Mit Rechten reden, zu Rechten forschen? Ein Widerspruch auf Einladung

Kommentar zu Robert Feustels „Substanz und Supplement. Mit Rechten reden, zu Rechten forschen?“

Regina Ammicht Quinn

Robert Feustels Text enthält wichtige Themen, Zielrichtungen und Pointierungen und einen vielleicht resignativen Schluss. Die Einladung zum Widerspruch nehme ich gerne an.

Besser nicht „mit Rechten reden“ – zu diesem Ergebnis scheint der Text zu kommen, und zwar ohne weitere Differenzierung der Ebenen und Kontexte. So könnte hier auch das politische Gespräch mit dem rüpelhaften Onkel bei Familienfeiern gemeint sein kann, das man in der Tat tunlichst unterlassen sollte; davon unterschieden sind viele andere Gespräche, beispielsweise in Parlamenten oder in Medien. Die Frage, ob man „zu Rechten forschen“ solle, weist aber in eine andere Richtung. Da ich nicht vermute, dass der Text eine Absage an Forschung zu Autoritarismus, Faschismus, Entdemokratisierung, Einstellungsforschung zu rechten Strömungen und anderem sein kann, geht es möglicherweise um eine Selbstvergewisserung der Sozialwissenschaften: Wie kann qualitative empirische Forschung, wie kann ein Sich-Einlassen auf Menschen in Interviews aussehen, wenn diese Menschen ‚rechts‘ sind? Könnten wir nicht das, was wir an Forschung zu all diesen Themen haben, als Besitz reklamieren, einen Schlussstrich ziehen und, wie es im Text heißt, keine „neuen Argumentationen oder gar Handlungsoptionen“ aus der Forschung mit lebenden Menschen mehr erwarten?

Die beiden irritierenden Titelfragen des Textes verweisen auf zwei Grundprobleme, die mit dem Selbstverständnis von Wissenschaft und dem Verständnis von ‚Realität‘ zu tun haben (1 und 2). Nimmt man dies ernst, dann geht es nicht um das ‚Ob‘, sondern um das ‚Wie‘ des wissenschaftlichen ‚Redens mit Rechten‘; dazu ein Vorschlag aus dem Bereich der Ethik (3), die als anwendungsbezogene Ethik auf der unklaren Grenze zwischen Sozial- und Geisteswissenschaften balanciert.

1. Das erste Grundproblem: Was sind die Fragen der qualitativen empirischen Forschung?

Robert Feustel spricht über den „verzerrende[n] Realitätsbezug“ (S. 140) von Rechten und die mangelnde gemeinsame Faktenbasis zwischen kritischen Forscher_innen und ihrem „Gegenstand“ (ebd.). Die mangelnde gemeinsame Faktenbasis – etwa in Bezug auf Fragen des Klimawandels – ist ein Teilaspekt eines gravierenden gesellschaftlichen Problems. Was aber genau beforscht die qualitative empirische Sozialforschung? Welche Erkenntnisse erhofft sie sich bei der Auswertung ihrer Daten?

Hier scheint sich mir – als Nicht-Empirikerin – ein gravierendes Missverständnis aufzutun. Ich habe von empirisch und partizipativ arbeitenden Menschen gelernt, dass qualitative Forschung nicht den Wetterbericht verbessert. Qualitative Forschung ist nicht citizen science, bei der Bürger_innen in einen definierten Forschungsprozess einbezogen werden, etwa indem sie die Vögel im Vorgarten präzise registrieren. Die Fragen einer qualitativen Forschung sind nicht Fragen danach, was ‚Sache‘ ist, etwa welches die durchschnittlichen Regenmengen des Sommers 2018 in Hannover waren. Das Gespräch mit ‚Rechten‘ fragt nicht sinnvollerweise danach, wie viele Geflüchtete zu welchem Zeitpunkt mit welchen Papieren an welcher Stelle die deutschen Grenzen überschritten haben. Sie fragt nicht danach, welche Feinstaubwerte sich montags um 17.30 Uhr an einem bestimmten Ort messen lassen. Für die Beantwortung dieser Fragen gibt es andere Instrumente und andere Expertisen (die gegebenenfalls in Experteninterviews einen Kontext bekommen können). Das (sozial-)wissenschaftliche „Reden mit Rechten“ kann aber Fragen nach Wahrnehmungen, nach Alltagsroutinen, Alltagsexpertisen und Erfahrungen stellen. Damit werden weder rechte Agitationen reproduziert, noch werden Menschen ‚Meinungen‘ ‚ausgetrieben‘. Die Antworten sind dann kein alternativer Wetterbericht. Es geht nicht um einen Widerstreit von ‚Fakten‘ und ‚Realitäten‘, sondern, viel grundlegender, um die Zugänge, Logiken, Sprachspiele, Symbolsysteme und Emotionen, die einen solchen Widerstreit hervorbringen können. Die Auswertung von Trumps Twitter-Account könnte damit sehr wohl sinnvolle Erkenntnisse über die US-amerikanische oder globale Wirklichkeit offenbaren. Wenn auch traurige.

Qualitative empirische sozialwissenschaftliche Forschung, die politische oder gesellschaftliche Gruppen, Einstellungen oder Prozesse zum Thema hat, fragt etwa nach der Art und Weise, wie bestimmte Arenen bespielt werden, wie Einstellungen, Verhalten und Handeln zusammenhängen, welche individuellen oder kollektiven Brüche sich finden lassen, wie Einflussnahmen funktionieren, welche Werte explizit eine Rolle spielen und welche Werte implizit einer Einstellung, einem Verhalten oder eine Handlung zugrunde gelegt werden.

2. Das zweite Grundproblem: Was heißt Wissenschaft?

In ausdifferenzierten Gesellschaften gibt es immer unterschiedliche Sachlogiken unterschiedlicher Gruppen. Problematisch wird dies dann, wenn diese Sachlogiken keine sachbezogenen Schwerpunktsetzungen darstellen, sondern mit demokratiefeindlichen Weltanschauungen verbunden sind. Diese Problematiken sind – auch jenseits der Erforschung faschistischer Systeme – nicht neu und zeigen sich beispielsweise in Gesellschaften der Rassentrennung. Damit wäre es sinnvoll, von denjenigen zu lernen, die diese Situationen mit großer Schärfe analysiert haben. Dies sind Analysen, die nicht mit „sachliche[r] Distanz und Unvoreingenommenheit“ (S. 138) der Forscher_innen unternommen wurden und auf ein Selbstverständnis der Sozialwissenschaften jenseits des Positivismus (und des Positivismusstreits) verweisen. Eine solche Forschung fragt nach Kontexten, Prozessen, Sprachspielen und Emotionen; und sie fragt immer auch nach sich selbst, nach der sozialen Situiertheit jedes Wissens und nach der Standortgebundenheit jeder Forschung.

Natürlich sind empirische Wissenschaften ‚faktenbasiert‘. Aber ‚Fakten‘ sind selbst ein komplexes Konstrukt und nicht einfach ‚da‘. Feministische Wissenschaftstheorie beispielsweise konstituiert sich durch Analysen der Machtstrukturen innerhalb des Wissenschaftsbetriebs, der Arten und Weisen, wie ein Problem als wissenschaftliches Problem definiert wird und ein anderes nicht, wie Forschungsprozesse eingeleitet und durchgeführt werden, wie Ergebnisse interpretiert und kommuniziert werden. Wenn James Baldwin sagt „I am not your negro“, dann bedeutet dies für ihn immer: „If you see me and see a negro, you need to ask yourself why you need to construct a negro.“ (Peck 2016) Dies ist, in a nutshell, kritische Erkenntnistheorie. Unterschiedliche konstruktivistische und pragmatistische Ansätze sind dabei durchaus in der Lage, zwischen Wahrheit und Lüge oder Falschheit zu unterscheiden. Die subjektiven Konstruktionen einer Lebenswirklichkeit sind nicht beliebig, sondern relational und durch die Verbindungen zu anderen und anderem sowohl begrenzt als auch ermöglicht.

3. Nicht ob empirische Forschung, sondern wie: zwei Vorschläge aus einer ethischen Perspektive

Amartya Sen (Indien) und Amin Maalouf (Frankreich/Libanon) beschreiben mit je eigenen Schwerpunktsetzungen Situationen, in denen Identitätszuschreibungen zu Gewalt werden. Sie werden zu Gewalt, wo die Pluralität von Identitäten negiert wird: „Identities are robustly plural.“ (Sen 2007: 19) Denn Menschen sind nie nur ‚Muslime‘ oder ‚Türken‘ oder ‚Mütter‘ oder ‚Rechte‘, und der Akt der Zuschreibung einer alternativlosen singulären Identität ist Gewalt und macht die Welt „entflammbar“ (ebd., XV, vgl. auch Maalouf 2001). Weil diese Pluralität von Identitäten erzählt werden muss (vgl. Ngozi Adichie 2009), ist die Festlegung auf eine singuläre Identität auch die Verweigerung oder die Unfähigkeit, Geschichten zu erzählen.

Was hat das nun mit qualitativer Sozialforschung und dem „Reden mit Rechten“ zu tun? Zwei Vorschläge:

Der erste Vorschlag: Qualitative Interviews können in vielen Fällen auch als Identitätserzählungen gelesen werden. Sie können methodisch vergleichbar gemacht und damit besser anschlussfähig und einfacher rezipierbar werden für andere Formen sozialwissenschaftlicher Forschung. Sie können aber auch ergänzend als Narrationen verstanden und mit Methoden verstehender/hermeneutischer Wissenschaften (Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft, Philosophie) bearbeitet werden. Eine Narratologie beispielsweise fragt danach, welche Funktionen bestimmte Narrative in ihren Kontexten und Praxisbezügen haben, welche Leistungen beim Erzeugen und Vermitteln von Sinn ihnen zukommt, warum sie produziert und rezipiert werden, welche kognitiven und rationalen Abläufe Voraussetzung dafür sind und anderes (Schönert 2006).

Arlie Russel Hochschild (2016a) zeigt in ihrer Forschung zu „Strangers in Their Own Land“ die Möglichkeit einer sozialwissenschaftlichen empirischen Forschung, deren Wissen situiert ist und deren Standortgebundenheit als Teil dieser Forschung gesehen wird. Damit erweitert sie erzählerisch die traditionelle „Sprache soziologischer Theorien“, der, so Ulrich Beck in Feustels Text, keine Beschreibungs- und Verstehenskompetenz mehr zugetraut wird. Es ist den Versuch wert, die Narratologie in die (widerspenstige) Assemblage der Methoden hineinzunehmen. Eine ‚deep story‘, wie sie von Hochschild entworfen wird, ist die metaphorische Repräsentanz von Erfahrungen, die kritische Reflexion ermöglicht. „All these right-wing movements are, I believe, based on variations of the deep story, the feelings it evokes, and the strong beliefs that protect it.“ (Hochschild 2016b). Ein Reden mit oder Forschen an ‚Rechten‘ hätte hier einen weiten Spielraum jenseits des Widerstreit der Fakten. Menschen in ihren multiplen und nicht singulären Identitäten zu sehen, ist ein grundlegender Anspruch einer politischen Ethik und genauso einer Forschungsethik.

Dies hat zum anderen Konsequenzen für die Standortgebundenheit und soziale Situiertheit des Wissens und der Forschung. Darum der zweite Vorschlag: Ethische Ansätze wie das Zurückweisen jeder Zuschreibung einer singulären Identität wurden im Kontext emanzipatorischer Wissenschaft entwickelt. Sie reichen aber genauso in Kontexte hinein, die gegenläufig zu dieser emanzipatorischen Wissenschaft sind. Es sind Kontexte, die die jenseits der empathy wall liegen, die immer wieder auch Gegenpole zu Menschenrechts- und Anerkennungsdiskursen bilden.

Damit wird die Frage, ob man „Mit Rechten reden / zu Rechten forschen“ solle, noch einmal auf einer grundlegend wissenschaftstheoretischen Ebene problematisch. Empirische qualitative Sozialforschung kann sich natürlich mit spezifisch eingrenzenden Bereichen wie etwa der Parteienforschung rechter Parteien oder Einstellungsforschung selbst definierter Führungspersonen rechter Politik- und Gesellschaftsbereiche befassen. Sie kann aber auch Bürger_innen (z. B. in stadtpolitischen Konflikten) befragen. Wenn dies unter der Überschrift „mit Rechten reden / zu Rechten zu forschen“ geschieht, ist das Ergebnis schon als Ausgangspunkt vorweggenommen und die Zuschreibung einer singulären Identität prägt dann, auch gegen die Forschungsintentionen, diese Forschung.

 

Die Publikation dieses Beitrags wurde durch Mittel des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts PODESTA und der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.

Autor_innen

Regina Ammicht Quinn arbeitet zu grund- und anwendungsbezogenen Fragen der Ethik: Kulturethik, ethische Grundlagen kultureller Konflikte; Ethik und Sicherheit; Technikethik, ethische Fragen digitaler Technikentwicklung, insb. bei selbstlernenden Systemen; Gender-Diskurse; Religionen und Kulturen, Religionsfreiheit; ethische Fragen des demografischen Wandels.

regina.ammicht-quinn@uni-tuebingen.de

Literatur

Feustel, Robert (2019): Substanz und Supplement: Mit Rechten reden, zu Rechten forschen? Eine Einladung zum Widerspruch. In: s u b \ u r b a n. Zeitschrift für Kritische Stadtforschung, 7 (1/2), 137-145.

Hochschild, Arlie Russel (2016a): Strangers in Their Own Land. New York: The New Press.

Hochschild, Arlie Russell (2016b): The American Right: Its Deep Story. In: Global Dialogue 6/3. http://globaldialogue.isa-sociology.org/the-american-right-its-deep-story/ (letzter Zugriff am 4.4.2019).

Maalouf, Amin (2001): In the Name of Identity. Violence and the Need to Belong. New York: Arcade Publishing.

Peck, Raoul (2016): I Am Not Your Negro. Dokumentarfilm über James Baldwin.

Ngozi Adichie, Chimamanda (2009): The Danger of a Single Story. https://www.ted.com/talks/chimamanda_adichie_the_danger_of_a_single_story?language=en (letzter Zugriff am 4.4.2019).

Schönert, Jörg (2006): Was ist und was leistet Narratologie? Anmerkungen zur Geschichte der Erzählforschung und ihrer Perspektiven. https://literaturkritik.de/id/9336 (letzter Zugriff am 4.4.2019).

Sen, Amartya (2007): Identity and Violence. The Illusion of Destiny. New York/London: Penguin.