Forschungsprioritäten in Zeiten des Aufstiegs rechter Parteien

Kommentar zu Robert Feustels „Substanz und Supplement. Mit Rechten reden, zu Rechten forschen?“

Andreas Nölke

Der Aufstieg rechter Bewegungen und Parteien fordert nicht nur die Politik heraus, sondern auch die Forschung. Der Debattenaufschlag zu diesem Heft (Feustel 2019) argumentiert, dass dabei die Beforschung der Rechten als Thema ernst genommen werden muss, die Proband_innen aber eine schwierige Haltung zur Empirie haben und dass unter anderem deshalb eine Hinwendung zur Theoriearbeit geboten sei. Ich möchte alle drei Postulate in Frage stellen. Zunächst argumentiere ich, dass wir uns nicht mit dem Kern der rechten Protagonist_innen beschäftigen sollten, sondern mit denjenigen, die Parteien wie die AfD aus Protest wählen oder den Gang an die Urne ganz verweigern (1). Zudem mag es sein (oder auch nicht), dass viele Rechte die Realität verzerrt wahrnehmen, aber es ist sicher, dass genau diese etwas überhebliche Haltung vieler liberaler und linker Intellektueller dazu beiträgt, dass die AfD von den weniger privilegierten Gruppen als ihre Vertretung gegen das ‚Establishment‘ angesehen wird (2). Schließlich scheint mir auch weniger Theoriearbeit geboten, sondern eine Beschäftigung mit den sozioökonomischen Entwicklungen, die viele Menschen in die Arme der Rechten treiben – und mit Optionen zu ihrer Beseitigung (3).

1. Mit wem reden, zu wem forschen?

Der Debattenaufschlag (Feustel 2019) beharrt darauf, dass wir mit Rechten und über Rechte reden sollen, auch wenn wir ihnen damit durch diese Aufmerksamkeit in die Karten spielen und eine Beforschung der Rechten angesichts von verfestigten autoritären Charakteranteilen zu wenig neuartigen Erkenntnissen führe und womöglich der Gefahr einer Rhetorik der Eigentlichkeit unterliege. Auch unabhängig von diesen durchaus realen Problemen scheint es mir wesentlich sinnvoller, mit zwei anderen, wesentlich größeren gesellschaftlichen Gruppen zu sprechen, die in diesem Kontext relevant sind.

Eine dieser beiden Gruppen besteht aus jenen Wähler_innen rechtspopulistischer Parteien, die diese nicht aus Überzeugung, sondern aus Protest wählen. Aus demoskopischen Befragungen wissen wir, dass nur ein Teil der AfD-Wähler_innen eindeutig chauvinistisch oder gar rassistisch motiviert ist. Die meisten Wahlentscheidungen entstammen einem eher diffusen Protest und der Sorge um den sozialen und wirtschaftlichen Abstieg. Infratest-dimap-Analysen zu den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt 2016 haben gezeigt, dass nur ein gutes Viertel der AfD-Wähler_innen die Partei aus Überzeugung gewählt hat, fast zwei Drittel hingegen wegen der Enttäuschung durch andere Parteien (Infratest dimap 2016). Die Hälfte derjenigen, die bei dieser Wahl ihr Kreuz bei der AfD gemacht haben, halten der Partei zudem vor, sich nicht deutlich genug von rechtsradikalen Parteien zu distanzieren. Wie eine bundesweite Infratest-dimap-Untersuchung zur Links-Rechts-Positionierung der politischen Parteien im November 2015 (Infratest dimap 2015) gezeigt hat, stufen die meisten AfD-Wähler_innen die Partei deutlich weiter ‚rechts‘ ein als sich selbst. Aufbauend auf diesen Befunden erscheint es mir geboten, dass sich unsere Forschung eher mit diesen Wähler_innen rechter Parteien beschäftigt als mit deren Funktionär_innen und Vordenker_innen – als Grundlage für politische Angebote, um diese Wähler_innen von Parteien wie der AfD wieder zu trennen.[1]

Die andere Gruppe, um die wir uns in der Forschung mehr kümmern sollten, besteht aus der inzwischen recht großen und langfristig verfestigten Gruppe von Nichtwählenden. Auch wenn der Aufstieg der AfD weitaus mehr Aufmerksamkeit gefunden hat, ist die zunehmend geringe Wahlbeteiligung der weniger Privilegierten im politischen System das gravierendere Problem. Die Ärmsten gehen gar nicht mehr zur Wahl, insbesondere bei Kommunal-, Landtags- und Europawahlen. Man kann dann kaum noch von einer funktionierenden Demokratie sprechen. Eine niedrige Wahlbeteiligung allein ist für diese schon ein Problem, aber wenn die Nichtwähler_innen sich in bestimmten Bevölkerungsgruppen konzentrieren, sollten bei uns alle Alarmglocken schrillen. Der Zusammenhang zwischen niedrigem Einkommen, niedriger Bildung und niedriger Wahlbeteiligung ist statistisch sehr deutlich. Sehr anschaulich wird er im Vergleich zwischen reichen und armen Stadtvierteln in Großstädten wie Berlin, Frankfurt, Hamburg oder Köln, wie bereits für die letzte Dekade dokumentiert (Schäfer 2010). Während in reichen Stadtvierteln wie Köln-Marienburg oder Hamburg-Blankenese die Wahlbeteiligung durchgehend über 80 Prozent liegt, sinkt sie in Vierteln wie Köln-Chorweiler oder Berlin-Neukölln bei Bundestagswahlen auf etwa 50 Prozent, bei Kommunalwahlen auf etwa ein Drittel und bei Europawahlen sogar auf nur ein Viertel. Selbst wenn die Wahlbeteiligung allgemein steigt, wie zwischen den nordrhein-westfälischen Landtagswahlen 2012 und 2017, wächst der Unterschied in der Beteiligung zwischen den armen und reichen Vierteln noch. So sind in Köln-Chorweiler nun 32 (statt 29) Prozent der Berechtigten wählen gegangen, in Köln-Hahnwald hingegen sogar 82 (statt 76) Prozent.

Bestätigt werden diese Ergebnisse von einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die das Wahlverhalten mit dem sozioökonomischen Status der Wählenden verknüpft (Brenke/Kritikos 2017). Hier zeigt sich, dass Nichtwähler_innen deutlich die niedrigsten Einkommen haben, gefolgt von den Wähler_innen der Linken und der AfD (während FDP-Wähler_innen deutlich die höchsten Einkommen verzeichnen). Nichtwähler_innen haben doppelt so oft keine Berufsausbildung und keinen Hochschulabschluss wie der gesellschaftliche Durchschnitt. Auch in der langfristigen Einkommensentwicklung der letzten fünfzehn Jahre zeichnen sich nach dieser Studie Nichtwählende mit der schlechtesten Bilanz aus.[2] Ohne eine deutliche Verringerung sozioökonomischer Disparitäten droht unser demokratisches politisches System in großen Teilen der Bevölkerung seine Legitimität zu verlieren, und das in Zeiten der Hochkonjunktur – man möchte gar nicht an die Folgen einer schweren Wirtschaftskrise denken.

Vor diesem Hintergrund würde ich den Debattenaufschlag eher darin bestärken, angesichts der von ihm erwähnten forschungspraktischen Probleme den Fokus zukünftiger Studien weniger auf den harten Kern von AfD und Pegida zu legen, sondern auf jene Teile der Gesellschaft, die entweder aus Protest die AfD wählen oder gar nicht mehr an die Wahlurnen gehen. Es geht darum, die sozioökonomische Situation dieser Menschen besser zu gestalten und diese wieder zur Mitwirkung an der demokratischen Meinungsbildung zu bewegen.

2. Geduld im Umgang mit dem (mitunter vermeintlich) Kontrafaktischen

Der Debattenaufschlag (Feustel 2019) macht sich Sorgen darüber, dass die Erforschung der neuen Rechten mittels empirischer Sozialforschung dadurch erschwert würde, dass diese einen „verzerrenden Realitätsbezug“ (Feustel 2019: 140) hätten, Forschende als Feind wahrnähmen und über grundlegend andere Wertvorstellungen verfügten. Mir scheint der Tonfall etwas problematisch, zumal auch an anderer Stelle betont wird, dass Rassismus eher psychoanalytisch zu verstehen und kaum aufklärerisch zu bearbeiten sei (Feustel 2019: 138). Diese Setzungen können so verstanden werden, dass ‚wir‘ im Besitz der Wahrheit (und der richtigen Werte) seien und die ‚anderen‘ tendenziell wahrnehmungskrank. Aus meiner Sicht ist es nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch ein großer Fehler, so mit großen Teilen der Bevölkerung umzugehen. Wir treiben damit diese gesellschaftlichen Gruppen AfD und Pegida in die Arme. Kern deren Erfolgsrezept ist die Behauptung eines tiefen Grabens zwischen ‚Volk‘ und ‚Eliten‘ (und Akademiker_innen gehören zweifelsfrei zu den letzteren) – und wir sollten alles tun, um diesen Argumenten keinen Vorschub zu leisten.

Der Debattenaufschlag hat durchaus Recht, wenn er die Entstehung (oder zumindest Intensivierung) dieses Grabens in den Kontext der Migrationskrise 2015/16 rückt. Teile der Bevölkerung, die Angst vor dem sozialen Abstieg haben und sich intensiv darum bemühen, ihre Stellung in der Gesellschaft zu halten, hatten nur begrenzt Verständnis dafür, dass mit den Geflüchteten potentielle Konkurrent_innen auf Arbeits- und Wohnungsmärkten vom liberalen Bürgertum und der akademischen Linken freundlich aufgenommen werden, während sie selbst häufig mit Ressentiments belegt wurden, etwa im „Unterschichtsdiskurs“ des Privatfernsehens (Steinwachs 2015). Eine solche ‚Willkommenskultur‘ hätten sich manche ärmeren Menschen in unserer Gesellschaft auch gewünscht. In ihren Erzählungen drücken sie aus, dass sie fürchten, selbst in Zukunft die Rechnung für diese Geste bezahlen zu müssen: durch höhere Mieten, niedrigere Sozialleistungen oder noch stärkere Zugeständnisse bei der Jobsuche. Es ärgert sie, wenn jetzt für zusätzliche öffentliche Leistungen Geld da ist, wo ein großer Teil der Medien doch seit Jahren behauptet, dass der Staat den Gürtel enger schnallen müsse.

Es hilft in der Folge überhaupt nicht, wenn die durchaus legitimen Probleme und Sorgen der weniger privilegierten Bevölkerungsschichten durch das liberale Bürgertum – und leider auch durch viele Repräsentant_innen der akademischen Linken – als dumpfer Neid oder als ‚postfaktisch‘ verunglimpft werden. Völlig losgelöst von den Fakten ist diese Haltung gar nicht.[3] Es ist in diesem Kontext kein Wunder, dass sich viele derjenigen, die sich politisch nicht nur ignoriert, sondern zudem nun auch verunglimpft sehen, entschlossen haben, mit der Wahl der AfD ein starkes politisches Signal zu senden. Durch die Aufregung des liberalen Bürgertums über den Aufstieg der AfD kann wenigstens etwas Stolz und Selbstachtung empfunden werden, auch wenn die meisten Wähler_innen sich durchaus bewusst sind, was für eine hochproblematische Partei sie damit wählen.

Ausgehend von diesen Überlegungen würde ich also darauf drängen, dass wir unsere Gegenüber in der Rechten (und ihre Wähler_innen) als genauso rational und vernunftbegabt betrachten wie uns selbst. Verlassen wir diesen Pfad, wirft das nicht nur die vom Debattenaufschlag thematisierten forschungsethischen Probleme auf, sondern kann auch dazu führen, dass wir de facto rechtspopulistische Dualisierungsstrategien unterstützen.[4]

3. Jetzt erst recht: empirische Forschung und Politik statt Flucht in die Theorie

Der Debattenaufschlag wirft zusammenfassend die These auf, dass „das wissenschaftliche Reden mit Rechten entweder nur zu wenigen und kaum neuen Erkenntnissen führt oder methodisch bzw. theoretisch hochgradig kompliziert und letztlich nicht umsetzbar ist“ (Feustel 2019: 142). Auf dieser Basis schlägt er vor, dass wir uns zukünftig nicht mehr der Empirie zuwenden sollen, sondern den Fokus auf die Theoriearbeit legen. Ich würde den Autor dagegen eher darin bestärken, sich mit einer etwas anderen – und von ihm ebenfalls aufgeworfenen – Frage zu beschäftigen, nämlich „jene[r] danach, warum entsprechende Haltungen und Politikvorstellungen besonders gegenwärtig Auftrieb haben […] [und] vor allem diese Umstände zu erforschen, also die Strukturen auf dem Wohnungs-, Arbeits- oder Bildungsmarkt […], die systematischen Ausgrenzungspraktiken und sozialen Strukturen, die dem rechten Autoritarismus in die Karten spielen“ (Feustel 2019: 139). Genau das scheint mir für zukünftige Forschung besonders angemessen: die Beschäftigung mit den sehr ungleichen wirtschaftlichen und sozialen Strukturen in Deutschland, aber – wichtiger noch – auch mit wirtschafts- und sozialpolitischen Strategien, um diese Strukturen zu überwinden.[5]

Insgesamt scheint mir die Faszination, die die Rechte auf die kritische Forschung ausübt, durchaus problematisch zu sein. Natürlich gehört der Aufstieg dieser Gruppen zu den wichtigsten Themen unserer Zeit. Aber anstatt uns an AfD- und Pegida-Funktionär_innen abzuarbeiten, sollten wir eher darauf abzielen, jene langfristig gesellschaftlich zu marginalisieren. Der Debattenaufschlag hat insofern Recht, als dass es uns wenig hilft, weiter über die Motive des harten Kerns der neuen Rechten zu sinnieren. Aber daraus sollten wir keinesfalls den Schluss ziehen, uns nun wieder in den Elfenbeinturm der Theorie zurückzuziehen. Geboten ist hingegen eine Beschäftigung mit den politökonomischen Umständen, die Menschen dazu bringen, trotz Distanz zu AfD-Positionen diese Partei zu wählen oder gar nicht mehr an die Urne zu gehen. Und noch wichtiger ist die Entwicklung und Realisierung konkreter politischer Maßnahmen, um die Lebensumstände dieser Menschen durchgreifend zu verbessern.

 

Die Publikation dieses Beitrags wurde durch Mittel des Open-Access-Publikationsfonds der Goethe-Universität gefördert.

Endnoten

Autor_innen

Andreas Nölke ist Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Internationale und Vergleichende Politische Ökonomie, insbesondere Schwellenländer, Eurozone und Populismus.

a.noelke@soz.uni-frankfurt.de

Literatur

Bieber, Ina / Roßteutscher, Sigrid / Scherer Philipp (2018): Die Metamorphosen der AfD-Wählerschaft: Von einer euroskeptischen Protestpartei zu einer (r)echten Alternative? In: Politische Vierteljahresschrift 59/3, S. 433-461.

Brenke, Karl / Kritikos, Alexander S. (2017): Wählerstruktur im Wandel, in: DIW-Wochenbericht 29, 595-606.

Feustel, Robert (2019): Substanz und Supplement: Mit Rechten reden, zu Rechten forschen? Eine Einladung zum Widerspruch. In: s u b \ u r b a n. Zeitschrift für Kritische Stadtforschung 7 (1/2), 137-145.

Infratest dimap (2015): AfD rückt nach rechts, CDU nach links. https://www.infratest-dimap.de/uploads/media/LinksRechts_Nov2015_01.pdf (letzter Zugriff am 20.11.2018).

Infratest dimap (2016): 2016 Sachsen-Anhalt: Umfragen zur AfD. https://wahl.tagesschau.de/wahlen/2016-03-13-LT-DE-ST/umfrage-afd.shtml (letzter Zugriff am 20.11.2018).

Lux, Thomas (2018): Die AfD und die unteren Statuslagen: Eine Forschungsnotiz zu Holber Lengfelds Studie „Die ‚Alternative für Deutschland: eine Partei für Modernisierungsverlierer?“. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 70, S. 255-273.

Nölke, Andreas (2018a): Linkspopulär: Vorwärts handeln statt rückwärts denken. Frankfurt am Main: Westend.

Nölke, Andreas (2018b): Politische Irrwege beim Umgang mit dem Rechtspopulismus – und eine linkspopuläre Alternative, in: Karina Becker / Klaus Dörre / Peter Reif-Spirek (Hg.), Arbeiterbewegung von Rechts? Ungleichheit – Verteilungskämpfe – populistische Revolte. Frankfurt am Main: Campus, S. 325-336.

Nölke, Andreas (2019): Keep it Straight and Simple, also with Respect to Migration: a Comment on Streeck’s “Between Charity and Justice”. In: Culture, Practice & Europeanization, 4, im Erscheinen.

Schäfer, Armin (2010): Politische Parallelwelten: Wo die Nichtwähler wohnen. In: Die Mitbestimmung 6, S. 52-55.

Steinwachs, Britta (2015): Zwischen Pommesbude und Muskelbank: Die mediale Inszenierung der „Unterschicht“. Berlin: edition assemblage.