Kritische Stadtexkursionen

Annäherung an eine reflexive Exkursionspraxis

Nils Grube, Katja Thiele

Kritische Perspektiven auf eine zum Alltag gewordene Forschungspraxis

Ob in der Stadt oder in der Peripherie, Exkursionen erheben Anspruch auf einen Zugriff auf unverstellte Wirklichkeit.[1] Im Kanon jeder Geograph*innenausbildung ist die Praxis einer ortsaufsuchenden Wissensvermittlung fest verankert. Aber auch in nicht-geographischen Disziplinen der Stadtforschung gehört es mittlerweile zum Alltag, ins Feld zu gehen.

Hierbei fällt auf, dass die ‚Praxis des Exkursierens‘ selten kritisch betrachtet wird. Der Stand der Literatur hinsichtlich einer kritisch-reflektierenden Auseinandersetzung mit Methodik und Didaktik von Exkursionen ist im deutschsprachigen Kontext bis auf wenige Ausnahmen eher überschaubar (Budke/Wienecke 2009; Dickel 2007; Dickel/Glasze 2009). Oftmals fehlen Verbindungen zwischen der didaktischen Literatur und konzeptionellen Fachdebatten; besonders das Potential alternativer und experimentellerer Ansätze des Raumerkundens findet selten Eingang in die Debatten (u. a. Adamek-Schyma 2008; Burckhardt 2006; Löfgren 1994; Sieverts 2007). Hinzu kommt, dass in der universitären (Aus-)Bildung die Methodenlehre immer noch zu oft belächelt wird.

Weil jedoch das ‚Raus-ins-Feld-Gehen‘ grundlegende Fragen von Positionalität und Vermittlung von Wissen sowie der Rolle der Exkursionsleitung aufwirft, hat die Kritische Geographie Berlin vor einigen Jahren begonnen, sich mit der Entwicklung einer kritisch-reflexiven Perspektive auf Exkursionen und der dazugehörigen didaktischen Grundlagen zu beschäftigen. Im Sinne einer kritisch-emanzipatorischen Bildung ist gerade nicht die reine Weitergabe kritischer Theorien entscheidend für die Aneignung von Wissen, sondern die kritische Diskussion über dahinterstehende Werte, Leitbilder und Normen (Bürk 2016; Getzin/Singer-Brodowski 2016; Heilgemeir et al. 2016). Im Mittelpunkt der eigenen inhaltlichen Auseinandersetzung standen deshalb die Fragen: Welche Rolle spielt das ‚Draußensein‘ eigentlich für die Wissensvermittlung und wie können kritische Exkursionsformate aussehen, die in der Tradition einer kritisch-emanzipatorischen Bildung stehen?

Als Grundlage für die folgende empirische Annäherung an eine kritische Exkursionsdidaktik dienten uns zum einen die Ergebnisse aus mehreren internen Workshops des Vereins Kritische Geographie Berlin. Zum anderen greifen wir in diesem Beitrag auch auf verschiedene Diskussionen zurück, die in den letzten sechs Jahren im Rahmen von Forschungswerkstätten der Kritischen Geographie in Berlin, Leipzig und Frankfurt sowie auf einer von den Autor*innen mitveranstalteten Podiumsdiskussion auf dem Deutschen Kongress für Geographie 2015 entstanden. Dadurch wurden bereits gesammelte Erkenntnisse wieder ‚ins Feld getragen‘ und fortlaufend reflektiert. Parallel dazu führt die Kritische Geographie Berlin seit 2013 eine alljährliche Reihe von kritischen Stadtspaziergängen durch, mit der sie nicht nur das Ziel verfolgt, verschiedene Inhalte und gegenwärtige Theorien der kritischen Geographie zu vermitteln und in räumliche Zusammenhänge zu stellen, sondern auch die Erprobung und Reflexion neuer Methoden und didaktischer Formate vorantreibt (Abb. 1).

Abb. 1 Flyer zu Kiezspaziergängen 2019 (Quelle: Gestaltung Katja Thiele, Foto Nils Grube)
Abb. 1 Flyer zu Kiezspaziergängen 2019 (Quelle: Gestaltung Katja Thiele, Foto Nils Grube)

Ausgehend vom Anspruch einer empirischen Annäherung wird in diesem Magazinbeitrag keine umfassende Auswertung zum Stand der Literatur vorgenommen. Vielmehr wird mit Hilfe einer ersten theoretisierenden Modellbildung die Bandbreite der verschiedenen Formate der Raumerkundung eruiert, um anschließend zwei Formate (Dérive und performative Interventionen) beispielhaft zu illustrieren und ihr transformatives Potential im Kontext von Exkursionen hervorzuheben. Aus den übergeordneten Reflexionen zur Exkursionsdidaktik ist zudem ein Leitfaden entstanden, der in Form eines Fragenkataloges an den Beitrag angefügt ist.[2] Dieser soll dabei helfen, Denkanstöße für die Entwicklung und Durchführung eigener kritischer Stadtexkursionen anzubieten.

Zur Ideologie der Exkursion in der Geographie

„Des Geographen Anfang und Ende – ist und bleibt das Gelände.“ (Daum 1982: 71)

Seit die Geographie sich als Wissenschaft der Beschreibung von Landschaften begreift, sind Exkursionen ein zentrales Element der Disziplin und fester Bestandteil in der dazugehörigen Lehre. Frühe didaktische Ansätze der konventionellen wie weit verbreiteten Übersichtsexkursionen (u. a. Behrmann 1944[3]) legitimierten sich durch den Leitgedanken einer „Schulung in Geländebeobachtung und Geländearbeit“ (Wirth 1968: 278). Ziel dabei ist, das in der Lehre an den Universitäten angesammelte Wissen im Feld wiederfinden, erschließen, vergleichen und reflektieren zu können. Die hier fest verankerte Deutungshierarchie bei der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der räumlichen Erkundungen erscheint nicht nur hinsichtlich der für den Erkenntnisgewinn nötigen Erfahrung im Beobachten fragwürdig. Auch bleiben Fragen zur Positionalität und zum Einfluss des Forschenden auf das Feld (und damit der Evidenz der erzielten Ergebnisse) völlig unbeantwortet oder weitgehend unterbelichtet. Derartige Ansätze der Exkursionsdidaktik verorten sich gleichzeitig in einer Geographie als Raumwissenschaft, die den zu untersuchenden Raum in seinem territorialen Ausschnitt abgrenzt und die in ihm „enthaltenen Sachverhalte der physisch-materiellen Welt beschreibt und analysierte“ (Budke 2009: 11).

Dieses Selbstbild der geographischen Wissenschaft unterliegt seit den 1960ern mit dem einsetzenden spatial turn und der Abkehr vom klassischen ‚Container‘-Raumverständnis einem Wandel. Die daran anschließende Entwicklung einer postmodernen, konstruktivistisch orientierten Exkursionsdidaktik lässt sich seit den 1970er Jahren besonders im Kontext der zunehmenden Lernzielorientierung im Geographieunterricht verfolgen (Neeb 2010: 39, 42). Hieran anknüpfenden methodischen und didaktischen Ansätzen (siehe u. a. Adamek-Schyma 2008; Budke/Wienecke 2009; Burckhardt 2006; Dickel 2007; Dickel/Glasze 2009; Löfgren 1994; Rolfes/Steinbrink 2009; Scharvogel/Gebhardt 2009; Sieverts 2007) verdanken wir erste markante Hinweise auf die Konstruktionsleistung der Subjekte bei der Erfahrung von Welt und die Wahrnehmung einer Vielzahl möglicher Perspektiven. Besonders der Aspekt der multiperspektivischen Erfahrung des Raums taucht in der Literatur immer wieder als relevante Dimension von Konstruktion, Rekonstruktion und Dekonstruktion auf (Neeb 2010: 45 ff.). Nicht zuletzt deshalb dienten uns derartige Perspektiven einer konstruktivistischen (Exkursions-)Didaktik über die vergangenen Jahre als Ausgangspunkt für das Erproben eigener Formate und Methoden.

Orientierungsschema für eine ‚kritische‘ Praxis der Raumerkundung

Um sich den offenen Fragen zur Annäherung an eine ‚kritische‘ Exkursionspraxis zu stellen, hat sich die Kritische Geographie Berlin in einen (Selbst-)Reflexionsprozess begeben. Basis hierfür waren nicht zuletzt die eigens durchgeführten kritischen Stadtspaziergänge. Seit 2013 organisieren Mitglieder, Freund*innen und Netzwerkpartner*innen im monatlichen Turnus Stadtexkursionen zu alternativen und kritischen Themen. In der Veranstaltungsreihe von 2019 gehörten hierzu beispielsweise selbstorganisierte Mieter*innenkämpfe gegen Aufwertung und Verdrängung, das zähe Ringen um bezahlbaren Wohnraum oder die Zukunft der Großwohnsiedlungen (siehe Abb. 1). Das Aufgreifen marginalisierter Perspektiven stand dabei genauso im Zentrum wie hinter die Fassaden zu schauen, die Konstruiertheit von Problemen in den Blick zu nehmen oder Wissenschaft und stadtpolitische Praxis zusammenzubringen.

Obwohl jedoch durchweg darauf Wert gelegt wurde, mit den Teilnehmer*innen stärker in Interaktion zu treten als es sonst bei Exkursionen üblich ist, unterschieden sich die konkreten didaktischen Formate erheblich. Jede*r Einzelne hatte sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, welche Formate sich eignen, um transformative Lernprozesse anzustoßen und wie diese auf die Vermittlung kritischer Denkfähigkeit wirken. Im Laufe der Zeit ergab sich bei vielen Beteiligten der Wunsch nach einem internen Austausch über gemeinsame Kriterien einer kritischen Exkursionsdidaktik.

Was macht also eine Exkursion zu einer ‚kritischen Exkursion‘? Überraschenderweise ist die Antwort gerade nicht die, dass die Exkursionsformate einheitlich in Bezug auf ihre inhaltliche Ausrichtung, didaktischen Grundzüge oder methodischen Mittel sein sollten; die Kritik besteht vielmehr darin, die Diversität von Raumerfahrung sichtbar zu machen. Die innerhalb der eigenen Exkursionsreihe ausprobierten Praktiken des Exkursierens geben sogar zahlreiche Hinweise auf die sehr unterschiedlichen Konstruktionsleistungen sowohl der Exkursionsleitenden als auch der Teilnehmer*innen bei der Erfahrung von Welt und die Wahrnehmung einer Vielzahl möglicher Perspektiven auf diese. Obwohl deutlich wurde, dass es nicht ‚die‘ eine Form der richtigen Exkursion geben kann, sondern vielmehr eine Bandbreite von sinnvollen Exkursionsformaten, war der Versuch einer Systematisierung verschiedener Exkursionsformate ein notwendiger Teil des gemeinsamen Reflexionsprozesses. Die Diskussionen haben gezeigt, dass bei der Konzeption kritischer Formate vor allem der Zusammenhang zwischen zwei Dimensionen relevant ist: den Ansprüchen an die zu vermittelnde Art der Raumerfahrung und den dafür sinnvollen Interaktionsformen. Quer zu diesen lassen sich wiederum verschiedene Formate der Raumerkundung vorstellen. Um herauszufinden, wie stark Raum objektiviert in die Exkursionspraxis Eingang finden und wie stark die Wissensvermittlung ‚top down‘ durch die Exkursionsleiter*in erfolgen soll, ist es sinnvoll, sich entlang dieser Skalen zu orientieren. Je nach Art der Raumerfahrung sind dann beispielsweise andere Dinge zu beachten.

Arten der Raumerfahrung

Wenn auch der Begriff ‚Exkursion‘ gängig erscheint, muss auf der Ebene der (dabei zu vermittelnden) Raumerfahrung grundsätzlich zwischen drei Formen unterschieden werden. Neben der Exkursion selbst zählen hierzu die Formen der Intervention und der Exploration (siehe Abb. 2).

Exkursion: Schon vor Beginn der Exkursion steht fest, an welchen Ort sie führt. Von einer gesellschaftlichen Konstruiertheit von sozialem Raum ausgehend, ist damit verbunden, dass über den Ort bereits Wissen existiert und in den Köpfen aller Beteiligten Raumbilder und Assoziationen entstehen, die den Blick und damit die anschließende Raumerfahrung vorstrukturieren. Ziel der Exkursion ist es, bereits bekanntes Wissen weiterzugeben, sei es von einem Guide an die Teilnehmer*innen – oder in partizipativen Formaten durch den Austausch untereinander. Das existierende Wissen des Einzelnen kann so außerdem intersubjektiv überprüft und ergänzt werden.

Intervention: Die Intervention findet ebenfalls an einem zuvor bestimmten beziehungsweise bekannten Ort statt, folgt jedoch im Gegensatz zur Exkursion einem klar definierten (Planungs-)Auftrag oder zumindest einem Veränderungsanspruch für einen konkreten Raumausschnitt. Ein direkter Einfluss auf beziehungsweise Eingriff in das Feld ist beabsichtigtes Ziel und unterscheidet diese Form von den anderen beiden Formen.

Exploration: Im Gegensatz zur Exkursion und Intervention dient die Exploration der Entdeckung des Unbekannten. Dabei wird quasi in der historischen (und selbstverständlich hochgradig ambivalenten) Tradition einer Expedition (Gräbel 2015) Neuland erschlossen – und zwar sowohl für die Exkursionsleitung als auch für die Teilnehmer*innen. Durch die Exploration wird einerseits gänzlich neues Wissen hervorgebracht, andererseits erfordert das Format neben der Selbstreflexion die ständige Reflexion des Unbekannten, um dieses ins Verhältnis zu bereits Bekanntem zu setzen. Bereits in den 1970ern gab es erste Ansätze, eine solche Art der Raumerkundung in die kritische Praxis zu integrieren, etwa bei einer Erforschung von Ermächtigungsprozessen in durch Rassismus stigmatisierten Stadtquartieren (vgl. Bunge 1969, 1971).

Abb. 2 Dimensionen kritischer Exkursionsdidaktik: rot hervorgehoben sind von den Autor*innen selbst durchgeführte Formate (Quelle: Kritische Geographie Berlin 2014-2019)
Abb. 2 Dimensionen kritischer Exkursionsdidaktik: rot hervorgehoben sind von den Autor*innen selbst durchgeführte Formate (Quelle: Kritische Geographie Berlin 2014-2019)

Interaktionsformen

Exkursionsformate können sich erheblich darin unterscheiden, welche Ansprüche sie an das Vorwissen der Teilnehmer*innen und die anvisierten Raumerfahrungen stellen. So hat neben der Art der Raumerfahrung die jeweilige Art der Interaktion erheblichen Einfluss darauf, wie Teilnehmer*innen mit dem Raum in Beziehung treten, in dem sie sich bewegen, und welche Lernerfahrungen sie dadurch machen. Hierbei lässt sich unterscheiden zwischen der top-down geführten Exkursion in einer größeren Gruppe und der vollständig autonomen Raumerkundung des Einzelnen. Dazwischen angesiedelt werden können Mischformen wie beispielsweise die durch einen Guide geleitete Exkursion, die den Austausch der Teilnehmer*innen teilweise zulässt, partizipative Exkursionsformate, bei denen gemeinsam Wissen angeeignet und geteilt wird, sowie Exkursionsformate, bei denen die Teilnehmer*innen in kleinen Gruppen direkt in den Austausch miteinander treten.

In nahezu allen Diskussionen zum Thema wurde deutlich, dass die Frage nach den geeigneten Interaktionsformen darauf verweist, dass Methoden und Erkenntniswege der kritischen (Stadt-)Forschung nicht unabhängig voneinander zu denken sind. Eine kritische Exkursionsdidaktik muss sich, wie kritische Bildung im Allgemeinen, dem komplexen Verhältnis von Form und Inhalt stellen und an vielen Punkten gleichzeitig ansetzen. Entscheidend ist das Verhältnis der Exkursionsleitung zu den Exkursionsteilnehmer*innen. Wenn wir als Exkursionsleitende auftreten, haben wir durch unsere Rolle einen großen Einfluss auf die Raumerfahrung und -reflexion von Teilnehmenden. Im Sinne einer Subjektorientierung und um Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, ist es wichtig, Hierarchien zu durchbrechen oder soweit wie möglich abzubauen. Da kritisches Denken und das Initiieren partizipativer Teilnahme vor allem Zeit und Raum brauchen, ist außerdem prozessuales Denken nötig. Das bedeutet einerseits Mut, sich abseits der Trampelpfade zu bewegen – inhaltlich wie methodisch – und andererseits, sich auf Unvorhergesehenes einzulassen.

Damit Teilnehmer*innen die Vielperspektivität im Rahmen von Exkursionen verstehen können, ist die Rückkopplung der Inhalte und Formate entscheidend. Dies kann durch das kritische Hinterfragen der eigenen Rolle (in der Gruppe und im Raum) sowie durch Feedback in der Gruppe aktiviert werden. Nur wenn die Teilnehmer*innen verstehen, dass unser Blick auf die Wirklichkeit nie unverstellt ist und Theorien und Methoden des Raumerkundens stark miteinander verwoben sind, können sie kritisch-reflektierte Positionen beziehen.

Formate der Raumerkundung

Das sich aus den beiden beschriebenen Dimensionen ergebende Raster ermöglicht die Zuordnung verschiedener didaktischer Formate der Raumerkundung. Hinsichtlich der von uns selbst durchgeführten Formate (siehe Abb. 2, rot markiert) lässt sich eine Tendenz zu Ansätzen erkennen, die auf eine Sensibilisierung für individuelles Raumerleben Wert legen. Hierzu zählt vor allem das Format des Kiezspaziergangs, der für uns eine vorbereitete und durch uns geleitete, jedoch vor allem durch den gemeinsamen Austausch bestimmte Raumerkundung darstellt. Doch auch andere, stärker partizipative und kleingruppenbezogene Methoden kamen zur Anwendung. Die aus den Sozialwissenschaften entnommene Methode der Aktions(raum)forschung beispielsweise bedient sich einer Interaktionsmethodik, die Forschende und Beforschte in einen gemeinsamen und ko-produktiven Handlungs- und Reflexionsprozess versetzt. Hinsichtlich der Art der Raumerfahrung ist eine direkte Einflussnahme im Feld beabsichtigt, durch die Wiederholung von Inhalten und zyklisch angeordnete Aktions- und Reflexions-Phasen wird die Trennung von Theorie und Praxis, also zwischen einem wissenschaftlichen Blick und dem Blick des politischen Subjektes, aufgehoben (Fricke 2013: 214). In Anlehnung an theoretische Überlegungen von Lucius Burkhardt (2006) und Boris Sieverts (2007) nutzen auch Formate wie der Wahrnehmungsspaziergang oder die Spurensuche individuellere Methoden der Interaktion. Ihr Ziel ist es, dominante Wahrnehmungsformen zu hinterfragen, indem sich in kleinen Gruppen oder allein der (sinnlichen) Wahrnehmung von Raum hingegeben wird, wie zum Beispiel in Form von soundwalks (Semidor 2006) oder einer fotographischen Annäherung. Partizipative Methoden wurden dabei wiederum häufig eingesetzt, um anschließend den Austausch von Wahrnehmungen zwischen den Teilnehmer*innen anzuregen.

Anhand von zwei weiteren Praxisbeispielen aus dem Programm der kritischen Stadtspaziergänge in Berlin soll im Folgenden illustriert werden, wie diese durchgeführt wurden und inwiefern sich solche Formate als kritisch verstehen lassen. Beleuchtet werden zum einen die Spielart des Dérives und zum anderen die experimentelle Raumerkundung in Form einer performativen Intervention.

Praxisbeispiele

Dérive, Praxis des Umherschweifens

„In a dérive one or more persons during a certain period drop their relations, their work and leisure activities, and all their other usual motives for movement and action, and let themselves be drawn by the attractions of the terrain and the encounters they find there.“ (Debord 1956)

Der Begriff ‚Dérive‘ geht zurück auf den französischen Autor und Künstler Guy Debord und die durch ihn mitbegründete Gruppe der Situationistischen Internationale (SI) in den 1950er Jahren (Debord 1955, 1956; Adamek-Schyma 2008: 408). Bis heute vielfach durch stadtpolitische Initiativen aufgegriffen, stellt der von der SI ins Leben gerufene Slogan „Unter dem Pflaster liegt der Strand“ das Verhältnis von Subjekt und Raum in Frage. Er verweist sogleich auf den Anspruch, (post-)marxistische Theorie(n) in eine revolutionäre Praxis des Erkundens und Aneignens von Raum zu übersetzen. Es lässt sich hierbei jedoch weniger von einem ausgearbeiteten Konzept sprechen als vielmehr von einer Art Exkursionspraxis, die die radikale Kritik an den Formen kapitalisierter Verhältnisse und der daraus hervorgehenden Urbanität selbst zu ihrem Gegenstand macht. Die Annahme dahinter ist, dass die materielle physische Umgebung erheblichen Einfluss auf unsere Wahrnehmung sowie das psychische Erleben von Raum (Psychogeographie) und das individuelle Verhalten hat (Debord 1955). Im Sinne der gesellschaftlichen Transformation müsse jenen kapitalisierten Verhältnissen die Praxis des „bewusst strategische[n] [,] jedoch experimentelle[n] Umherschweifen[s]” (Adamek-Schyma 2008: 415) entgegengesetzt werden, die mit den Logiken des Bestehenden bricht, indem sie sie zuerst zu verstehen und dann zu überwinden sucht. Auch wenn das Prinzip des Zufalls für die Situationist*innen eine wichtige Rolle gespielt hat, ging es ihnen nicht darum, sich einfach treiben zu lassen. Ganz im Gegenteil: Das Umherschweifen diente insbesondere als Methode zur gezielten kritischen Auseinandersetzung mit den Regeln und Gesetzen der gebauten Umgebung (Adamek-Schyma 2008: 416). Diesen Regeln wurde sich jedoch ganz unterschiedlich und durchaus kreativ genähert. SI-Aktivist*innen bewegten sich in der Gruppe durch die Stadt und änderten beispielsweise Anweisungen auf Schildern ins Gegenteil, nahmen bewusst verschiedene räumliche Perspektiven ein, versuchten sich zu verlieren oder provozierten gezielt Situationen.

Im Rahmen der Kiezspaziergänge von Kritische Geographie Berlin e. V. wurden Ansätze des Dérive aufgegriffen und über mehrere Jahre verschiedene Methoden ausprobiert. Besonders interessierte die Frage, wie das Umherschweifen als Praxis im Rahmen von Exkursionen dazu dienen kann, die kritische Auseinandersetzung mit der Umgebung zu vermitteln und inwiefern diese angeleitet werden kann und sollte. Dabei haben sich vor allem ein partizipativer Ansatz (d. h. die Aufgabe der eigenen Rolle als Exkursionsleitung zugunsten eines gemeinsamen Erkundens) und das Erkunden und parallele gemeinsame Reflektieren in Kleingruppen als sinnvoll erwiesen. Ausgangspunkt des Dérive sollte ein Ort sein, der einem möglichst unbekannt ist, wobei es sich sowohl um einen einzelnen Häuserblock als auch um einen ganzen Stadtteil oder aber eine spezifische Straßenecke handeln kann. Im Rahmen der Kiezspaziergänge haben wir das Ziel deshalb teilweise durch gemeinsames Würfeln entschieden (siehe Abb. 4), damit auch die Exkursionsleitenden sich in keiner Weise auf den Ort des Geschehens vorbereiten konnten. Die anschließende Erkundung folgte keinem zuvor festgelegten Plan, sondern entstand in Abhängigkeit von den Interessen und Blickwinkeln der Teilnehmer*innen und in Reaktion auf die spezifischen örtlichen Begebenheiten. Die Praxis des Umherschweifens erfordert aufseiten der Teilnehmer*innen die Fähigkeit, sich auf etwas Neues, Unkonventionelles einzulassen, dessen Ausgang kein*e Teilnehmer*in vorhersehen kann. Es handelt sich dementsprechend um eine Form der Exploration, die je nach Zielsetzung auch zur Intervention werden kann.

Um die Hürde des Neuen zu nehmen und die Teilnehmer*innen zu animieren, etwas auszuprobieren, haben wir zu Beginn kleine Hefte ausgeteilt, in denen anregende Zitate oder Aufforderungen der SI zu finden sind (bspw.: „Schau hinter die Fassade“, „Folge der Spur“). Ausgehend davon waren die Teilnehmer*innen dazu aufgerufen, in kleinen Gruppen (von maximal vier Personen) eigene Erfahrungen zu machen und die Grenzen der Umgebung und die eigenen Hemmschwellen zu erkunden und zu besprechen. Nach einer Phase des Umherschweifens kamen alle Gruppen wieder zusammen und wurden gebeten, erst in den Kleingruppen und dann in der großen Gruppe in eine gemeinsame Auswertung zu treten (siehe Abb. 3). Während die Trennung von Exkursionsleitung und Teilnehmer*innen während des Dérive aufgehoben war, wurde diese zweite Phase stärker angeleitet (bspw. durch gezielte Fragen) und durch einen Input zu den Zielen der SI ergänzt.

Abb. 3	undAbb. 4	Umsetzungsbeispiele Dérive (Quelle: Foto Katja Thiele)
Abb. 3 und Abb. 4 Umsetzungsbeispiele Dérive (Quelle: Foto Katja Thiele)

In Bezug auf die Frage nach den Potentialen des Dérive für kritische Stadtexkursionen lässt sich festhalten, dass sich dadurch eine ganze Reihe von Transformationspotentialen im Sinne kritisch-geographischer Bildung entfalten (u. a. Problemlagen erfassen, Zusammenhänge und Komplexität verstehen, die eigene Rolle und Positionalität erkennen, theoretische Überlegungen, Prozess- und Handlungskompetenz praktisch anwenden). Die Erfahrung hat jedoch auch gezeigt, dass es ein paar Besonderheiten gibt, die berücksichtigt werden müssen. Es ist sinnvoll, besonders für das Umherschweifen, eine gewisse Zeit (mindestens 90 Minuten) einzuplanen – oder gar zwei Phasen durchzuführen, unterbrochen durch einen kurzen Austausch. Denn die Kraft dieser Art von Exkursionen entwickelt sich sowohl in Abhängigkeit zur vorhandenen Zeit als auch durch das wachsende Vertrauen der Teilnehmer*innen untereinander.

Performative Intervention

Im Gegensatz zum Dérive, bei dem sich das Format der Raumerkundung aus der Anwendung einer bestehenden Methodik ergab, hat sich das zweite Beispiel der performativen Intervention aus der inhaltlichen Auseinandersetzung mit einem aktuellen Thema abgeleitet und entwickelt. Bei einigen vorherigen Workshops, die die Kritische Geographie Berlin 2012 und 2013 durchführte, wurden die zunehmenden Konflikte um den Tourismus in Berlin als Anstoß genutzt, eine eigenständige Position zum Phänomen Touristifizierung zu entwickeln (Kritische Geographie Berlin 2014). In Folge bot es sich an, die dabei gewonnenen Erkenntnisse auch in Form eines Kiezspaziergangs ins Feld zu tragen und einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.

Eine zentrale Feststellung bei den Workshops war, dass es im Zuge der sich auflösenden Grenze zwischen Tourismus und Alltag (Larsen 2008) immer schwieriger erscheint, Tourist*innen von der Vielzahl anderer temporärer (Stadt-)Nutzer*innen zu unterscheiden. Gleichzeitig ist es jedoch gerade ‚der Touri‘, der von Teilen der lokalen Bevölkerung als sichtbares Zeichen für den sozialen Wandel und als Treiber von Verdrängungsprozessen vielfach und teilweise überraschend offen kritisiert wird (Füller/Michel 2014; Novy 2013).[4] In Anbetracht dieses ambivalenten Spannungsverhältnisses im Umgang mit Tourist*innen und auch mit Sicht auf die besonderen Wirkungen, die touristische Praktiken gerade in den betroffenen Vierteln auszulösen scheinen, ergab sich ein grundlegendes Problem: Wie kann es gelingen, die Konflikthaftigkeit von Tourismus und die Touristifizierungsprozesse in städtischen Quartieren vor Ort in Form eines gemeinsamen Stadtspaziergangs zu vermitteln oder zu erkunden, ohne von außen selbst als touristische Gruppe wahrgenommen zu werden und somit genau die zu untersuchenden Konflikte zu (re-)produzieren?

Um das Dilemma lösen zu können, blieb als einzige Möglichkeit, sich genau diesen Umstand bewusst zunutze zu machen. Die Teilnehmer*innen des Spaziergangs wurden kurzerhand dazu aufgefordert, selbst in die Rolle des/der ‚Tourist*in‘ schlüpfen. Getreu dem Titel des Kiezspaziergangs „You are a tourist!“ galt es, durch die bewusste Einnahme der Rolle des ‚Touristen‘ und temporären ‚Aufführungen von Tourismus‘ im Stadtraum mehr über Wahrnehmung und Wirkung von Tourismus zu erfahren und den Ort gleichzeitig durch ein aktives Einwirken zu ‚touristifizieren‘.[5] Hilfestellung lieferten theoretische Ansätze aus der kulturgeographischen Stadt- beziehungsweise Tourismusforschung. Insbesondere die performanztheoretische Perspektive, mit der gezielt auf die Art und Weise der Ausübung und Wirkung von (touristischen) Praxen geschaut wird, bot sich als vielversprechender Anknüpfungspunkt an (Dirksmeier/Helbrecht 2015). Diese baut auf den Überlegungen Erving Goffmans auf, nach denen der Natur allen sozialen Lebens ein Drama zugrunde liegt. Entsprechend sei es den Regeln des Theaters unterworfen (Goffman 1959). Im eigens entwickelten Ansatz der performativen Interventionen wurden diese theoretischen Grundgedanken mit künstlerischen Ansätzen des Straßentheaters (z. B. Improv Everywhere 2018), des sozialen Feldexperiments (Eifler 2014) und Formen von räumlichen Interventionen kombiniert, die zu Irritationen von Alltagsstrukturen führen und der Provokation von Reaktionen dienen. Für letztere war unter anderem die Methode der Zweckentfremdung (détournement), die ebenfals von der Situationistischen Internationale entwickelt wurde, eine wichtige Referenz (Debord/Wolman 1956).

Ausgewähltes Untersuchungsfeld unserer performativen Interventionen war der Reuterkiez in Berlin-Neukölln. Dieser wird in den vergangenen Jahren im öffentlichen Diskurs oft als Beispiel sowohl für den angestiegenen Off-the-beaten-track-Tourismus in Berlin als auch für die durch Tourismus verursachten Nachbarschaftskonflikte genannt. Bevor jedoch die performativen Interventionen durchgeführt werden konnten, mussten die Teilnehmer*innen des Kiezspaziergangs schrittweise und mithilfe einer ganzen Reihe unterschiedlicher Methoden und didaktischer Formate vorbereitet werden. Nachdem bereits in der Einladung auf das bevorstehende Unterfangen hingewiesen wurde, führte im ersten Schritt ein kurzer Rundgang und ein Input zu der Geschichte des Quartiers inklusive der jüngsten touristischen Entwicklungen ins Untersuchungsfeld ein. Ein gemeinsamer Open-Air-Workshop half anschließend dabei, sich in die performanztheoretische Perspektive Goffmans einzuarbeiten. Über vier Hilfsfragen bestimmten die Teilnehmer*innen dabei selbst über (1) die später aufzuführenden touristischen Szenen und Dramaturgien, (2) hierfür benötigte Requisiten, (3) mögliche Bühnen und Kulissen der Aufführungen sowie (4) die zu erzielenden (positiven wie negativen) Publikumsreaktionen (siehe Abb. 5). Letztere dienten schließlich als Ausgangspunkt für die Konzipierung der performativen Interventionen in Kleingruppen. Die Fragestellungen dabei waren: Welche Reaktionen wollen wir wie hervorrufen? Welche Sinnzusammenhänge gilt es auf den Kopf zu stellen?

So vorbereitet ging es dann ins Feld (siehe Abb. 6). In einer anderthalbstündigen Versuchsphase wurde in einem zirkulären Forschungsprozess schrittweise interveniert, analysiert, reflektiert und erneut interveniert. Trat das erhoffte Ergebnis nicht ein, wurde der experimentelle Versuchsaufbau beziehungsweise -ablauf angepasst. Hierdurch war es möglich, die Experimente durch verschiedene Intensitäten oder den Wechsel der Szenerie zu erweitern und somit verschiedene Ergebnisse zu erzeugen.

Abb. 5	und Abb. 6	Ergebnisse Open-Air-Workshop zur Ausgestaltung der performativen Interventionen und praktisches Umsetzungsbeispiel (Quelle: Fotos Helen Hebing, Nils Grube)
Abb. 5 und Abb. 6 Ergebnisse Open-Air-Workshop zur Ausgestaltung der performativen Interventionen und praktisches Umsetzungsbeispiel (Quelle: Fotos Helen Hebing, Nils Grube)

Nach der Versuchsphase trafen alle Kleingruppen für einen abschließenden gemeinsamen Austausch über die Raumerfahrungen wieder zusammen. Die Gespräche zeigten, dass es den Teilnehmer*innen oft nicht leichtgefallen war, konkrete Reaktionen zu provozieren, um mehr zur (negativen) Außenwahrnehmung von Tourismus im Versuchsfeld zu erfahren. Ein Grund hierfür lag sicherlich an der recht kurzen Versuchsphase. Auf der anderen Seite konnten nahezu alle Teilnehmer*innen im Anschluss an die Interventionen berichten, ein tieferes Verständnis der Wirkungsweisen von sozialen Interaktionen im öffentlichen Raum und die besondere Bedeutung des Einnehmens und Ausübens von sozialen Rollen gewonnen zu haben. Hierin liegt letztlich dann auch die besondere Stärke des Formats, da es gemäß des in diesem Beitrag formulierten Anspruchs kritischer Stadtexkursionen den Aspekt der Positionalität und des Eingriffs des Forschenden ins Feld besonders hervorhebt. Gleichzeitig ermöglicht das entwickelte Vorgehen über den stufenartigen Aufbau und die Vielzahl an unterschiedlichen Methodiken und Interaktionsformen einen intensiven Reflexionsprozess zu den individuellen wie kollektiven Raumerfahrungen.

Zusammenfassung und Ausblick

In diesem Beitrag haben wir die zentralen Ergebnisse und Erkenntnisse einer Auseinandersetzung mit dem Thema der Exkursionsdidaktik vorgestellt. Wie sich zeigte, besteht hinsichtlich der Ansprüche an eine kritische Exkursionsdidaktik ein Zusammenhang zwischen der Art der Raumerfahrung und den angewendeten Interaktionsformen. Beide Dimensionen haben einen erheblichen Einfluss auf die konkrete Gestaltung kritischer Exkursionsformate. Eine Beobachtung aus den vergangenen Jahren ist, dass sich solche Exkursionsformate in der Praxis verschiedener Interaktionsformen bedienen, um der Komplexität der unterschiedlichen Perspektiven auf einen Ort oder eine Thematik gerecht zu werden. Je nachdem, ob die Exkursion als politische und/oder kollektive Praxis verstanden wird, ist es sinnvoll, verschiedenste Methoden aus Wissenschaft und politischer Praxis anzuwenden und kontextbezogene, multiperspektivische Verfahren zu entwickeln, die den oder die Betrachter*in, aber auch den Ort in seinen Bedeutungen mit einbezieht und zu dialogischen Auseinandersetzungen mit der ‚Realität‘ führt. Inhalt, Form und Zielgruppe stehen dabei in enger Wechselwirkung und was jeweils kritisch ist, hängt maßgeblich vom Kontext ab. In der Praxis kann das etwa bedeuten, dass bei einer Exkursion zum Klimawandel die Modalitäten des Reisens und ihre Folgen in den Blick genommen werden. Das würde die Frage ins Zentrum rücken, inwiefern klimabedrohende Entwicklungen nur vor Ort erfahrbar gemacht werden können. Bei einer Exkursion zum Thema postkoloniale Stadt hingegen muss die Auseinandersetzung mit dem, was und wie wir sehen, selbst im Fokus stehen. Im Zusammenhang mit der Berücksichtigung von Aspekten des Ableismus[6] wiederum wären Methoden sinnvoll, die eine intersubjektive Reflexion von Unterschieden und Möglichkeiten der Bewegung und Wahrnehmung im Raum ermöglichen.

Abschließend ist es uns wichtig zu betonen, dass es sich bei dem hier unternommenen Versuch der Systematisierung lediglich um einen ersten Aufschlag handelt, der als Sortierungshilfe für die kritische Überprüfung und Entwicklung alternativer Exkursionsformate dienen soll. Davon ausgehend, dass es den ‚reinen‘, ‚authentischen‘ Ort, der durch Exkursionen aufgesucht werden kann, nicht gibt und die Praxis des Exkursierens Teil der alltäglichen Produktion von Räumen beziehungsweise der angesteuerte Raum kein Container-Raum ist, gibt es auch nicht ‚die‘ eine kritische Exkursionsmethodik. Es kommt auf die Art der Inanspruchnahme von Raum und Partizipation an. Das ist besonders wichtig, um eine falsche Objektivierung des Raums zu vermeiden. Vor dem Hintergrund der Komplexität der Thematik ist außerdem eine Weiterentwicklung des vorgestellten Modells denkbar, wenn nicht sogar nötig. Ergänzen ließen sich beispielsweise weitere relevante Strukturierungsebenen, die sich nicht in ein zweidimensionales Schema integrieren lassen: a) die zeitliche Dimension, b) verschiedene Formen der Repräsentation von Raum als Medium, c) die etwa im Rahmen von Interventionen verwendeten Daten, oder d) die persönliche Nähe zum Untersuchungsfeld. Hieran könnten weiterführende Reflexionen, aber auch die Entwicklung neuer Formate anknüpfen. Ganz im Sinne der Stärkung der kritischen Exkursionspraxis möchten wir abschließend insbesondere letztere durch den Leitfaden zur Entwicklung, Durchführung und Auswertung von kritischen Stadtexkursionen, der im Anhang dieses Beitrags zu finden ist, unterstützen und zum munteren Erproben auffordern!

Dieser Artikel wurde durch den Open-Access-Publikationsfonds der Technischen Universität Berlin gefördert.

Endnoten

Autor_innen

Katja Thiele beschäftigt sich in ihrer Dissertation mit städtischen sozialen Infrastrukturen. Sie ist Mitglied der Kritischen Geographie Berlin e.V., Freundin des Dérive und engagiert sich für kritische Bildung in Theorie und Praxis.

kthiele@uni-bonn.de

 

Nils Grube ist Stadtgeograph und forscht zu Politiken im Umgang mit städtischen Touristifizierungskonflikten. Beim Kritischen Geographie Berlin e.V. ist er Teil der Organisation der jährlichen Kiezspaziergänge-Reihe.

n.grube@isr.tu-berlin.de

Literatur

Adamek-Schyma, Bernd (2008): Psychogeographie heute. Kunst, Raum, Revolution? In: ACME: An International E-Journal for Critical Geographies 7/3, 407-432.

Behrmann, Walter (1944): Geographische Exkursionen. In: Geographische Zeitschrift 50/1-2, 1-10.

Budke, Alexandra (2009): Kompetenzentwicklung auf geographischen Exkursionen. In: Alexandra Budke / Maik Wienecke (Hg.), Exkursion selbst gemacht. Innovative Exkursionsmethoden für den Geographieunterricht. Schriftreihe Praxis Kultur- und Sozialgeographie (PKS) 47. Potsdam: Universitätsverlag, 11-20.

Budke, Alexandra / Wienecke, Maik (2009): Exkursion selbst gemacht. Innovative Exkursionsmethoden für den Geographieunterricht. Schriftreihe Praxis Kultur- und Sozialgeographie (PKS) 47. Potsdam: Universitätsverlag.

Bunge, William (1969): Field notes I. Discussion paper No. 1. Detroit Geographical Expedition, East Lansing. http://freeuniversitynyc.org/files/2012/09/FieldNotesIDGEI.pdf (letzter Zugriff am 17.9.2019).

Bunge, William (1971): Fitzgerald: Geography of a revolution. Athens: University of Georgia Press.

Burckhardt, Lucius (2006): Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft. Berlin: Martin Schmitz Verlag.

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Leitfaden zur Entwicklung, Durchführung und Auswertung
von kritischen Stadtexkursionen

I. PERSÖNLICHER ZUGANG

  • Wie würdest du deinen eigenen Zugang zum Thema beschreiben?
    [aktivistisch, politisch, wissenschaftlich, etc.]
  • Welche Motivation liegt deinem Sendebewusstsein zu Grunde?
    [zivilgesellschaftliches Engagement, politische Bildung, etc.]
  • Wie hast du dich selbst dem Themenfeld angenähert?
    [(Raum-)Theoretisches Wissen aus (Selbst-)Studium, empirisches Wissen, Alltagswissen, Lesen, Recherche, etc.]
  • Wie wird bei dir der Raum behandelt?
    [konstruktivistisch, performativ, sozial, diskursiv, materiell, historisch, transformativ, etc.]

II. VORSTELLUNGEN ZUR DIDAKTIK

  • Welche didaktischen Vorüberlegungen hast du angestellt?
    [Didaktik im Sinne von: WAS bzw. WELCHES ZIEL soll WIE erreicht werden]
  • Welchen Ort hast du ausgewählt und warum? Welche Rolle spielt er für das Exkursionsziel?
  • Wird während der Exkursion auf Theorien der kritischen Geographie Bezug genommen? Falls ja, werden diese benannt oder sind sie als Basis für bestimmte Argumentationsstränge entscheidend?
  • Welche Interaktionsformen wählst du während der Exkursion? Warum?
  • Welche Bedeutung hat die eigene Involvierung für das Erkenntnisinteresse der Exkursion?
  • Nutzt du bestimmte Methoden (Partizipation, Gruppenarbeit, Interviews, Mental Maps, Spiele, Diskussionsmethoden, etc.) für die Exkursion? Wenn ja, welches Ziel verfolgst du jeweils damit?
  • Lassen sich diese Methoden nur während einer Exkursion im Feld umsetzen?
  • Wie würdest du die Art der Raumerfahrung beschreiben, die durch sie ermöglicht wird?

III. REFLEXION

  • Wie ist es gelaufen? Wie passen Vorüberlegung und Ergebnis zueinander?
  • Wie bewertest du dein eigenes Exkursionsformat/-setting insgesamt und wie haben es die Teilnehmer*innen bewertet?
  • Inwiefern haben die von dir gewählten Methoden dazu beigetragen, dein Ziel zu erreichen und welche Bedeutung haben sie aus deiner Sicht für die Exkursionsteilnehmer*innen gehabt?
  • Braucht es die Exkursion als Format, um die Ziele zu erreichen? Falls ja, was macht das Format so bedeutend bzw. welche Rolle spielt das ‚Draußensein‘ für die Wissensvermittlung?