1968 und die Kritik der Kritik der Stadt: Anschlüsse und Verwerfungen

Eine Replik

Johanna Hoerning

Wie kann heute an die rund um 1968 geäußerte Kritik der Stadt angeschlossen werden? Gibt es überhaupt gute Gründe, die für solche Anschlüsse sprechen bzw. was muss verworfen werden? Und sind diese Anschlüsse und Verwerfungen eher theoretischer oder praktischer Art? Die in dieser s u b \ u r b a n-Debatte vereinten Beiträge, die sowohl in Bezug auf konkrete Architektur und Städtebau als auch auf theoretische Perspektiven auf Stadt die historische Kritik der 1960er und 1970er Jahre aufgreifen, suggerieren zu diesen Fragen durchaus unterschiedliche Antworten. Sie zeigen einerseits, dass die historische Aufarbeitung der 1960er und 1970er Jahre in Bezug auf die Kritik der Stadt noch Lücken hat – was insbesondere deutlich wird an häufig recht pauschalen positiven Bedeutungsbekundungen der ‚68er‘ für eine kritische Auseinandersetzung mit den Wohn-, Arbeits- und Lebensverhältnissen in Städten. Das lässt sich für Debatten zu Partizipation ebenso wie zu modernem Siedlungsbau, innerstädtischen Altbauten, gemeinschaftlichen Wohnprojekten oder zu städtischen Protestbewegungen zeigen. Die Beiträge in diesem Heft zeigen andererseits Parallelen in konflikthaften Dynamiken auf, die für heute hinweisgebend sein können – etwa im Hinblick auf die Differenz zwischen lokalem, sozialem und gesellschaftspolitischem Engagement oder auf die Frage nach schicht- und klassenübergreifender Mobilisierung angesichts sich verschärfender Bedingungen am Wohnungsmarkt. Die Beiträge zeigen aber auch, in welch fundamentaler Weise unser Denken über Städte heute geprägt ist von den kritischen sozialpsychologischen und architekturtheoretischen, feministischen und marxistischen Auseinandersetzungen dieser Zeit – eine Prägung, die sowohl als gewinnbringend wie auch als Ballast begriffen werden kann.

Aufarbeitungslücken

Die Beiträge von Nina Gribat, Maren Harnack, Sebastian Haumann, Felicita Reuschling und Lisa Vollmer zeigen anschaulich an unterschiedlich gelagerten Beispielen, dass der Beitrag der kritischen 1968er-Debatten zu städtischen Problemlagen und Lösungsansätzen eher überbewertet wird. Eine maßgebliche Lücke scheint sich dabei zu ergeben, wenn man die sowohl theoretisch wie auch praktisch-politisch geäußerte Kritik mit etablierten, bürgerlich-liberalen Perspektiven der Zeit ins Verhältnis setzt, aber auch wenn man sie einbettet in die historischen Entwicklungen seither. Die bereits in den 1970er Jahren thematisierte Doppellogik von Partizipation spiegelt so gesehen eben nicht nur den Wert der „Selbstbestimmung“ im Sinne einer linken Ermächtigungspolitik wider, sondern ist eher als Ausdruck eines allgemeinen Wertewandels zu verstehen (vgl. Haumann 2018, in diesem Heft). Es kann sicher als Allgemeinplatz gelten, dass ein umfassender Wertewandel (und der für die Planung thematisierte Paradigmenwechsel) sich weder plötzlich, noch auf der Grundlage einzelner Akteure bzw. Initiativen ergibt. Aber aus diesem Blickwinkel heraus erscheint Selbstbestimmung eben nicht als „Auftakt zum Klassenkampf“ (ebd.: 192), sondern weist auf generell liberale Tendenzen hin, die sich nicht nahtlos in eine linksalternative Erzählung einfügen. Es ist dann folgerichtig, die im Zuge der 1968er vorgebrachten Forderungen eher als „Katalysator“ denn als ursächlich für „gesellschaftliche[ ] Veränderungsprozesse im Bereich der Stadtplanung“ (ebd.: 194) zu sehen – und die „Konfrontation zwischen ‚68ern‘ und dem ‚Establishment‘“ (ebd.: 189) als überbewertet zu interpretieren.

Andererseits weist Lisa Vollmer in ihrem Beitrag (2018, in diesem Heft) darauf hin, dass diese Konfrontation im Kontext von Mieterinnenprotesten durchaus gegeben war – und dass sie so lange wirkmächtig war (z. B. im Fall der Verhinderung einer Aufhebung der Mietobergrenze in Teilen Westberlins), wie die Proteste von einer Allianz aus migrantischen und armen Mieter_innen, sowie Studierenden und ‚freiheitsliebenden Nonkonformist_innen‘ der Mittelschicht getragen wurden.

Die Beiträge von Nina Gribat und Maren Harnack dagegen zeigen, wie umstritten die Aufarbeitung des modernen (funktionellen) Siedlungsbaus bzw. der Kritik daran bis heute ist. Beide Autorinnen suchen in gewisser Weise nach einer Versöhnung zwischen der (politischen und theoretischen) Kritik, der Alltagspraxis der Bewohner_innen und der Architektur selbst. Die sozialpsychologische Position von Heide Berndt, Alfred Lorenzer und Klaus Horn (bzw. auch Alexander Mitscherlich) wird hier etwa als Missverständnis gegenüber dem funktionellen Städtebau betrachtet. Denn, so Gribat (2018, in diesem Heft), wo Berndt, Lorenzer und Horn (1968) ein verfehltes Bewusstsein der Architektur in der Repräsentation gesellschaftlicher Verhältnisse bzw. Bedürfnisse [sic!] interpretieren, sei es doch die ‚Idee‘ des funktionellen Städtebaus gewesen, gerade keine spezifische Gesellschaft mehr zum Ausdruck zu bringen, sondern rein technisch-funktionalen Erfordernissen zu entsprechen, ohne sich einer repräsentationalen Formensprache zu bedienen. Mir scheint hier beides nicht ganz zutreffend in der Beschreibung: Auf der einen Seite kann der funktionelle Städtebau nicht als Nicht-Ideologie verstanden werden, oder gar als losgelöst von seinen spezifischen historischen Verhältnissen, sondern nur als Ausdruck derselben. Das wird zwar von Berndt et al. klar thematisiert, aber die dialektische Wendung dieses Ausdrucks wird nicht vollzogen, was Gribat wiederum völlig zurecht kritisiert. Dialektisch formuliert handelt es sich um einen Ausdruck, der die Verhältnisse wiedergibt und ihnen doch nicht entspricht und eben auf diese Weise verändernd, gestaltend wirkt. Auf der anderen Seite ist auch die Vorstellung einer Architektur, die ‚einfach‘ die Bedürfnisse der Menschen zum Ausdruck bringen könne, ideologisch. Zumindest kann sie verdächtigt werden, in einem ‚falschen‘ Verhältnis zu den Bedürfnissen zu stehen.[1]

Im Prinzip sagen Berndt et al., dass der Funktionalismus aus sozialpsychologischer Sicht als Ausdruck einer Gesellschaft gelesen werden müsse, welche die Partialtriebe unterdrücke und ein technizistisch-eindimensionales Verhältnis der Menschen zu ihrer Umwelt aufbaue, was die „libidinöse Energie“ (Berndt 1968: 41) der Individuen nicht zur Entfaltung bringe. Bei aller normativ aufgeladenen Sprache, die streckenweise zu suggerieren scheint, dass tatsächlich so etwas wie eine ‚gute‘ Architektur existieren könnte, ist diese Analyseperspektive als Thesengeberin für eine kritische Auseinandersetzung mit den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen (vermittelt über die städtebaulichen Dimensionen) der Zeit doch zu würdigen. Denn es geht dabei ja auch nicht unmittelbar um die Schaffung „besserer gesellschaftlicher Verhältnisse durch die Planung“ (Gribat 2018: 185), sondern um die Frage nach einem ‚guten‘ Verhältnis zwischen den Subjekten und ihrer städtebaulichen Umwelt, welches gleichwohl immer nur als Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse gelesen werden kann.

Die selbst unter Zeitgenossen gespaltene Sichtweise wird bestens in der Gegenüberstellung Gribats mit der marxistischen Kritik Peter Neitzkes (1971) deutlich. Denn Neitzke spricht Architektur und Städtebau jedes gestalterische Potential im Sinne einer Veränderung der Verhältnisse ab; stattdessen wird Architektur als Möglichkeit analysiert, „die kapitalistischen Widersprüche erträglicher zu machen“ (Gribat 2018: 185). Die Skepsis gegenüber einer ‚gestalterischen Wirkmächtigkeit‘ von Architektur ist wohlbegründet; revolutionär im eigentlichen Sinne kann, wie Neitzke betont, nur die Organisation und Praxis der Subjekte sein. Gleichwohl ist die theoretische Auseinandersetzung mit Raum seit Lefebvre (zu den Anschlüssen im Denken dazu im dritten Teil dieser Replik) so geprägt, die Produktion von Raum als einen dialektischen Vermittlungsprozess zu verstehen, der sehr wohl Spielraum für politische Praktiken nicht nur lässt, sondern eröffnet: Dann sind die Städte zwar auch „das Resultat ihrer Kämpfe“ (Neitzke 1971: 165), aber gleichzeitig die Folie, die Projektion und der Gegenstand der Kämpfe selbst. Vor diesem (theoretischen) Hintergrund ist Gribats Skepsis gegenüber der Kritik am Funktionalismus absolut nachvollziehbar, wenn sie einzig vor dem Argument geltend gemacht wird, dass die Architektur ‚mangelnde Identifikationsfähigkeit‘ biete, denn schließlich ist das Identifikationspotenzial nicht primär durch die materielle Gestalt gegeben, sondern in den Zusammenhängen zwischen sozialen, politischen, ökonomischen und symbolischen Verhältnissen begründet, innerhalb derer die architektonischen Gestaltungen stehen.

Harnack (2018, in diesem Heft) betont in diesem Zusammenhang, dass entgegen geläufiger Annahmen (etwa bei Hoffmann-Axthelm 2009) die Bewohner_innen moderner Großsiedlungen diese durchaus als „Heimat“ empfänden und ein „emotionales Verhältnis“ dazu pflegten. Dass grundsätzlich zu jeder baulichen Umwelt ein emotionales Verhältnis gepflegt werden kann – vgl. die Ausführungen von Heide Berndt (1968) zu Studien aus den USA, in denen insbesondere für Unterschichtwohnen emotionale Bindungen an die Umwelt festgestellt werden konnten –, heißt allerdings erstens nichts in Bezug auf die bauliche Gestaltung selbst und zweitens nicht, dass andere Wohnformen nicht trotzdem präferiert werden könnten. Durch Felicita Reuschlings Beitrag werden hier auch Brüche in der Interpretation deutlich: Sie zeigt an Steilshoop, dass der Siedlungsbau von den Bewohner_innen als „nicht gemeinschaftstauglich beschrieben [wurde]. Dazu gehören die hohe Geschosszahl ohne eigene Balkone, eine lineare Gebäudeform, die als ‚hässliche‘ Platte ohne nutzbare Grünanlagen empfunden wurde, was keine positive emotionale Bindung zum Wohnort entstehen ließ […].“ (Reuschling 2018: 163, in diesem Heft) Hier werden wieder die „stark divergierende[n] Problemdiagnosen und Lösungsansätze“ (Gribat 2018: 181) offenbar, welche die Auseinandersetzung mit dem modernen Siedlungsbau der Nachkriegszeit bis heute prägen.

Auf eine grundsätzliche Lücke in der Auseinandersetzung weist Harnack mit ihrer These hin, dass nämlich die „Wiederentdeckung des Altbaubestandes“ und die Kritik am modernen Wohnungs- und Siedlungsbau zwei Seiten derselben Medaille seien (Harnack 2018). Harnacks zentrales Argument ist, dass die Aufwertung der Altbauten und Abwertung der modernen Großsiedlungsbauten sowohl von Linken (im Zusammenhang mit alternativen Lebenspraktiken etc.) als auch von Konservativen („Siedlungen der Nachkriegsmoderne als Orte der Devianz und als Gefahr für die öffentliche Ordnung“, ebd.: 176) betrieben wurde. Die Relation zwischen Arbeiterwohnen und bürgerlichem Wohnen, zwischen Ab- und Aufwertung und die dazugehörigen Markt- und Preisdynamiken in den Blick zu nehmen, ist sicher zentral. Auch für die heutige Auseinandersetzung mit der Renaissance der Altbauten und deren Verklärung ist es sicher richtig, diese ins Verhältnis zur Kritik am modernen Siedlungsbau der Nachkriegszeit zu setzen und mit der Kritik am Familienmodell des Fordismus in Verbindung zu bringen. Zwei Aspekte scheinen mir hier aber noch nähere Betrachtung verdient zu haben: Zum einen teilen gründerzeitliche Blockrandbebauung und nachkriegszeitliche Großsiedlungen immerhin miteinander, dass sie unter den jeweils technisch gegebenen Möglichkeiten versuchen, den gegebenen Platz möglichst gewinnmaximierend zu bebauen – und zwar mehr oder weniger ausschließlich entlang der Kapitalverwertungsmaxime und eben nicht entlang einer möglichst idealen Gestaltung des Wohnumfelds, wie etwa die Arbeitersiedlungen der 1920er oder die Einfamilien- und Doppelhaushälftensiedlungen der Aufschwungjahre. Zum anderen kann die Kritik am modernen Siedlungsbau schlecht losgelöst werden von der feministischen Kritik, die sich insbesondere in den 1970er Jahren formierte. Hier ist der Bezug zu den Einfamilienhausgebieten und den damit verbundenen Suburbanisierungsprozessen im Kontext eines ‚Male-breadwinner‘-Modells ganz zentral. Insbesondere die Kritik, die von der Gruppe „Frauen, Steine, Erde“ in den 1970er Jahren formuliert und in der Feministischen Organisation von Planerinnen und Architektinnen (FOPA) weiterentwickelt wurde, ist hierfür wegweisend gewesen, denn durch sie wurden weitreichende Analysen angestrebt, die sich eben nicht nur auf den modernen Großsiedlungsbau bezogen (vgl. Rodenstein 2005).

Dieser Blick auf die Kritik der 1960er und 1970er Jahre lässt sich noch um die Wohnutopien, wie sie im Beitrag von Reuschling dargelegt werden, erweitern. Zusammengenommen mit der Kritik Harnacks an der (ungleichgewichtigen) Aufwertung von innerstädtischen Altbaubeständen ‚der 1968er‘ entsteht mit den Leitmotiven der Wohnutopien bei Reuschling (vor allem Bewegung, Veränderung, Mobilität, aber auch Autonomie und Kreativität und die Auflösung der Trennung von Wohnen und Arbeiten) das Bild einer Tendenz, an deren Ende nicht die Stadt für alle, sondern die Stadt der Bohemiens und Bürgerlichen (im heutigen Jargon: der Kreativen und Gentrifier_innen) steht. So genommen wäre zumindest der Effekt der 1968er Kritik auf den Städtebau ein reaktionärer. Diese Interpretation kann so sicher nicht geltend gemacht werden; im Rahmen einer historischen Vergleichsperspektive ist die Frage aber durchaus interessant.

Parallelen zu heute

Im Anschluss an die obigen Ausführungen müsste nun das Fazit lauten: Die Debatten der 1960er und 70er Jahre können weder aus den historischen Bezügen etwa zu den 1920er Jahren, noch aus denen zu den jüngeren Entwicklungen bis heute herausgelöst werden. Stattdessen müsste der historische Bezug verstärkt herausgearbeitet werden. Denn wenn die „Kausalitäten […] manchmal vertauscht [werden], und oft […] der Eindruck [entsteht], dass die Siedlungen massive Probleme verursachen“ (Harnack 2018: 177, Hervorhebung JH), dann wäre es beispielsweise interessant, die rasche Abwertung der Großsiedlungen mit der raschen Aufwertung der Siedlungen der 1920er Jahre, etwa der Römerstadt in Frankfurt am Main oder der Hufeisensiedlung in Berlin, zu vergleichen. Gleichermaßen dürfte es spannend sein, die Perspektive der Selbstorganisation mit heutigen Ansätzen in Verbindung zu bringen. Reuschling (2018: 169) zeigt, dass „selbstorganisierte Projekte“ (hier: im Siedlungsbau, in Kommunen, in Jugendwohnprojekten und Kinderläden) weitgehend „Ausnahmen oder Übergangsmodelle“ geblieben sind. Gleichzeitig wird die „Demokratisierung als Selbstverwaltung“ von der Autorin als spezifische Differenz zwischen den Wohnutopien der 1960er und denen der 1920er ausgemacht, wodurch hohe Anforderungen an „Überzeugung, […] Engagement und […] kommunikative[] Kompetenzen“ (ebd.: 170) entstünden. Wie sind dann vor diesem Hintergrund die heute grassierenden ‚Baugruppen‘ zu verstehen – sie scheinen fast als (kapitalisierte) Zwischenform zwischen einer professionalisierten oder institutionalisierten und einer basisdemokratischen Selbstorganisation zu stehen.

Die Entstehungsgeschichte der partizipativen Stadtplanung ist informativ nicht nur vor dem Hintergrund, dass auch heute wieder Kritik an kapitalinteressengeleiteter Stadtentwicklung aus ansonsten unterschiedlichen politischen Lagern (vgl. Haumann 2018) geübt wird. Die Frage, was grundsätzlich mit Partizipation in diesem Kontext zu leisten ist, verbleibt auch heute in der Spannung zwischen Herrschaftsinstrument einerseits und Mittel zum Abbau von Herrschaft andererseits (vgl. Battis 1976, so zit. in Haumann 2018). Die Entstehungsgeschichte und die Institutionalisierung von Partizipation in der Stadtentwicklung kann in historischen und internationalen Vergleichen auch über den euro-amerikanischen Rahmen hinaus (z. B. mit den langjährigen Erfahrungen in Brasilien) besser verstanden werden. Möglicherweise als Instrument, das zwar eine Demokratisierung herbeiführt, aber gerade als demokratische Institution Konflikte zwar zulässt bzw. austragen lässt, aber Veränderungen nur im Rahmen von (Minimal-)Konsens herbeiführt. Radikale Gegenentwürfe sind damit dann nicht zu haben – in keine politische Richtung.

Aber genau hierin liegt auch eine offene Frage, die wir diesen kritischen Debatten entnehmen können: Die nach dem Verhältnis zwischen grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen und den Impulsen, soziale, aber lokal begrenzte Verbesserungen umzusetzen. Alle Beispiele von Gribat, Harnack, Haumann, Reuschling und Vollmer zeigen die gespaltenen Positionen, sich einerseits gegen „allgemeine Unterdrückung“ (Gribat 2018: 181) zu wenden und den „Stadtteil anstelle der Fabrik zum Ort des Klassenkampfes“ (Haumann 2018: 191) zu machen, und andererseits konkrete Lebensbedingungen vor Ort in räumlich begrenzten Projekten umzusetzen. Die Entwicklung der Mieterinnenproteste, wie sie von Vollmer gezeigt wird, ist hierfür instruktiv:

„Die Mieter_innenbewegung nahm einen ähnlichen Verlauf wie die 68er-Bewegung insgesamt: Dadurch, dass die vormals umfassende, sozioökonomisch ausgerichtete Demokratisierungsbewegung ihre Verbindung zur Arbeiter_innenklasse verlor, wurde sie einhegbar ins aufstrebende neoliberale Projekt.“ (Vollmer 2018: 146f.)

Die Auflösung der „klassenbezogenen Organisierung“ in eine rein „lokal-identitätsbezogene Organisierung“ (ebd.) ist also einerseits aus sich selbst heraus zu verstehen: Durch die Auflösung der gruppenübergreifenden politischen Praxis durch Institutionalisierung und Einbettung ihrer Ansätze und Akteure in Teilen, und durch die Vereinzelung der Projekte selbst, die dann „Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und alternative Lebensweisen“ (ebd.) statt Umverteilung einforderten. Andererseits wird vor diesem Hintergrund auch verständlich, dass heutige Entwicklungen selbst bei gewissen Parallelen nicht anstandslos auf die Kritik der 1968er zurückgeführt werden können, sondern nur im Rahmen ihrer neoliberalen Vereinnahmung.

Geprägtes Denken

Maren Harnack bemerkt, dass in der Gegenüberstellung von Stadterneuerungsprojekten und historischer Bausubstanz „immer auch wirkmächtige Bilder erzeugt wurden. Diese spiegeln weniger eine historische Wahrheit wider als die zum jeweiligen Zeitpunkt vorherrschenden Idealvorstellungen von Stadt, Urbanität und dem schönen Leben.“ (Harnack 2018: 177, Hervorhebung im Orig.). Obwohl sozialpsychologische Perspektiven im heutigen Diskurs über Städte weitgehend unberücksichtigt bleiben, hat eine verkürzte Interpretation dieser Kritik doch eine weite Verbreitung erfahren. Die Idealisierung bestimmter (historischer, aber historisch verfälschter) Aspekte von ‚Urbanität‘ haben sich etwa in den Rekonstruktionsdebatten seit den 2000ern niedergeschlagen. Auch der „zu Beginn der 1970er Jahre erreichte Konsens trug, auch wenn er sich als Minimalkonsens entpuppte, noch bis in die 1990er Jahre stadtplanerische Strategien, die auf Partizipation setzten.“ (Haumann 2018: 194) Aber neben diesen verkürzten und minimalisierten Versionen, die sich insbesondere in der politisch-planerischen Praxis zeigen, konnten doch die marxistischen und feministischen Perspektiven auf Stadt und Raum maßgeblich weiterentwickelt werden, und das nicht nur im Kontext kritischer Stadttheorie.

Wie Anne Vogelpohl in ihrer Diskussion von Lefebvres Raumtheorie und Recht-auf-Stadt-Ansatz einerseits und feministischer Wissenschaft andererseits zeigt, ist diese Verknüpfung heute relevant in theoretischer Hinsicht ebenso wie in der konkreten politischen Praxis. Versteht man „Raum als Prozess, der zwar auch hierarchisch, patriarchal und kapitalistisch organisiert werden kann, der aber prinzipiell veränderbar ist“ (Vogelpohl 2018: 153, in diesem Heft), so lassen sich die kritischen Perspektiven auf den Städtebau der 1960er und 70er Jahre auch in ihrer Ambivalenz nachvollziehen. Und indem nicht städtische Heterogenität und Mischung, Mobilität und Gemeinschaft (aber auch nicht Individualität) zum Dreh- und Angelpunkt einer normativen Analyse gemacht werden, sondern Differenz und Alltag, Bewegung und Kollektivität, wird auch der Ermöglichungscharakter städtischer Lebensverhältnisse wieder sichtbar. Dieser normative Fluchtpunkt muss nicht in eine unreflektierte Verallgemeinerung dessen münden, was ‚urban‘ ist. Vielmehr leitet Vogelpohl daraus Fragen ab, die die Forschung anleiten können: nach den Bedingungen der eigenen Position (Positionalität) und deren Reflexion, nach Intersektionalität und den Möglichkeiten, die ungleichen Differenzen nicht nur zu benennen, sondern auch deren Effekte zu kritisieren und konkrete Alternativen zu entwickeln. Letztlich steckt im ‚Recht auf Stadt‘ eben der Doppelcharakter der Kritik zwischen konkreter Aneignung und Nutzung einerseits und einem allgemeinen „Recht auf Differenz […] als ein[em] Recht auf eine Gesellschaft, in der Unterschiedlichkeit und Teilhabe ermöglicht und gelebt wird“ (ebd.) andererseits. Vielleicht gelingt deren Zusammenführung in den heutigen „Recht-auf-Stadt“-Initiativen und Mieterinnenprotesten entlang gebotener Allianzen gemäß einem „gemeinsam statt einsam“ (Vollmer 2018: 146)?

Endnoten

Autor_innen

Johanna Hoerning ist Soziologin und arbeitet zu stadt- und raumtheoretischen Fragen, auch im Kontext von Postkolonialität und sozialen Bewegungen.

johanna.hoerning@tu-berlin.de

Literatur

Berndt, Heide (1968): Ist der Funktionalismus eine funktionale Architektur? Soziologische Betrachtung einer architektonischen Kategorie. In: Heide Berndt / Alfred Lorentzer / Klaus Horn (Hg.), Architektur als Ideologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 9-50.

Berndt, Heide / Lorenzer, Alfred / Horn, Klaus (Hg.) (1968): Architektur als Ideologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Gribat, Nina (2018): Grabenkämpfe um die Kritik am funktionellen Städtebau um 1968: Sozialpsychologische Reformisten und marxistische Revoluzzer. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 2018/2-3, 181-188.

Harnack, Maren (2018): In die Zange genommen. Kritik am Wohnungsbau um 1968. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 2018/2-3, 173-180.

Haumann, Sebastian (2018): Partizipation als Konsens. Die „68er“-Bewegung und der Paradigmenwechsel in der Stadtplanung. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 2018/2-3, 189-196.

Neitzke, Peter (1971): Die Agenten der Kulturkritik isolieren! Anweisung zum richtigen Verständnis von Schriften, die nur Verwirrung stiften. In: Hans G. Helms / Jörn Janssen (Hg.), Kapitalistischer Städtebau. Neuwied; Berlin: Sammlung Luchterhand, 163-176.

Reuschling, Felicita (2018): Soziale Wohnutopien 68: Everything must change. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 2018/2-3, 159-172.

Rodenstein, Marianne (2005): Gruppe „Frauen, Steine, Erde“: Frauen-Räume-Architektur-Umwelt. In: Martina Löw / Bettina Mathes (Hg.), Schlüsselwerke der Geschlechterforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 135-147.

Vogelpohl, Anne (2018): Henri Lefebvres „Recht auf Stadt“ feministisch denken – Eine stadttheoretische Querverbindung von 1968 bis heute. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 2018/2-3, 149-158.

Vollmer, Lisa (2018): Mieter_innenproteste von den 1960er bis in die 1980er Jahre in der BRD. Von der Klassenallianz zur Aufspaltung und Einhegung ins neoliberale Projekt. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 2018/2-3, 137-148.