Pro Rent-Gap-Theorie, contra habitualisierten Antikulturalismus

Kommentar zu Neil Smiths „Für eine Theorie der Gentrifizierung: ‚Zurück in die Stadt‘ als Bewegung des Kapitals, nicht der Menschen“ (2019 [1979])

Moritz Ege

Was sagt uns Neil Smiths Rent-Gap-Aufsatz heute, nach 40 Jahren? Stärker noch als spätere Arbeiten des Autors steht der Text für eine systematische Erklärung von Verdrängungs- und Aufwertungsprozessen, die solche Prozesse in klassisch-marxistischer Manier auf Grundprinzipien kapitalistischen Wirtschaftens beziehungsweise der politischen Ökonomie zurückführt und damit ihren Klassencharakter begreifbar und kritisierbar macht. Wer es in der eigenen akademischen Arbeit eher mit der kulturellen Seite von gesellschaftlichen Phänomenen zu tun hat, schon disziplinär bedingt, oder mit ‚weichen‘ Methoden arbeitet, dem macht es dieser Text nicht sonderlich leicht, weil Smith die kulturelle Seite ja explizit als irrelevant für die Erklärung von Gentrifizierungsprozessen abtut – kulturelle oder kulturwissenschaftliche Argumentationen erscheinen aus dieser Perspektive zunächst einmal generell als so etwas wie Ideologieproduktion.

Man muss dem Reflex, sich über die reduktionistisch-ökonomistische Tendenz von Smiths Argumentation zu ärgern, auch als Kulturwissenschaftler nicht nachgeben – schließlich hat Smith gerade durch den zugespitzten Charakter dieses Textes viel zum besseren Verständnis ökonomischer Prozesse in Städten beigetragen. Solche Prozesse spielen sehr stark in Situationen hinein, mit denen es Kulturwissenschaftler*innen zu tun haben, in meinem Fall zum Bespiel mit Stilisierungen des ‚Prolligen‘ in Berlin, die sich auch im Sinn einer Anti-Gentrifizierungs-Geste lesen lassen (vgl. Ege 2013). Dass die Relevanz der Smith‘schen Erklärung nicht zu leugnen ist und die Rent-Gap-Theorie angesichts der Empirie der letzten Jahrzehnte einigermaßen haltbar, das vermute ich nach einem kursorischen Blick in die Literatur zumindest; mir könnte man über die arbeitswerttheoretische Herleitung von Boden- und Häuserpreisen und deren Entwicklung zugegebenermaßen viel erzählen. Wie dem auch sei, es wäre öde und vorhersehbar, reflexhaft ‚das Kulturelle‘ gegen ‚das Ökonomische‘ stark zu machen, als wäre das eine oder das andere immer und überall die wichtigere und all-erklärungsmächtige Kategorie (vgl. Gilbert 2019). Es steht schließlich prinzipiell zu hoffen, dass es bei kritischer Wissenschaft nicht um einen Stellungskrieg zwischen Vertreter*innen eindimensionaler ‚Ansätze‘ geht, die per se die Relevanz der von anderen Leuten bearbeiteten Bereiche/Dimensionen leugnen oder herunterspielen, sondern um Arbeitsteilung, konjunkturales Zusammendenken (vgl. in diesem Sinn klassisch Hall et al. 1978) und gegebenenfalls eben um Streit über die dringlichsten Probleme und die vielversprechenderen Erklärungen und Beschreibungen. So lässt sich anerkennen, dass das, was aus der Sicht vieler späterer Kommentator*innen das Problem des Textes ist, letztlich gerade seine Eleganz ausmacht und seinen Einfluss begründet, also der dezidierte Verzicht Smiths auf eine ganzheitlichere Herangehensweise, die auch kulturelle Prozesse – was das heißen könnte, dazu unten mehr – in das Erklärungsmodell mit einbeziehen würde. Der konsequente Ökonomismus ist theoretisch produktiver als alles zusammenwerfen und zu behaupten, dass es irgendwie miteinander zusammenhängt. Was in konkret-komplexe Fallkonstellationen, in tatsächliche Gentrifizierungsprozesse zu bestimmten Zeitpunkten in bestimmten Städten, dann alles noch mit hineinspielt, das ist ja noch einmal eine andere Frage, auch wenn Smith zwischen solchen Ebenen eher nicht unterscheidet und seine Philadelphia-Fallstudie ausschließlich kapitalseitig analysiert. Es bleibt aber unsinnig, einem Ökonomen vorzuwerfen, dass er ökonomisch argumentiert, solange die Tendenz zum ökonomistischen Erklärungsimperialismus und der habitualisierte Antikulturalismus nicht überhandnehmen. Zu letzterem, dem antikulturalistischen Überschuss, möchte ich im Folgenden im Sinne einer symptomatischen Lektüre einige weitere Überlegungen formulieren, weil ich denke, dass dieser ‚Überschuss‘ auch über Smith hinaus weiterhin diskussionswürdig und kontextualisierungsbedürftig ist.

Die Kultur-versus-Ökonomie-Diskussion hat die Gentrifizierungsforschung bekanntermaßen lange Zeit beschäftigt und gespalten, wie sich das in Dutzenden, wenn nicht Hunderten von Literatur-Review-Artikeln oder zumindest -abschnitten nachlesen lässt (vgl. nur Zukin 1987; Hamnett 1991; Helbrecht 1996). Diese Überblickstexte haben meist eine fortschrittsoptimistische Form und laufen auf eine zunehmende Konvergenz dieser Perspektiven hinaus: Schon 1987 konnte Sharon Zukin formulieren, damals mit ambivalent-positiven Bezügen zur Rent-Gap-Theorie (die sie als „mechanistic and somewhat circular argument“ (ebd.: 137), aber auch nicht rundum falsch bezeichnet), inzwischen sei „an emerging synthesis of the field” (ebd.: 130) erreicht, oder doch zumindest absehbar, die ökonomische und Kulturanalyse in der Gentrifizierungsforschung zusammenführt. Auch Smith gestand der Beschäftigung mit kulturellen Aspekten im Laufe der Zeit eine gewisse Legitimität beziehungsweise diesen Aspekten selbst ein gewisses Erklärungspotenzial zu (vgl. z. B. resümierend 1996: 40). Ein dialektisches Happy End also. Trotzdem herrscht auch heute – vor allem im Journalismus – kein Mangel an vulgär-kulturalistischen Gentrifizierungstexten (für prätentiös befundenen Kaffeezubereitungsarten spielen in fast jedem dieser Texte eine seltsam prominente Rolle), in denen staatliche und städtische Politik nicht vorkommen und die kapitalistische Immobilienwirtschaft und ihre Strategien als nicht weiter erklärungswürdige Naturtatsachen verstanden werden. Auf der anderen Seite sind auch spiegelverkehrte Polemiken, in denen die reine polit-ökonomische Lehre gegen das „sozio-kulturalistische“ (vgl. Jensen/Schipper 2018: 317) Gedöns vertreten wird, keinesfalls ausgestorben, was angesichts der Es-lässt-sich-alles-am-Latte-Macchiato-und-den-Fixies-festmachen-Texten in gewisser Weise nachvollziehbar ist, aber die Fortschritts- und Syntheseerzählungen doch etwas vorschnell erscheinen lässt.

Smith formuliert seinen Antikulturalismus in einer bestimmten theoriepolitischen Konstellation; vieles von dem, auf das heutiger Antikulturalismus reagiert (vgl. z. B. Hann 2007), war noch nicht geschrieben. Der ‚cultural turn‘ kündigte sich in den späten 1970er-Jahren erst an und war noch nicht sonderlich weit fortgeschritten; die Debatten um die besonders prominente Stellung des Kulturellen in der ‚Postmoderne‘, die Autor*innen wie Zukin, Harvey und Jameson mit ihren Büchern marxistisch ‚einfangen‘ wollten, entfalteten sich im Laufe der 1980er-Jahre. Eher lässt sich festhalten, dass die Zeit um 1979 eine Blütephase der anglophonen neomarxistischen Kulturtheorie war: Raymond Williams‘ Marxism and Literature erschien 1977, E.P. Thompsons anti-theoretizistische Breitseite The Poverty of Theory (1978) ein Jahr später, das Conjunctural-Analysis-Hauptwerk des Centre for Contemporary Cultural Studies, Policing the Crisis. Mugging, the State, and Law and Order (Hall et al. 1978), ebenfalls. Man hätte ‚Kultur‘ also keinesfalls mit anti-materialistischer Ideologie gleichsetzen müssen; selten wurde auf so hohem Niveau über die Zusammenhänge von politischer Ökonomie und verschiedenen Spielarten des Kulturellen debattiert wie in diesen Jahren. Smith bezog sich in seiner Kritik an kulturellen Erklärungsversuchen aber nicht auf solche Debatten, die weitgehend in anderen Disziplinen stattfanden, sondern vor allem auf Texte aus dem soziologisch-geografischen Mainstream. Diese führten Gentrifizierungsprozesse auf die Formierung neuer Mittelschichtslebensstile zurück, auf die zunehmende Relevanz von Berufsgruppen und Milieus, die unter anderem von den lebensweltlichen Liberalisierungen und emanzipatorischen Bewegungen der 1960er-Jahre geprägt waren und anders leben wollten als die fordistische Arbeiterklasse oder die ‚White-Collar‘-Angestelltenmilieus zuvor. Deshalb, so die von Smith als kulturell verstandene Argumentation, bildeten sie auch andere Nachfragemuster auf dem Immobilienmarkt aus, sie wollten ‚urbaner‘ leben, in Gebäuden und Vierteln mit historischer Anmutung, näher bei kulturellen Angeboten sein, sich als Frauen zum Beispiel nicht in der isolierten Hausfrauenrolle in den Vorstädten wiederfinden. Eine ‚kulturelle‘ Erklärung ist in diesem Verständnis also eine, die ihren Ausgangspunkt bei den Veränderungen von Lebensweisen und Wertvorstellungen nimmt, nicht bei den Kapitalverwertungsstrategien und den durch sie ausgelösten Dynamiken – wobei sich, man denke nur an Gramscis Fordismus-Texte aus den frühen 1930er-Jahren (2007), durchaus auch marxistisch über die Veränderung von Lebensweisen nachdenken lässt. Ob man das ‚kulturell‘ oder ‚kulturalistisch‘ nennt, ist letztlich Geschmackssache. Zukin spricht an dieser Stelle interessanterweise von ‚demographischen‘ Faktoren, nicht von kulturellen.

Der polemische Clou der Argumentation zu Beginn des Rent-Gap-Textes besteht jedenfalls darin, dass Smith sowohl diese soziologischen Argumente als auch den Denkstil der neoklassisch-liberalen Bodennutzungs- und Immobilienökonomie mit ihrer Betonung der Nachfrageseite im weiteren Sinne als ‚kulturell‘ beschreibt. Der Fokus auf die ‚Kultur‘ (im Sinne von Lebensstilen und Wertorientierungen) und der auf die ‚Nachfrageseite‘ fallen so letztlich in eins: Sie stehen damit in ähnlicher Weise unter Verdacht, liberale Ideologien fortzuschreiben, in denen aggregierte individuelle Wahlentscheidungen („kulturell bedingte Entscheidungen und Präferenzen der Konsumenten“, Smith 2019[1979]: 69) die Substanz des Sozialen bilden. Aus der Sicht von Smith korrespondiert die so verstandene kulturelle Perspektive dann auch zumindest implizit mit einer konsumorientierten, marktpopulistischen Demokratietheorie: Sowohl die wirtschaftswissenschaftlichen Ansätze, die auf die Nachfrageseite fixiert sind, als auch Formen von Kultursoziologie, die die Entstehung neuer Milieus in den Fokus rücken, fassen die Nachfrage auf dem Häuser- und Wohnungsmarkt der Tendenz nach im Stile des methodologischen Individualismus als etwas auf, das Bedürfnisse selbstbestimmter wirtschaftlicher (und politischer) Subjekte zum Ausdruck bringt und deshalb auch tendenziell legitim und richtig ist. Im Stichwort „Konsumentensouveränität“ (ebd.) klingt diese normative Ausrichtung ja schon an: sozialwissenschaftliche Erklärung, politische Verantwortungszuschreibung und normative Theorie sind hier – wie auch sonst – kaum zu trennen. Dass die Fähigkeit, für die eigenen Vorstellungen vom guten und richtigen Leben Raum zu beanspruchen und zu gestalten, dabei in einem engen Zusammenhang mit der jeweiligen Finanzkraft steht, die wiederum eine Klassenfrage (in einem weitergehenden, vergeschlechtlichten, rassifizierten, durch lokale Logiken, Staatsbürgerschaftskategorien usw. vermittelten Sinn) ist und keine individuelle, steht auf einem anderen Blatt. Es fällt in dieser ‚liberalen‘ Logik aber nicht weiter als Problem ins Gewicht (wer mehr hat, hat es letztlich auch verdient) oder ist halt in seinen Konsequenzen ein bisschen bedauerlich und gegebenenfalls humanitär abzufedern.

Smith schreibt später, ihm sei es bei dieser Kritik einerseits um konservative Konsumforscher*innen gegangen, aber auch um Kolleg*innen aus Geographie und Soziologie, die die ‚postindustrielle Stadt‘ und die als ‚Stadterneuerung‘ beschönigte Gentrifizierung prinzipiell willkommen geheißen hätten, als Wiederbelebung der Innenstädte durch Leute, die ihnen prinzipiell ganz sympathisch waren, „while lamenting the social costs“ (Smith 1996: 53), mit Krokodilstränen gewissermaßen. Diese Haltung sieht er als typisch für „political liberals“ (ebd.: 39) an. Der prinzipielle Charakter der „violence of gentrification“ (ebd.: 40) gerate in solchen Diagnosen aus dem Blick. Auch anderswo beschreibt er die halbherzige Haltung von ‚liberals‘ als zentrales politisches Problem, beispielsweise im Umgang mit Obdachlosen und ihren Rechten im Kontext der „revanchistischen“ Stadtpolitik (ebd.: 213). Die Abgrenzung von den ‚liberals‘ und ‚ihrer‘ Wissenschaft, und die Betonung der Gewalt- und Herrschaftsförmigkeit des liberal-demokratischen Kapitalismus in der Stadt und überhaupt, war und ist bekanntlich nicht nur für diesen Aufsatz, sondern wohl auch für die kritische Gentrifizierungsforschung, die „radical geography“, die „radical social theory“ (ebd.) und auch weite Teile der dem eigenen Verständnis nach radikalen Linken insgesamt konstitutiv. Im universitären Alltag waren und sind solche Grenzziehungen vielfach spürbar und konstitutiv für Schulenbildung, Lagerkämpfe, wissenschaftliches self-fashioning. Die Ökonomie-Kultur-Opposition bei Smith ist also Teil einer Figuration von ‚Liberalen‘ und ‚Radikalen‘ sowohl im akademischen wie auch im (stadt)politischen Feld.

Im Rent-Gap-Text suggeriert Smith, dass dieser politische Anti(links)liberalismus in Sachen wissenschaftliche Erklärungen per se ein Antikulturalismus sein muss. Dabei steht ‚Kultur‘ für mehr als ‚die Nachfrageseite‘ oder ominöse Wertvorstellungen. Zukin zum Beispiel geht der kapitalistischen Inwertsetzung beziehungsweise Konvertierung von kulturellem Kapital im Bourdieu’schen Sinn nach, wie etwa von ‚geschmackvoll‘ selbst renovierten und als Kulturerbe verstandenen Häusern (Zukin 1982), und zeigt gerade mit ihrem kulturanalytischen Blick, wie sich eine „Artistic Mode of Production“ (ebd.: 176ff.) herausbildet, die mit einer Akkumulationsstrategie zusammenhängt, für die wiederum die Auf- und Verwertung des Ästhetischen (eines besonderen Aspekts des Kulturellen) in verschiedenen Formen zentral ist. Die Liste lässt sich erweitern, zum Beispiel um mediale Repräsentationen städtischer Räume: So zeigte Barbara Lang für Berlin-Kreuzberg auf, wie „symbolische Gentrifizierung“ (Lang 1998) auf der Ebene von medialen Bildern und Erzählungen, die auch mit Alltagswahrnehmungen korrespondieren, ökonomische und politische Prozesse vorbereiten und begleiten (oder aber, so ihre Diagnose damals, auch ins Leere laufen).

Und, noch einmal etwas größer gedacht: Man mag sich zwar darüber streiten, ob Fragen der sozialen Reproduktion und, damit verbunden, der Geschlechterverhältnisse, als ‚kulturell‘ angemessen beschrieben oder klassifiziert sind, aber sie haben auf jeden Fall viel mit dem zu tun, was in anderen Begrifflichkeiten unter ‚Lebensweisen‘ und damit das Kulturelle fällt. Es wäre aber klassischer Reduktionismus, die Seite der Reproduktion (und damit, in diesem Begriffsspiel, der Kultur) als bloßes Beiwerk anzusehen. In diesem Sinn wies Zukin zum Beispiel, Damaris Rose resümierend, darauf hin, dass ‚orthodoxe‘ Autoren wie Smith all das, was in marxistisch-feministischen Theorien unter ‚soziale Reproduktion‘ fällt, im Wesentlichen als Konsum bestimmen und zugleich als analytisch wie auch politisch zweitrangige Kategorien behandeln (Zukin 1987: 140; vgl. dazu einigermaßen selbstkritisch Smith 1996: 95-107). In diesem Zusammenhang ist die anti-kulturalistische Stoßrichtung auch eine begriffssystematisch nicht- oder sogar antifeministische, da sie mit der ‚Kultur‘ und den Lebensweisen auch die soziale Reproduktion und damit ein zentrales feministisches Thema zur zweitrangigen Frage erklärt. Wie gesagt: Das ist nicht per se ein Problem der Rent-Gap-Theorie selbst, die ja nicht alles, was in diesem Zusammenhang wichtig ist, beschreiben und erklären muss oder soll, sondern es ist ein typisches Problem des antikulturalistischen Überschusses. Noch grundlegender ließe sich mit Raymond Williams und Henri Lefebvre gegen die begrifflich-methodologische Trennung zwischen kapitalistischer Produktion und Kultur einwenden, dass alles Kulturelle auch hergestellt, produziert und gelebt wird und dass Produktion, wenn man damit nicht nur die kapitalistisch verwertete (und in diesem eingeschränkten Sinn ‚produktive‘) Arbeit meint, den Alltag durchdringt und nicht einfach das Gegenstück bildet.

Antikulturalismus verspricht aber auch Befreiung von den ideologischen Denk- und Empfindungsweisen des Alltags und suggeriert eine Überwindung des Partikularen und Kleingeistigen zugunsten einer universalistischen Perspektive, gerade heute. Einen gewissermaßen affektiv-kulturellen Subtext gegenwärtiger Gentrifizierungsdiskussionen bildet das schlechte Gewissen der vermeintlichen Pionier*innen, die mit der Gentrifizierungskritik vertraut sind (vgl. z. B. Heinen 2013: 231-292; Jensen/Schipper 2018: 318). Unter den sich schuldig Fühlenden und in diese Prozesse Verstrickten finden sich bekanntlich nicht nur Künstler*innen, sondern auch Studierende und Lehrende der kritischen Sozial- und Kulturwissenschaften und Angehörige linker Bewegungen, von denen viele aus den Mittelschichten kommen. Wer für die Gentrifizierung ‚verantwortlich‘ ist und sich in welcher Weise dazu verhält, ist auch hier sowohl eine sozialwissenschaftliche wie auch eine politische und eine alltagsmoralische Frage. Mit der Rent-Gap-Theorie ist der Gegner in verhältnismäßig übersichtlicher Weise externalisiert; das Grübeln über eigene Verstrickung erweist sich dann in den meisten Fällen als überflüssig, als in kontraproduktiver Weise ‚moralisch‘ und als Reflexionsfalle, weil es, kritisch-politisch-ökonomisch betrachtet, eben nicht in erster Linie um aggregierte individuelle Wohnungswahlentscheidungen geht, sondern um, zumindest tendenziell, ähnliche ökonomische Interessen. Diese Fragen überschneiden sich mit der nach der Wahl von Mobilisierungs- und Analysevokabeln: Während Begriffsbildungen wie ‚die Prekären‘ oder ‚die Multitude/Vielheit‘ milieuübergreifende Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stell(t)en und die anzustrebende politische Allianz sozusagen analytisch vorwegnahmen, betonen andere eher die Relevanz von Unterschieden, sei es pessimistisch-gesellschaftsdiagnostisch oder identitätspolitisch oder beides. Das kann Ethnizität und Ethnisierung oder Rassialisierung betreffen, mehr oder weniger klassentheoretisch überformt, aber auch symbolische Grenzziehungsprozesse in einem sehr viel weiteren Sinne. ‚Kultur‘ und ‚kulturelle Differenzen‘, zum Beispiel zwischen Zugezogenen und Alteingesessenen, sind aus der so skizzierten antikulturalistischen Perspektive in erster Linie ein gewissermaßen ideologisches Mobilisierungshindernis. Zugleich kann ‚Kultur‘ in einem anderen, eingeschränkten Verständnis, nämlich als engagierte Kunst und Ästhetik, als Medium der Überwindung identitärer und habitueller Beschränktheiten fungieren, wie Ida Susser das mit Blick auf Brooklyn-Williamsburg in der neuen Einleitung zu ihrer (ebenfalls nach etwas mehr als 30 Jahren wieder aufgelegten) Studie „Norman Street“ (Susser 2012) recht optimistisch formuliert. Kultur zum einen (‚antikulturalistisch‘) als Ideologie und zum anderen als Verständigungsmedium zu verstehen, kann durchaus zusammenpassen. Mir ist das in seiner politischen Ausrichtung sympathisch, aber ich denke, dass sich das Kulturelle auch in anderen Formen weiterhin Beachtung verschaffen wird. Das sollten gerade politisch Handelnde mitbedenken, weil die analytische Geringschätzung von Kultur nicht selten zu fragwürdigen Einschätzungen der politischen Lage führt.

 

Dieser Artikel wurde durch den Open-Access-Publikationsfonds der Georg-August-Universität Göttingen gefördert.

Autor_innen

Moritz Ege beschäftigt sich im disziplinären Rahmen der Kulturanthropologie/Europäischen Ethnologie mit Pop(ulär)kultur, Stadtethnografie, Ungleichheitsverhältnissen, Ethik-/Ethisierungsforschung, vor allem in Deutschland und den USA.

mege@uni-goettingen.de

Literatur

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