Let’s talk about …? Warum und wie wir mit Rechten reden müssen!

Kommentar zu Robert Feustels „Substanz und Supplement. Mit Rechten reden, zu Rechten forschen?“

Annekatrin Kühn, Katrin Lehn

Doch Forschung strebt und ringt, ermüdend nie,
Nach dem Gesetz, dem Grund, Warum und Wie.

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

Das (erneute) Aufstreben rechtspopulistischer Parteien sollte uns dazu veranlassen zu fragen, was die Ursachen dieser Strömungen sind und was die Wähler_innen dazu bewegt, sich diesen anzuschließen. Sozialwissenschaften, im Speziellen die Soziologie, befassen sich mit gesellschaftlichem Zusammenleben im weitesten Sinne. Unser Interesse als Soziolog_innen ist es zu versuchen die Gesellschaft zu beschreiben, zu analysieren und Erkenntnisse darüber zu gewinnen, warum sich gesellschaftliche Strukturen und soziale Gruppen in bestimmte Richtungen entwickeln. Dazu gehören auch Phänomene wie die neue Erstarkung der Rechten. Daher gilt unser Plädoyer einem ganz klaren Ja zur Forschung zu ‚den Rechten‘. Dennoch muss beachtet werden, dass diese extremen Untersuchungsfelder gewisse Herausforderungen an uns stellen, die wir von Beginn an berücksichtigen und diskutieren müssen. Nur, wie soll dies geschehen und wie können sich kritische Sozialwissenschaftler_innen angesichts der herausfordernden und kontrafaktischen Parolen der Rechten verhalten? Feustel (in diesem Heft) vermutet in der empirischen Forschung zu Rechten erkenntnistheoretische, forschungsethische und methodische Schwierigkeiten und Hindernisse. Wir werden in unserem Beitrag entgegnen, dass er dabei die Möglichkeiten der qualitativen Sozialforschung unterschätzt.

Sind neue Erkenntnisse zu Rechten möglich?

Erkenntnistheoretische Schwierigkeiten identifiziert Feustel in der Herausforderung, neues Wissen über die politischen Einstellungen der Rechten zu erhalten, welches über den bisherigen Wissensstand hinausgeht. Da politische Einstellungen tief verankerte und langfristige Strukturen darstellen, sei eine Erforschung dieser nur psychologisch möglich. Zusätzlich sei es meist unmöglich, im Rahmen von Interviews eine geteilte Wissensordnung herzustellen, da alternative Fakten dominieren, was die inhaltliche Verwertbarkeit der Gespräche verringern würde.

Da sich gesellschaftliche Strukturen stetig verändern und neu konstituieren, müssen die Ursachen und Wirkungsmechanismen der daraus resultierenden Handlungs- und Verhaltensweisen entsprechend hinterfragt und eingeordnet werden. So werden auch neue Fragen bezüglich rechtspopulistischer und rechtsextremistischer Bewegungen aufgeworfen. Dank zahlreicher Forschungen wissen wir bereits einiges über rechte Strukturen in Deutschland. Vor allem die in den 1990er Jahren als Jugendphänomen wahrgenommene Bewegung, welche sich nach dem Mauerfall in Ostdeutschland gebildet hatte, fand viel Aufmerksamkeit. Die engen Zusammenhänge zwischen dem Systemzusammenbruch und der Neuorientierung in konträren Systemstrukturen bilden nur ein Teil der diesbezüglichen Forschungserkenntnisse ab. Die heutigen rechten Szenen sind jedoch nur bedingt mit den Rechten der 80er und 90er Jahre zu vergleichen; es sind neue Phänomene hinzugekommen, die noch unerforscht sind: Warum wählen heute Personen mit Zuwanderungshistorie die AfD? Greifen hier ähnliche Mechanismen wie vor 30 Jahren? Die Forschung muss sich dem kulturellen und sozialen Wandel anpassen und ihm nachgehen.

Welche Erkenntnisse wir generieren können, hängt dabei maßgeblich mit der Wahl der Methoden zusammen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit heterogenen Gruppierungen, die schnell unter dem Begriff ‚die Rechten‘ zusammengefasst werden, bringt unseres Erachtens einen Erkenntnisgewinn, wenn wir den Fokus weg von Meinungsumfragen hin zu den Sinnstrukturen lenken, die wir in den Äußerungen finden. Wie kommt es beispielsweise dazu, dass eine Person, welche in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft mit einer Person mit Zuwanderungsgeschichte lebt, aktiv gegen Ausländer_innen, speziell Muslime_as, hetzt und Zuwanderung verhindern beziehungsweise stark reglementieren will? Welche Sinnstrukturen lassen sich bei einem Mann aus Dresden erkennen, der seit Wochen jeden Montag für Pegida demonstriert? Wie wird von ihm der Satz: „Wir sind das Volk“, der 1989 die Freiheit und Emanzipation vom Staat einforderte, instrumentalisiert und neu kontextualisiert? Hier muss die Forschung nicht der Psychologie überlassen werden. Die Sozialwissenschaften verfügen mit dem etablierten Forschungsstrang der qualitativen Datengewinnung und -auswertung über ein breites Methodenspektrum und somit über das geeignete Handwerkszeug.

Qualitative Sozialforschung setzt sich mit der sozialen Realität und den Prozessen, die sie erzeugen und hervorbringen, sowie ihren Funktionen auseinander (Schütze 2005: 214). Eine solche Forschungsarbeit bedeutet eine gezielte Auseinandersetzung mit dem Einzelfall und macht das Verstehen des Einzelfalls zum Kernanliegen, um fallübergreifende Merkmale und Mechanismen zu erkennen (vgl. ebd.: 215ff.). Sie zeichnet sich durch ihre Offenheit für die Erfahrungswelten der Forschungssubjekte während der Datenerhebung und -auswertung aus. Verstehen wird somit zur Kernkategorie der interpretativen oder rekonstruktiven Forschung. Verstehen bedeutet in diesem Sinne jedoch nicht, Verständnis für menschenverachtende Haltungen zu zeigen oder gar mit ihnen einverstanden zu sein. Verstehen meint in diesem Kontext ein methodisch kontrolliertes Fremdverstehen. Die Sinnhaftigkeit einer Aussage ergibt sich nicht direkt aus dem Gesagten, sondern aus den Bedeutungsinhalten, die mit ihm einhergehen (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 15). Wie wird jedoch Verstehen möglich?

Mit wem, wie sprechen?

Wir stimmen Feustel zu, dass die wenigsten (kritischen) Sozialwissenschaftler_innen ideologische und politische Überschneidungen mit dem Feld der Rechten haben. Somit bringt diese heterogene Personengruppe eine methodische Herausforderung mit sich, welche Forscher_innen jedoch in allen Untersuchungsfeldern haben, denen sie nicht besonders nahe stehen. Verstehen wird umso schwieriger und bedarf größerer Anstrengung, je weiter die Kommunikationspartner_innen biographisch und kulturell voneinander entfernt sind. Dies macht die Erforschung mühsamer, ermöglicht aber auch die Chance, dass die nicht intuitiv geteilten Wissensbestände expliziter zu Tage treten und reflektiert werden können (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 16). Die Gruppierung der Rechten ist jedoch so heterogen, dass es auch hier Personen geben wird, die eine größere Nähe zum_zur Forscher_in aufweisen. Diese größere soziale Nähe birgt wiederum die Schwierigkeit, dass durch den schnellen Rückgriff auf ein gemeinsames Bezugssystem Interpretationen in der Kommunikationssituation nicht mehr explizit werden. Der_die Forscher_in muss sich erst fremd machen, um diese interpretative Leistung methodisch kontrolliert zu vollziehen.

Fremdverstehen in der qualitativen Forschung wird möglich, indem der_die Forscher_in den Erforschten einen kommunikativen Raum eröffnet, in welchem diese in der eigenen Sprache Sachverhalte innerhalb des eigenen Relevanzsystems offenlegen können (vgl. ebd.: 16). Nur durch die Berücksichtigung des Kontextes der Aussagen können Sinnstrukturen und Deutungsmuster rekonstruiert werden. Als geeignete Methode bietet sich dafür das qualitative Interview an. Auch hier erkennt Feustel richtigerweise Schwierigkeiten in der Erhebung: Die Dominanz des Kontrafaktischen, wie er es bezeichnet, führe ein offenes Interview oberflächlich betrachtet ad absurdum, da den Rechten nur eine Plattform gegeben würde, Unwahrheiten zu äußern und sich selbst in einer Opferhaltung zu präsentieren. Hierbei verkennt Feustel jedoch die Möglichkeiten und das Ziel interpretativer Forschung: Das Erkenntnisinteresse gilt nicht direkt der jeweiligen subjektiven Äußerung, sondern ihren Bedeutungen und den über diese Äußerung zu Tage tretenden Sinnstrukturen und Deutungsmustern der Wirklichkeit (Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013: 17).

Als sehr geeignet, um subjektive Sichtweisen, Verhaltenserwartungen oder neue Sachverhalte aufzudecken, erweist sich insbesondere das narrative Interview (Schütze 1983, Rosenthal 1995). Es erlaubt, auf Grundlage der erlebten und erzählten Lebensgeschichte ein ganzheitliches Bild der Menschen zu zeichnen. Durch eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Methoden zur Rekonstruktion von Lebensgeschichten konnten sich diese in der soziologischen Forschung etablieren (Rosenthal 1995: 12). Ein Zitat von Gabriele Rosenthal bringt die Bedeutung von Biographien für die Entwicklung und den Wandel der Gesellschaft auf den Punkt:

„Die Konzeption der Biographie als soziales Gebilde, das sowohl soziale Wirklichkeit als auch Erfahrungs- und Erlebniswelten der Subjekte konstituiert und das in dem dialektischen Verhältnis von lebensgeschichtlichen Erlebnissen und Erfahrungen und gesellschaftlich angebotenen Mustern sich ständig neu affirmiert und transformiert, bietet die Chance, den Antworten auf eine der Grundfragen der Soziologie, dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, näher zu kommen.“ (Rosenthal 1995: 12)

Biographische Quellen sind nicht mehr nur Informationsquellen, sondern können als soziales Konstrukt beziehungsweise als soziale Realität begriffen werden und sind folglich Gegenstand sozialwissenschaftlicher Analysen. Geleitet werden diese Analysen unter anderem von der Frage nach der Funktion der Biographie auf der lebensweltlichen Ebene des sozialen Handelns und im Gesamtgesellschaftlichen (ebd.). Gabriele Rosenthal hat in einigen, für die Biographieforschung fundamentalen, Untersuchungen die Tragweite erkenntnistheoretischer Forschung im Zusammenhang mit lebensweltlichen Verknüpfungen aufgezeigt. Sie hat sich mit vielen gesellschaftsrelevanten Themen beschäftigt, wie Narrationen von Shoa-Überlebenden sowie Forschungen zum Thema Zugehörigkeit im interkulturellen Kontext. In diesen Forschungsarbeiten gelingt es ihr, durch biographische Interviews Selbstreflexionen anzuregen. Darüber hinaus zeigt sie auf, wie die Forschenden dem erkenntnisgeleiteten Anspruch des Fremdverstehens näher kommen können.

Auch am konkreten Beispiel der Erforschung Rechter bietet es sich an, biographisch-narrative Interviews zu führen, in denen die Befragten aufgefordert werden, ihre Lebensgeschichte ganz offen oder bis zum jetzigen Zeitpunkt, mit Fokus auf beispielsweise den Eintritt in eine rechte Partei oder der regelmäßigen Teilnahme an Pegida-Demonstrationen, zu erzählen. So kann neues Wissen generiert werden, welches weit über die bloße Abfrage von politischen Meinungen und Haltungen hinausgeht. Von größter Bedeutung dabei ist, das Gegenüber nicht nur nach dem Warum zu fragen, sondern das Wie in den Mittelpunkt zu stellen. Über Fragen, die auf das Wie abzielen („Wie kam es dazu, dass Sie sich dieser Partei angeschlossen haben?“) wird das Gegenüber zu Erzählungen angeregt, die die Tür zu seinen Erfahrungswelten öffnen. Erzählungen ermöglichen es, die Ebene der Debatten und bloßen Meinungsäußerung zu verlassen, die in der Tat neue Erkenntnisse vermissen lassen. Methodische Schwierigkeiten erkennt Feustel auch in der Auswertung verbaler Daten und der daran geknüpften Reproduktion rechter Agitation. Hier möchten wir erwidern, dass es vielmehr einer entsprechenden Kontextualisierung des Gesagten und einer Rahmung der Situation bedarf. So treten xenophobe und homophobe Äußerungen in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, nicht nur bei Rechten, auf. Dieses Argument trägt also nicht gegen die Forschung zu Rechten.

Der Feldzugang: Mit wem können wir eigentlich sprechen?

Für uns stellt sich neben dem Ob und Wie vielmehr die Frage nach den Möglichkeiten, mit Rechten zu reden. Der Zugang zu extremen Gruppierungen oder Randgruppen stellt wegen deren starker Geschlossenheit eine besondere Herausforderung dar. Da sich politisch Extreme zum Teil am Rand der Illegalität bewegen, kann die Skepsis gegenüber Forscher_innen sehr groß sein. Zusätzlich muss damit gerechnet werden, dass Wissenschaft nicht bei allen Vertreter_innen der Rechten ein hohes Ansehen genießt beziehungsweise als ‚Lügenpresse‘ oder ‚Genderismus-Pseudo-Wissenschaft‘ abgestempelt wird. Wer einen Zugang sucht, wird mit großem Misstrauen und offener Ablehnung rechnen müssen. So sind jedoch auch hier Rechte mitnichten die einzige Personengruppe, deren Erforschung Zugangsprobleme mit sich bringt. Gewinnbringend ist es, den Feldzugang zu einer wichtigen Erkenntnisquelle werden zu lassen. Der Feldzugang, welcher die Strukturiertheit der Szene, ihre Handlungslogiken und gruppenspezifischen Deutungsmuster offenlegen kann, muss somit als ein eigenständiges Phänomen betrachtet werden, das es zu analysieren gilt (Wolff 2000: 339).

Aktivist_innen, welche durch ihr politisches Engagement Teil der Öffentlichkeit sind, können rasch identifiziert werden. Schwieriger wird es, weniger aktive und somit weniger sichtbare Rechte zu identifizieren. Die wenigsten Menschen lassen sich ihre politische Orientierung ansehen, daher scheint ein Zugang über vertraute Umgebungen (z. B. Vereine) oder bekannte Einzelpersonen am geeignetsten. Den Einstieg erleichtern somit häufig Kontakt- oder Vertrauenspersonen, welche in der Gruppierung akzeptiert sind. Als eine von uns (Annekatrin Kühn) beispielsweise in ihrer Doktorarbeit zu Personen mit befristeten Aufenthaltsstatus geforscht hat, stand sie vor einem ähnlichen Problem. Wie können Personen mit prekärem Aufenthaltsstatus erkannt und für Interviews gewonnen werden? Über einen guten Bekannten aus dem Bereich der sozialen Arbeit war es möglich, Kontakte zur untersuchten Personengruppe herstellen. Die gemeinsame Verbindung über eine Person, welche für beide Parteien (Forscherin und Beforschte_r) eine vertraute Basis darstellte, bot uns die Möglichkeit, in eine offene Begegnung und somit in einen gemeinsamen Austausch zu treten. War diese vertrauensstiftende Person nicht zwischengeschaltet, erwies sich der Kontaktaufbau als sehr schwierig und die Gesprächssituation war geprägt durch eine skeptische und zurückhaltende Atmosphäre. Auch in der Forschung zu Rechten werden die Forschenden auf solche Gatekeeper angewiesen sein, die sie in die unterschiedlichen Szenen einführen und Vertrauen herstellen können. Anders ist es bei öffentlichen Veranstaltungen wie Demonstrationen, welche die Teilnahme ohne Zugangsschwierigkeiten gewähren und möglicherweise auch Chancen zur Kontaktaufnahme bieten.

Die Rolle der Forschenden: Forschungsethische Fragen

Feustel gibt mehrfach zu bedenken, ob es im Kontext der eigenen politischen Haltung überhaupt möglich sei, sich auf Gespräche mit Rechten einzulassen. Diese Überlegungen spielen insofern eine Rolle, da sich der_die Forschende zu Beginn der Forschung mit den möglichen Gesprächsthemen beschäftigt und abwägt, ob er_sie bereit ist, Themen im rechtsextremen Kontext zu besprechen oder nicht. Denn selbstverständlich sollte sich jede_r Forscher_in selbst im Forschungskontext reflektieren und sich dabei bewusst machen, was von ihm_ihr selbst erwartet wird und was er_sie sich zumuten kann. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Kontext deswegen die persönliche Aufarbeitung, sprich eine Reflexion zur Frage: Wie gehe ich als Forscher_in mit den Inhalten der Interviews um? Lebensgeschichtliche Interviews können immer extreme Momente haben, die uns erschüttern, wütend machen, zum Lachen bringen oder hilflos machen. Aber um all diese Informationen und Emotionen zu erfahren, müssen wir uns als Forscher_innen zurücknehmen und Wege der persönlichen Aufarbeitung (z. B. Gespräche mit Familie, Freund_innen oder Kolleg_innen) finden. Dabei bilden Empathie und Offenheit die Grundvoraussetzung, um umfangreiche Narrationen zu erhalten. Häufig reicht auch nicht ein Gesprächstermin, sondern es sind mehrere Treffen notwendig, um zunächst eine Vertrauensbasis für offene Gespräche zu bilden. Außerdem können Themen, welche ad hoc nicht angesprochen wurden, nachträglich eingebracht werden.

Neben der Reflexion der eigenen Rolle im Forschungskontext halten wir es aus forschungsethischer Sicht für fragwürdig, bestimmte Gruppen aus der Forschung auszuschließen. Wissenschaftliche Forschungen sollen nicht der Reproduktion rechtsextremer Parolen und Ansichten dienen. Vielmehr können sie eine tiefgreifende Verstehensebene erreichen, welche es uns ermöglicht, die Handlungsmuster und -ursachen zu erforschen. Diese, eingebettet in sowohl vergangene als auch gegenwärtige gesellschaftliche Kontexte, erlauben uns das Verstehen komplexer Zusammenhänge und Wirkungsmechanismen. Denn es geht bei Interviews im sozialwissenschaftlichen Kontext nicht darum, das Gegenüber in seiner politischen Meinung zu ‚korrigieren‘, diese zu entkräften oder ihn gar zu ‚bekehren‘. Nein, wir möchten die (erzählte und erlebte) Lebensgeschichte erfassen und dazu gehören auch politische Meinungen. Es geht in der Forschung nicht darum, nur ‚einfache‘ Themen, die mit unseren persönlichen Interessen übereinstimmen, zu untersuchen. An diesem Punkt würden wir nur ‚Schönwetter-Forschung‘ betreiben und uns nicht mit der kompletten Themenwelt beschäftigen, die gegenwärtig unsere Gesellschaft bestimmt. Sicherlich bringen Themen, welche mit Abwertung, Schmerz, Hass oder Tragik einhergehen, besondere Herausforderungen mit sich, sowohl in der Gesprächssituation selbst als auch in der späteren Reflexion des Gehörten. Dennoch gilt es diese genauso zu erforschen wie viele andere Forschungsgegenstände.

Die Erforschung Rechter mit den Methoden qualitativer Sozialforschung benötigt die Offenheit für das (zu erforschende) Gegenüber, welche Feustel vermissen lässt. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass der_die Forscher_in mit dem Gesagten einverstanden sein muss. Zielführender ist es, im Forschungsprozess eine Haltung einzunehmen, die das Forschungssubjekt zur Sprache kommen lässt. Durch sozialwissenschaftliche (Grundlagen-)Forschung kann gesellschaftskritisches Denken angeregt und erfasst werden. Aus dieser Perspektive ist es laut Boltanski ratsam, die Akteur_innen, die Sozialkritik üben, und dazu gehören auch ‚die Rechten‘, zu Wort kommen zu lassen (Boltanski 2010). Nur sie selbst können erzählen, wie sie soziale Strukturen erleben, wie sie diese bewerten und wieso sie in dieser und keiner anderen Weise darauf reagieren. Die Sozialwissenschaften können sich auf die „Objektivität zweiter Ordnung“ (Bourdieu/Wacquant 1996) beziehen, das heißt auf die Perspektiven, Gefühle und Verhaltensweisen der Akteur_innen, und so zum Beispiel die von den Rechten geäußerte Kritik erforschen.

Gute qualitative Forschung zeichnet sich unserer Ansicht nach dadurch aus, dass sie sich auf den Kontext, in dem der_die Befragte steht, einlässt und die Datenerhebung nicht als Diskussionsforum nutzt. Es soll also nicht um einen argumentativen Schlagabtausch über die politische Orientierung gehen. Sinn des Verstehens ist nicht das Korrigieren politischer Ansichten, sondern zu erfahren, wie diese entstanden sind und in welchem gesellschaftlichen Kontext sie sich erklären lassen.

 

Die Publikation dieses Beitrags wurde durch Mittel des Open-Access-Publikationsfonds der Technischen Universität Dortmund gefördert.

Autor_innen

Annekatrin Kühn ist Soziologin mit den Schwerpunkten Stadt- und Migrationssoziologie, kulturelle und rechtliche Diversität, qualitative Sozialforschung.

annekatrin.kuehn@tu-dortmund.de

 

Katrin Lehn ist Soziologin mit den Schwerpunkten Gesundheitssoziologie, sozialer Wandel und Lebensführung, Stadtsoziologie, qualitative Sozialforschung.

katrin.lehn@tu-dortmund.de

Literatur

Boltanski, Luc (2010): Soziologie und Sozialkritik. Berlin: Suhrkamp.

Bourdieu, Pierre / Wacquant, Loïc (1996): Reflexive Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Feustel, Robert (2019): Substanz und Supplement. Mit Rechten reden, zu Rechten forschen? In: s u b \ u r b a n. zeitschrift für kritische stadtforschung, 7/1-2, 137-145.

Kleemann, Frank / Krähnke, Uwe / Matuschek, Ingo (2013): Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung in die Praxis des Interpretierens. Wiesbaden: Springer VS.

Przyborski, Aglaja / Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. München: Oldenbourg.

Rosenthal, Gabriele (1995): Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag.

Schütze, Fritz (1983): Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis 13/3, 283-293.

Schütze, Fritz (2005): Eine sehr persönlich generalisierte Sicht auf qualitative Sozialforschung. In: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung 6/2, 211-248.

Wolff, Stephan (2000): Wege ins Feld und ihre Varianten. In: Uwe Flick / Ernst von Kardoff / Ines Steinke (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 334-349.