bedürfnisse von Frauen vereinheitlicht werden (wie bei Buckingham 2010, Fenster 2006) und ist noch problematischer bei regelrecht universalisierenden, entpolitisierten Vorstellungen eines ‚planetary urbanism[1]. Um derartige Vereinfachungen zu vermeiden, ist die Idee von „difference in equality“ (Lefebvre 2008: 110) – von Unterschiedlichkeit bei gleichen Rechten und Möglichkeiten – spannend und weiterführend. Wie ich weiter unten ausführe, lädt Lefebvres Werk gerade deshalb heute dazu ein, es intersektional aufzufächern.

Die vielschichtigen Antworten auf die Frage, wie sich ein Differenz ermöglichender Alltag in sich urbanisierenden Räumen forcieren lässt, verdichtete Lefebvre (1991) in The Production of Space (1991), einem in der Raum- und Stadtforschung viel gelesenen Buch. Dieses hilft heute noch dabei, räumliche Komplexität und die Möglichkeit von Veränderung zu denken. Veränderung ist hier ein wichtiges Stichwort. Denn Lefebvre versteht Raum als Prozess, der zwar auch hierarchisch, patriarchal und kapitalistisch organisiert werden kann, aber prinzipiell veränderbar ist – und im Sinn des Rechts auf Stadt und auf Differenz verändert werden sollte. Gesellschaftliche Veränderung vollzieht sich dabei über Verschiebungen in dem widersprüchlichen Verhältnis von – vereinfacht gesagt – Raumkonzepten, tatsächlichen räumlichen Praktiken und gelebt-gedachten Räumen. Inhaltlich füllt Lefebvre diesen Prozess in Richtung des „differentiellen Raums“ (Lefebvre 1991: 352ff.), über den sich seine Vorstellung einer anderen Gesellschaft formiert.

Die politische Forderung eines Rechts auf Stadt konkretisiert sich also in einer politischen Vorstellung von Raum. Raum ist politisch. Diese Annahme wurde inzwischen vielfach weitergedacht, sowohl in sozialen Bewegungen als auch in der Wissenschaft. Oft geht es dabei um die Frage, wie die dazugehörige politische Praxis umgesetzt werden kann. Mark Purcell hebt hier die Konzeption aller Betroffenen als „inhabitants“ hervor, die unabhängig ihres formal-rechtlichen Status an politischen Prozessen beteiligt sein können (Purcell 2002). Die damit einhergehende Forderung einer tiefgreifenden Demokratisierung des Städtischen nimmt auch David Harvey auf, wenn er das Recht auf Stadt als „a right to change ourselves by changing the city“ (Harvey 2008: 23) übersetzt. Die Frage: „Where is our 68“? (ebd.: 37) beantwortet er mit einer Forderung nach mehr Vernetzung der Recht-auf-Stadt-Bewegungen sowie der Demokratisierung der gesellschaftlichen Mehrwertproduktion. Und um die bei Lefebvre manchmal verschwommene politische Praxis theoretisch auszubauen, knüpft Daniel Mullis (2014) an das Konzept der radikalen Demokratie nach Chantal Mouffe und Ernesto Laclau an. Nicht zuletzt weckt das von Mullis vorgenommene Zusammendenken von ‚Raum ist politisch‘ und ‚Politik ist räumlich‘ starke Assoziationen mit dem kritischen Ausruf: ‚Das Private ist politisch‘ feministischer Politik und Wissenschaft – eine Verbindung, die im Folgenden ausgeführt wird.

Henri Lefebvre feministisch weiterdenken

Zwischen Lefebvres theoretischen Entwürfen und zentralen feministischen Konzepten gibt es sehr viele Überschneidungspunkte. Diese wurzeln in beiden Fällen im engen Bezug zur politischen (Alltags-)Praxis:

 

Die Verknüpfung dieser Themen mit praktischen politischen Auseinandersetzungen prägt ebenfalls sowohl Lefebvres als auch feministische Selbstverständnisse. Es fällt allerdings auf, dass Lefebvre die oben genannten Konzepte vor allem theoretisch-philosophisch reflektiert, während sie in feministischen Ansätzen auch (forschungs-)praktisch und politisch leitend sind. Denn nicht zuletzt geht die intensive Reflexion des Forschungsprozesses in der feministischen Wissenschaft auf die politischen Frauenbewegungen zurück, die die Herrschaft von einseitigen (patriarchalen) sozialen Strukturen und exklusiver (maskuliner), somit unvollständiger, Rationalität anprangerten. Insbesondere in der methodologischen Reflexion sind feministische Forschungen deswegen heute sehr viel ausgereifter als Lefebvres Vorgehen in den 1960er Jahren und danach. Hier lässt sich viel lernen, um gegenwärtig mit seinem Werk arbeiten zu können.

Erstens sehe ich dieses Potenzial in der reflexiven Thematisierung der eigenen Positionalität, das heißt der individuellen Voraussetzungen des eigenen Blickes und deren Folgen für Aussagen über soziale Verhältnisse (vgl. Carstensen-Egwuom 2014, England 1994). Eine solche Selbstreflexion kommt bei Lefebvre gar nicht vor, hilft aber die Reichweite der eigenen Aussagen einzuschätzen. Deswegen trägt die Reflexion der Positionalität zu einem differentiellen Denken bei, das sich der Möglichkeit ganz anderer Perspektiven bewusst ist.

Zweitens hat die vielfältige Forschung zu Intersektionalität einen Zugang zum Verständnis diverser sozialer Differenz und Ungleichheiten geschaffen (vgl. Carstensen-Egwuom 2014, Winker/Degele 2009). Intersektionalität, also der Fokus auf die Verschränkung von unterschiedlich gelagerten Differenzkategorien, bleibt bei Lefebvre sehr implizit. Wenn aber – wie bei Lefebvre und im Feminismus – der Anspruch besteht, Gesellschaft nicht nur zu verstehen, sondern auch zu verändern, dann ist das Begreifen aktueller Probleme in ihrer komplexen Vielschichtigkeit eine zentrale Voraussetzung. Dies macht ein intersektionales Denken möglich.

Und drittens gibt es in der feministischen Forschung eine lange Tradition und viele praktische Ansätze für das Zusammenführen verschiedener Wissensformen (Peake 2016, Schuster 2016). Bewohner_innen, Betroffenen, Aktivist_innen und Nicht-Organisierten Einfluss auf den gesamten Forschungsprozess zu geben, wird dem Anspruch gerecht, sie als Personen mit relevantem Wissen und als politische Subjekte zu erkennen.

Es gibt bereits Arbeiten der feministischen Stadtforschung, die direkte Bezüge zu Lefebvre herstellen. Deren zentraler Beitrag ist es, Stadt nicht in erster Linie als umkämpften öffentlichen Raum zu denken, sondern als Ort des Alltages, in dem das Zuhause, die Straße, Produktionsstätten, Diskurse von Schönheit und Körper, Verstecke, Erinnerungen, öffentliche Orte, Orte der Reproduktion und vieles mehr verschränkt sind (Beebeejaun 2017, Buckley/Strauss 2016, Butcher/Maclean 2018). Michelle Buckley und Kendra Strauss (2016) behaupten beispielsweise, dass nur in der Betrachtung unterschiedlicher, nicht nur hetero-maskulin konzipierter Orte (die Lefebvre ‚Residuen‘ nennt) die Keimzellen für die urbane Revolution sichtbar werden. Yasminah Beebeejaun (2017) vertieft wiederum die Idee, über Alltagspraktiken die vergeschlechtlichte Stadt begreifen zu können. Und die feministisch-aktivistische Gruppe Raum und Gender – LaRAGE (2011) kritisiert das politische Recht-auf-Stadt-Netzwerk in Hamburg für die impliziten und teilweise expliziten patriarchalen Muster. Dagegen entwirft die Gruppe eine feministische Alternative, in der wirklich heterogene und auch unterdrückte Stimmen den Ton angeben können. In einer lefebvresch-feministischen Stadtforschung, so möchte ich zusammenfassen, steht der verräumlichte Alltag im Zentrum. Denn der Fokus auf Alltag vermag komplexe Zusammenhänge von Intersektionalität, Positionalität und Kollektivität zu konkretisieren und zu politisieren.

Fazit

Das feministische Weiterdenken von Lefebvres Werk zeigt sowohl dessen Potenziale für Analyse und Kritik, die sicher auch von den 1968er-Protesten genährt wurden, als auch die Limitierungen seines Werkes. In allererster Linie regt die feministische Perspektive dazu an, nicht neue, abgeschlossene Antworten zu produzieren, sondern mit vielen Fragen an die Stadt heranzugehen und dabei nicht hinter die in Lefebvres Werk angelegte analytische Breite und politische Radikalität zurück zu fallen: Was möchte ich in meiner Forschung erreichen und welche Selbstverständnisse liegen dem zu Grunde (Positionalität)? In welchen privaten, wissenschaftlichen und politischen Zusammenhängen kann ich mich über meine Forschung austauschen (Reflexivität)? Wie kann ich Ungleichheiten und unterschiedliche Perspektiven erkennen und gegebenenfalls für sich selbst sprechen lassen (intersektionale/differentielle Analyse)? Wie werden diese Unterschiede im Alltag reproduziert und welche Effekte haben sie (Kritik)? Welche Ideen für einen anderen Alltag und eine andere Politik schimmern implizit oder explizit durch das Material meiner Analyse hindurch (Alternativen)?

Endnoten

Autor_innen

Anne Vogelpohl ist Geographin und beschäftigt sich mit Stadtpolitik in Hinblick auf Beratung, Wohnen sowie Arbeit und nutzt feministische Methodologien.

anne.vogelpohl@haw-hamburg.de

Literatur

Attoh, Kafui A. (2011): What kind of right is the right to the city? In: Progress in Human Geography 35/5, 669-685.

Beebeejaun, Yasminah (2017): Gender, urban space, and the right to everyday life. In: Journal of Urban Affairs 39/3, 323-334.

Binder, Beate (2006): Urbanität als „Moving Metaphor“. Aspekte der Stadtentwicklungsdebatte in den 1960er / 1970er Jahren. In: Adelheid v. Saldern (Hg.), Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten. Stuttgart: Steiner, 45-63.

Brenner, Neil / Schmid, Christian (2015): Towards a new epistemology of the urban? In: City 19/2-3, 151-182.

Buckingham, Shelley (2010): Examining the right to the city from a gender perspective. In: Ana Sugranyes / Charlotte Mathivet (Hg.), Cities for All – Proposals and Experiences towards the right to the city. Santiago de Chile: Habitat International Coalition, 57-62.

Buckley, Michelle / Strauss, Kendra (2016): With, against and beyond Lefebvre: Planetary urbanization and epistemic plurality. In: Environment and Planning D: Society and Space 34/4, 617-636.

Butcher, Melissa / Maclean, Kate (2018): Gendering the city: The lived experience of transforming cities, urban cultures and spaces of belonging. In: Gender, Place & Culture 25/5, 686-694.

Carstensen-Egwuom, Inken (2014): Connecting intersectionality and reflexivity. Methodological approaches to social positionalities. In: Erdkunde 68/4, 265-276.

Derickson, Kate D. (2015): Urban geography I: Locating urban theory in the ‘urban age’. In: Progress in Human Geography 39/5, 647-657.

Elden, Stuart (2004): Understanding Henri Lefebvre – Theory and the Possible. London/New York: Continuum.

England, Kim V. L. (1994): Getting personal: Reflexivity, positionality, and feminist research. In: The Professional Geographer 46/1, 80-89.

Fenster, Tovi (2006): The right to the city and gendered everyday life. In: Journal for Land, Planning and Justice 1, 40-50.

Gebhardt, Dirk / Holm, Andrej (2011): Initiativen für ein Recht auf Stadt. In: Andrej Holm / Dirk Gebhardt (Hg.), Initiativen für ein Recht auf Stadt – Theorie und Praxis städtischer Aneignungen. Hamburg: VSA, 7-23.

Harvey, David (2008): The right to the city. In: New Left Review 53, 23-40.

Haubold, Dorothea (1997): Nachhaltige Stadtentwicklung und urbaner öffentlicher Raum. Oldenburg: bis.

Jacobs, Jane (1963): Tod und Leben großer amerikanischer Städte. Gütersloh, Berlin: Bertelsmann.

LaRAGE, Gruppe Raum und Gender (2011): Raumaneignungen feministisch gedacht. In: Affront (Hg.), Darum Feminismus! Diskussionen und Praxen. Münster: Unrast.

Lefebvre, Henri (1970): Le manifeste différentialiste. Paris: Gallimard.

Lefebvre, Henri (1991) [1974]: The Production of Space. Malden/Oxford/Victoria: Blackwell.

Lefebvre, Henri (2008) [1981]: Critique of Everyday Life, Vol. 3 – From Modernity to Modernism (Towards a Metaphilosophy of Daily Life). London/New York: Verso.

Lefebvre, Henri (2016) [1968]: Das Recht auf Stadt. Hamburg: Edition Nautilus.

Mitscherlich, Alexander (1965): Die Unwirtlichkeit unserer Städte – Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Mullis, Daniel (2014): Recht auf die Stadt – Von Selbstverwaltung und radikaler Demokratie. Münster: Unrast.

Peake, Linda (2016): The twenty-first-century quest for feminism and the global urban. In: International Journal of Urban and Regional Research 40/1, 219-227.

Pierce, Joseph / Williams, Olivia R. / Martin, Deborah G. (2016): Rights in places: An analytical extension of the right to the city. In: Geoforum 70/1, 79-88.

Purcell, Mark (2002): The right to the city and its urban politics of the inhabitant. In: GeoJournal 58/2-3, 99-108.

Ronneberger, Klaus / Vogelpohl, Anne (2014): Henri Lefebvre: Die Produktion des Raumes und die Urbanisierung der Gesellschaft. In: Jürgen Oßenbrügge / Anne Vogelpohl (Hg.), Theorien in der Raum- und Stadtforschung – Einführungen. Münster: Westfälisches Dampfboot, 251-270.

Salin, Edgar (1960): Urbanität. In: Deutscher Städtetag (Hg.), Erneuerung unserer Städte – Referate, Aussprachen und Ergebnisse der Augsburger Hauptversammlung des Deutschen Städtetags 1960. Köln: Kohlhammer, 9-34.

Salin, Edgar (1970): Von der Urbanität zur „Urbanistik“. In: Kyklos 23/4, 869-881.

Schmid, Christian (2005): Stadt, Raum und Gesellschaft – Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes. Stuttgart: Steiner.

Schubert, Dirk (2014): Jane Jacobs und die Zukunft der Stadt. Diskurse – Perspektiven – Paradigmenwechsel. Stuttgart: Steiner.

Schuster, Nina (2016): Neue Horizonte feministischer Wissensproduktion. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 4/2/3, 191-202.

Sugranyes, Ana / Mathivet, Charlotte (Hg.) (2010): Cities for All – Proposals and Experiences towards the Right to the City. Santiago de Chile: Habitat International Coalition.

Vogelpohl, Anne (2015): Die Begriffe Stadt und Urbanisierung bei Henri Lefebvre. Eine Inspiration für Recht auf Stadt-Bewegungen heute. In: dérive. Zeitschrift für Stadtforschung 60, 4-8.

Vrenegor, Nicole (2014): Die Stadt von den Rändern gedacht. Drei Jahre Recht-auf-Stadt-Bewegung in Hamburg – ein Zwischenstopp. In: Norbert Gestring / Renate Ruhne / Jan Wehrheim (Hg.), Stadt und soziale Bewegungen. Wiesbaden: Springer VS, 99-109.

Wilhelm, Karin / Gust, Kerstin (Hg.) (2013): Neue Städte für einen neuen Staat – Die städtebauliche Erfindung des modernen Israel und der Wiederaufbau in der BRD. Eine Annäherung. Bielefeld: transcript.

Winker, Gabriele / Degele, Nina (2009): Intersektionalität – Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld: transcript.