„Ich bin ja nicht umgezogen, aber meine Wohnung, die liegt […] irgendwie ganz woanders als vor sieben Jahren.“ (Interview mit Niko 2018)
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, wie das Städtische in seiner zunehmenden Komplexität empirisch erfassbar wird.[1] Theoretischer Ausgangspunkt ist der Begriff der Konjunktur. In der Stadtforschung wurde dieser Begriff von Eric Sheppard et al. (2015: 1957) vorgeschlagen, um zu erfassen, wie sich weitreichende Entwicklungen zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem konkreten städtischen Ort auf spezifische Art ausdrücken. In der Migrationsforschung fragen Ayşe Çağlar und Nina Glick Schiller (2018) wiederum danach, wie und für wen sich, orientiert an ebensolchen raum-zeitlichen Konjunkturen, der alltägliche Handlungsspielraum verändert. Der Aufsatz setzt vor diesem Hintergrund an und versucht zu verstehen, wie sich weitreichende, transnationale Prozesse in der konkret verorteten Transformation des Wiener Stadtteils Monte Laa ausdrücken. Im Fokus stehen hier das veränderte Erleben und Erfahren des Wohnalltags durch Bewohner_innen Monte Laas.
Als methodischer Ansatz, um dieser Veränderung nachzugehen, wird die Wiederholung von narrativen Interviews (Flick 2009: 165) mit den Bewohner_innen vorgeschlagen. Der Beitrag fragt nach den Potenzialen und Grenzen dieses Interviewansatzes im Kontext der Stadtforschung. Die Interviews mit wohnbiographischem Schwerpunkt wurden 2011 und 2018 geführt.
Methodischer Kernaspekt bei der Wiederholung narrativer Interviews ist die oftmals veränderte Konstruktion einer kohärenten Narration der eigenen Wohngeschichte und des eigenen Wohnalltags. Entscheidend ist die vielfach veränderte Positionierung der erzählenden Personen selbst im Kontext der Narration. Der Aufsatz bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Edward Saids (2000) Idee der imaginative geographies. Said zufolge gliedert sich unsere Raumerfahrung in ‚vertraute‘, ‚eigene‘ und ‚unvertraute‘, ‚fremde‘ Orte. In diesem Beitrag wird insbesondere die Veränderung der Selbstpositionierung in Bezug auf sich wandelnde, imaginäre Verortungen des ‚Fremden‘ im erweiterten Wohnumfeld Monte Laas diskutiert. Ebensolche verschobenen Selbstpositionierungen können veranschaulichen, wie sich konjunkturelle Veränderungen in geänderten lokalen Alltagspraxen ausdrücken.
Wohnpraktiken werden dabei als potenziell multiskalar verstanden. Bewohner_innen stellen immer neue Beziehungen zu anderen Orten her. Sie positionieren durch ihre Praxis und anhand ihrer Vorstellung das Wohnquartier in einem translokalen Kontext immer wieder neu. So werden der Stadtraum und dessen Grenzen konjunkturell umdefiniert. Der Artikel untersucht in diesem Zusammenhang, wie sich der zunehmend rassistische politische und mediale Diskurs seit der sogenannten ‚Flüchtlingskrise‘ 2015 im imaginierten und erlebten Wohnalltag der interviewten Bewohner_innen ausgedrückt hat.
Im folgenden Text werden eingangs theoretischer Rahmen und methodischer Kontext der Untersuchung vorgestellt. In Folge wird das Fallbeispiel Monte Laa dargestellt. Im empirischen Teil werden, anhand einer exemplarischen Auswahl von Bewohner_innen, die Interviewserien von 2011 und 2018 einander gegenübergestellt. Im Zuge dessen wird versucht, das Interviewmaterial in einen weiterreichenden, konjunkturellen Kontext zu stellen.
Die Untersuchung ist an der theoretischen Schnittstelle von Stadt- und Migrationsforschung angesiedelt. An dieser bezieht sich der Artikel auf die Arbeiten der Anthropologinnen Çağlar und Glick Schiller (2011, 2015, 2018). Um den Handlungsspielraum von Migrant_innen in verschiedenen Städten zu beschreiben, verwenden sie unter anderem den Begriff der Konjunktur (Çağlar/Glick Schiller 2018). Konjunktur ist für die beiden Migrationsforscherinnen ein Konzept, um lokales Handeln im Kontext von „changing configurations of intersecting multiscalar networks of disparate power“ (Çağlar/Glick Schiller 2018: 22) zu erfassen. Davon ausgehend, schlagen sie vor zu untersuchen, wie ‚Migrant_innen‘ und ‚Nicht-Migrant_innen‘ in einer Stadt im Verhältnis zu einer sich lokal verdichtenden globalen Konjunktur handeln (ebd.: 21 ff.).
Dieser Ansatz in der Migrationsforschung geht auf die Rezeption von Positionen der kritischen Stadtforschung zurück. Anknüpfungspunkt war hierbei zuallererst die Scale-Debatte (Brenner/Theodore 2002; Wissen et al. 2008; Brenner/Keil 2011). Die Scale-Debatte fokussiert unter anderem die andauernde, kompetitive Positionierung von Städten in Bezug auf politische, finanzielle und kulturelle Kapitalflüsse (Çağlar/Glick Schiller 2011). Ein Stadtraum und die dortigen Handlungsmöglichkeiten sind demnach nur unter Berücksichtigung dieser Flüsse zu verstehen.
Für Çağlar und Glick Schiller (ebd.: 21) bedeutet die Arbeit mit dem Begriff ‚Konjunktur‘ unter anderem die Gleichzeitigkeit aller städtischen Akteur_innen. Das Konzept bezieht sich daher auf die Gleichzeitigkeit von ‚Migrant_innen‘ und ‚Nicht-Migrant_innen‘ in Stadtentwicklungsprozessen (Çağlar/Glick Schiller 2018: 21). Ein konjunkturelles Verständnis fokussiert die lokalisierten Handlungsspielräume zu einem bestimmten konjunkturellen Moment.
Der Begriff der Konjunktur hebt jedoch nicht nur auf eine zeitliche, sondern auch stark auf eine räumliche Dimension ab. Bob Jessop (2005) diskutiert die räumliche Dimension in Antonio Gramscis konjunkturellem Verständnis. In diesem Zusammenhang beschreibt Jessop Konjunktur immer auch als räumlich verortet, zuallererst in dem, was Gramsci locale nennt, also dem lokalisierten Alltagsleben. Gramsci sprach in seinen Texten über den italienischen Staatswerdungsprozess unter anderem von einem konjunkturellen Moment, an dem ein Bündnis zwischen Arbeitern aus dem Norden und Bauern aus dem Süden möglich werden könnte. Ein solcher Moment wäre jedoch im Alltag eines Bauern in einem süditalienischen Dorf anders verortet gewesen als im Alltag eines Arbeiters einer Stadt im Norden des Landes (für Gramscis Schriften zur ‚Südfrage‘ siehe Forgacs 2000: 171 ff.).
Henri Lefebvre (1991) spricht, ausgehend von seinem Konzept der Raumproduktion, von Alltagspraxis als unbewusstem, alltäglichem Raumerleben und -erfahren. Wohnen sieht Lefebvre in diesem Kontext als Form der Aneignung von Räumen (Lefebvre 1970). Diese Aneignung betrifft nicht nur den Wohnraum im engeren Sinn. Wohnen ist für Lefebvre eine potenziell multiskalare Praxis, die eine „daily reality, the urban reality“ mit weitreichenden „routes and networks” verknüpft (Stanek 2011: 130-31).
Die Verankerung eines konjunkturellen Momentes im lokalen Alltagsleben ist ein wichtiger Aspekt dieses Artikels. Zugleich rückt der Beitrag die Frage in den Mittelpunkt, wie ebendieses Alltagsleben in bestimmten konjunkturellen Kontexten dazu beiträgt, neue translokale und transnationale Beziehungen zu schaffen. Im Besonderen geht es hier darum, wie die konjunkturelle Dimension des Alltagslebens methodisch erfasst werden kann.
Der konjunkturelle Zugang zum Stadtraum bringt eine zentrale methodische Implikation mit sich. Nicht ‚Stadt‘ wird als Untersuchungseinheit beziehungsweise Ausgangspunkt für die Forschung angenommen, sondern räumliche Praktiken von Bewohner_innen in spezifischen konjunkturellen Momenten. Im Mittelpunkt steht hierbei die Frage, wie diese Praktiken kontinuierlich räumliche Bezüge schaffen und so den gelebten erweiterten Stadtraum gleichsam konjunkturell immer wieder neu erfinden. Um eben diese raumzeitliche Dimension festzumachen, muss das räumliche Verständnis von Stadt mit einem zeitlichen zusammenwirken. Mit dem Ziel, die zeitliche Dimension herauszuheben, schlägt die Arbeit vor, bewusst empirisch über einen längeren Zeitraum zu arbeiten.
In diesem Sinne schlage ich methodisch einen longitudinalen, qualitativen Ansatz vor, der, dem Verständnis Andre Gingrichs folgend, als vergleichende Studie verstanden werden kann (Gingrich/Fox 2002; Gingrich 2012). Gingrich beschreibt in Bezug auf sozialanthropologische Untersuchungen verschiedene Formen von Vergleichen, wobei er prinzipiell die zeitliche von der räumlichen Vergleichsebene unterscheidet. Der hier vorgeschlagene Ansatz kann demzufolge als Untersuchung der temporalen Variationen eines Phänomens betrachtet werden, in diesem Fall des räumlichen Erlebens und der räumlichen Praxis. Dessen Erscheinungsformen werden unter verschiedenen historischen Bedingungen verglichen. Im Sinne Michael Burawoys (1998) kann von einer empirischen Fallstudie gesprochen werden, die zeitlich erweitert wird. Burawoy spricht von einer „extension of observations over time“ (ebd.: 17). Diese ‚Erweiterung‘ erfolgt empirisch, anhand der Wiederholung von Interviews.
Der Stadtteil Monte Laa in Wien stand im Mittelpunkt von zwei Forschungsprojekten, die ich im Auftrag der Wiener Wohnbauforschung 2011 und 2018 durchführen konnte (Karasz et al. 2011; Karasz 2018a). Die beiden Projekte hatten sehr unterschiedliche thematische Schwerpunkte und Fragestellungen. Das 2011 in Zusammenarbeit mit Amila Širbegović und Antonia Dika durchgeführte Projekt „Our Stories – Unsere Geschichte(n)“ verfolgte einen experimentellen Ansatz. Hierbei sollte oral history in Monte Laa als identitätsstiftendes und gemeinschaftsförderndes Element im Wohnbau erprobt werden (Karasz et al. 2011).
Das 2018 in Auftrag gegebene Projekt „Nachbarschaft im Wandel“ fokussierte demgegenüber die Entwicklung der Nachbarschaft in Bezug auf eingesetzte Planungsmaßnahmen (Karasz 2018a). Vor diesem Hintergrund ging das Forschungsprojekt der Frage nach, wie sich auf Stadtteilebene erprobte Planungsmaßnahmen auf das nachbarschaftliche Zusammenleben im Stadtteil Monte Laa ausgewirkt haben.
Trotz dieser sehr unterschiedlichen Fragestellungen wurden im Rahmen beider Untersuchungen zum Großteil die gleichen Erhebungsmethoden eingesetzt. Im Mittelpunkt standen jeweils wohnbiographische Interviews mit Bewohner_innen von Monte Laa. Vielfach wurden 2011 und 2018 dieselben Personen interviewt. Die Wiederholung der Interviewserie war also nicht von Anfang an geplant, sondern sie ist bei der Entwicklung des zweiten Forschungsprojektes entstanden. 2018 wurde so die Gegenüberstellung der aktuellen Daten mit denen von 2011 zum methodischen Schlüsselaspekt des Projektes (Karasz 2018a).
Kernelement aller Interviews war 2011 und 2018 ein Gegenstand. Der Gegenstand sollte in Verbindung mit der Geschichte der befragten Person sowie vor allem mit deren Wohngeschichte stehen. Dementsprechend wurde jede befragte Person vor dem Gespräch dazu eingeladen, für das Interview einen persönlichen Gegenstand auszuwählen. Dieser konnte entweder ein Objekt sein, das die Person nach Monte Laa mitgebracht hat, oder ein Gegenstand, der etwas über die eigene Lebensgeschichte erzählt.
Diesem Setting entsprechend sollten die in den beiden Studien sehr unterschiedlichen konkreten Forschungsfragen im Zuge des Interviews nicht explizit im Vordergrund stehen. Die Gespräche waren biographisch und narrativ angelegt. Im Mittelpunkt stand stets die Wohngeschichte. In diesem Sinne war die Untersuchung an den pathways approach von David Clapham (2017) angelehnt, der Wohnbiographien als Kernelement der empirischen Auseinandersetzung mit Fragen des Wohnens versteht. Zusätzlich fokussierten die Interviews regelmäßige Abläufe des Alltags und die Beziehung zu Nachbar_innen.
Das Interview selbst sollte nicht vom Gegenstand ausgehen, sondern zu diesem führen. Im Sinne eines narrativen Interviews (Flick 2009: 165) kann das Thema der Wohngeschichte als generative Frage beziehungsweise als Narrationsstimulus verstanden werden. Anhand des Gegenstands hingegen sollten im Anschluss an die Narration gewisse Themen wiederaufgenommen werden, um eventuelle Lücken in der Erzählung zu schließen. Dementsprechend wurde die Frage nach dem Gegenstand erst am Ende des Gespräches gestellt, etwa in diesen Versionen: „Welcher Gegenstand kann für die Geschichte, die sie erzählt haben, stehen?“ „Inwieweit steht der Gegenstand, den sie vorbereitet haben, für diese Geschichte?“
Anhand dieser Themensetzung und des Gegenstandes sollte ein so genannter „narrativer Zugzwang“ ausgelöst werden (ebd.: 179). Im Idealfall entsteht so eine Dynamik, in der der/die Gesprächspartner_in eine schlüssige Narration fertig erzählen will. Sie wendet im Zuge dessen verschiedene Strategien an, um den Erzählfluss beizubehalten. Um eine geschlossene Gestalt der Erzählung zu erreichen, werden Informationen einerseits kondensiert und andererseits detailliert. Auf diese Weise sollen die Narration und der Erzählfluss selbst den Ablauf des Gespräches kontrollieren. Im Sinne einer schlüssigen Erzählung spricht die Person so Aspekte aus, die sonst verschwiegen werden würden.
Eine Narration dieser Art bringt, wie Charlotte Linde (1993) herausgearbeitet hat, stets die Problematik mit sich, dass erzählte Lebensgeschichten in ihrer Schlüssigkeit konstruiert sind. Ebendiese Schlüssigkeit und Kohärenz soll den eigenen Werdegang rechtfertigen, vor sich selbst und zugleich vor dem sozialen Umfeld. Die Erzählung kann so auch zu einem, oftmals unbewusst eingesetzten, Mittel werden, um einer kontextspezifischen, sozialen Erwartungshaltung zu entsprechen.
Gerade in diesem Zusammenhang erscheint die Wiederholung narrativer Interviews von Interesse, weil sich die Form der Kohärenzkonstruktion, ebenso wie die eigene Positionierung, in Bezug auf Erwartungshaltungen der sozialen Umwelt verändern kann. Im Fall von Monte Laa betrifft das etwa die subjektive Positionierung in Bezug auf die dynamische Trennlinie zwischen ‚Migrant_innen‘ und ‚Nicht-Migrant_innen‘. Für manche Personen veränderte sich, mit der Verschiebung dieser vermeintlich selbstverständlichen Grenze, die schlüssige Form der erzählten eigenen Lebensgeschichte.
Der Artikel arbeitet nicht zuletzt an einer methodischen Strategie, um empirisch zu erfassen, wie sich diese veränderten Trennlinien im Erleben und in der Imagination des Stadtraums ausdrücken. Edward Soja unterstreicht in seinem Buch Postmetropolis (2000), dass urbanes Leben immer auch aus urban imaginaries besteht (ebd.: 324). Diese beschreibt er als kognitive Karten, anhand derer wir die Orte, an denen wir leben, verstehen und erleben. Stadtbewohner_innen leben, diesem Bild zufolge, stets auch in imaginierten Städten, an der Schnittstelle von konkreten Orten und subjektiver Erfahrung.
Die so imaginierten Räume können Grenzen zwischen ‚vertrauten‘ und ‚unvertrauten‘ Räumen in sich tragen. In einem größeren Kontext spricht Said von „imaginative geographies“ (Said 2000: 181). In seiner Arbeit über den Orient als geographischen Raum, beschreibt Said (ebd.: 181) diese als Zusammenspiel aus Erfindung, Erinnerung und konkreter Verortung. In seinem Buch Orientalismus spricht er diesbezüglich von einer „universal practice of designating in one‘s mind a familiar space which is ‚ours‘ and an unfamiliar space beyond ‚ours‘ which is ‚theirs‘“ (Said 1995 [1978]: 54). In diesem Bild wird imaginative geography zu einem Baustein der Identitätskonstruktion, wodurch räumliche Distanz mit kultureller, ethnischer oder sozialer Distanz verschränkt wird.
Neben der Narration als Sprachform arbeitet der vorgeschlagene wohnbiographische Interviewansatz auch mit dem Erinnern als Prozess der Bewusstwerdung. Im Mittelpunkt steht die Erinnerung an Aspekte der eigenen Lebensgeschichte. Durch die Repetition der Interviews kommt es jedoch zu einem neuen Zeitpunkt zu einer Wiederholung des Erinnerungsvorganges. Ebendiese Wiederholung unterstreicht, wie sehr „das Vergangene entsprechend der Gegenwart der Erinnerungssituationen […] einer ständigen Modifikation unterliegt“ (Rosenthal 1995: 70, Hervorhebung D. K.).
Im Kontext der Untersuchungen in Monte Laa stand das Erinnern an die eigene Wohngeschichte sowie an das Zusammenleben im Stadtteil im Mittelpunkt der Erzählungen. 2011 wurden in den Wohnhausanlagen 31 Personen interviewt (über 13 Prozent der Wohneinheiten wurden angesprochen), 2018 waren es 27 Personen. 19 Bewohner_innen wurden in beiden Jahren interviewt. Zum Großteil lebten die Personen noch in derselben Wohnhausanlage. Fünf der wieder angesprochenen Haushalte waren jedoch inzwischen ausgezogen. Sie wurden an ihren neuen Wohnorten interviewt.
Um Interviewpartner_innen anzusprechen, wurde 2011 wie 2018 das sogenannte Schneeballprinzip als Vorgangsweise gewählt, wobei jedes Mal von denselben Personen ausgegangen wurde. Im Abstand von sieben Jahren sollte jede der Personen einige ihrer Nachbar_innen weiter empfehlen und diese wiederum ihre Bekannten. Dank dieser Vorgangsweise sollten 2018 unter anderem Konstanten und Veränderungen in den Beziehungsgeflechten seit 2011 dechiffriert werden. Wo Nachbar_innen 2018 anders als 2011 nicht mehr aufeinander verweisen wollten, wurde nicht zuletzt sichtbar, wie sich die ethnisch beziehungsweise religiös konnotierten Trennlinien zwischen den Bewohner_innen verschoben hatten.
Wien nimmt im österreichischen Kontext eine herausragende Bedeutung ein. Der Ballungsraum zählt über 2,8 Millionen Einwohner_innen, also fast ein Drittel der Gesamteinwohnerzahl des Landes (Eurostat 2020). Die Stadt ist politisches, finanzielles, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum des Landes. Dennoch liegt sie geographisch am äußersten nordöstlichen Ende des Landes, also in ‚peripherer Lage‘.
Zugleich nimmt die Stadt in Bezug auf einen transnationalen, zentraleuropäischen Raum eine zentrale Rolle ein. So sind mit dem Auto in einer Stunde die Slowakei, Ungarn und die Tschechische Republik zu erreichen. In vier Autostunden gelangt man darüber hinaus nach Deutschland, Polen, Slowenien und Kroatien. Diese Lage wird politisch durch die grenzübergreifende Europaregion Centrope unterstrichen, welche neben Ostösterreich den Süden Mährens, die Westliche Slowakei und die ungarischen Grenzregionen umfasst (STEP 05 2005: 88 ff.).
Die besondere Position Wiens im europäischen Kontext ist einer der Gründe für das große Bevölkerungswachstum in letzten Jahren. So stieg zwischen 1990 und 2015 die Einwohner_innenzahl um 300.000 Personen an (Stadt Wien 2016a: 8). Prozentuell betrug der Anstieg allein von 2005 bis 2015 etwa zehn Prozent (Stadt Wien 2016a: 33). Während der gesamten starken Wachstumsphase seit 2008 liegt der Hauptgrund für die Bevölkerungszunahme in der Zuwanderung aus dem Ausland (Krutzler 2019).
Auf das Bevölkerungswachstum hat die Stadt Wien mit einer großangelegten Produktion von gefördertem Wohnraum reagiert. Der Schlüssel hierzu lag insbesondere in der Umwidmung großer Industrie- und Bahnhofsareale in Wohnquartiere (STEP 05 2005; Stadt Wien 2016b). Die neuen Wohnquartiere wurden nach dem Prinzip der sozialen Durchmischung errichtet. Als Durchmischung wird sowohl ein funktionaler Mix von Wohn-, Büro- und Geschäftsflächen als auch eine durchmischte Bevölkerungszusammensetzung in den Wohnbauten angestrebt (Gutmann/Huber 2014).
Als Maßstab für die Mischung der Bewohner_innen ist das Haushaltseinkommen bis heute die fundamentale Planungs- und Vergabekategorie geblieben. Um Haushalte mit unterschiedlichem Einkommen ansprechen zu können, werden Wohnungen mit verschiedenen Förderungsformen mit freifinanzierten Wohneinheiten kombiniert. Implizit werden diese ökonomischen Kriterien jedoch mit kulturellen Aspekten verschränkt. In der Planung und vor allem in der Verwaltung geförderter Wohnhausanlagen werden immer wieder die Kategorien ‚niedriges Haushaltseinkommen‘ und ‚migrantisch‘ gleichgesetzt (Karasz 2018b).
Monte Laa liegt im traditionell industriellen Süden Wiens, im Bezirk Favoriten. Der Stadtteil befindet sich im wahrsten Sinn des Wortes über jener Stadtautobahn, die Wien mit Prag, Brünn, Bratislava und Budapest verbindet. Im Bezirk Favoriten liegt darüber hinaus der 2015 neu eröffnete Wiener Hauptbahnhof, der die zentrale Rolle der Stadt im mitteleuropäischen Kontext unterstreicht, indem nun erstmalig Züge von Westen beziehungsweise Süden über Wien nach Osten durchfahren können. Dementsprechend lautete der Arbeitstitel des Bahnhofsprojektes „Bahnhof Wien – Europa Mitte“ (STEP 05 2005: 207). Der Stadtteil Monte Laa liegt also im Stadtgebiet in einer traditionell als Randlage verstandenen Position, im zentraleuropäischen Kontext aber zunehmend zentral.
Der Kernbereich des Stadtteils Monte Laa befindet sich auf dem ehemaligen Lagerplatz der Porr AG. Das Grundstück war in den 1970er Jahren durch den Bau einer tieferliegenden Autobahn zweigeteilt worden. In den 1990er Jahren verkaufte die Republik Österreich den zu überplattenden Bauabschnitt der Autobahn an die Porr AG. Die dadurch mögliche Überplattung wurde durch den Porr-Konzern frei finanziert.
Seit 2010 sieht ein Flächenwidmungsplan drei (zum Teil über hundert Meter hohe) Türme mit überwiegender Wohnnutzung vor. Der Masterplan wurde in mehreren Bauabschnitten zum Großteil umgesetzt. Die ersten Wohnungen wurden im Herbst 2004 besiedelt. Bis 2018 wurden auf dem ehemaligen Lagerplatz über 1.350 zumeist geförderte Wohnungen errichtet. Dazu kommen in den Wohnhochhäusern 171 Wohneinheiten für Studierende und 100 sogenannte ‚serviced apartments‘ für Kurzzeitmieter_innen. Zusätzlich entstanden auch unmittelbar neben dem ehemaligen Lagerplatz der Porr AG circa 1.440 Wohneinheiten in zum Großteil geförderten Wohnbauten. Im erweiterten Stadtteil Monte Laa sind in den letzten 18 Jahren also über 3.000 Wohneinheiten entstanden.
Die neuen Wohnbauten wurden in einem vorbestehenden, urbanen Gefüge errichtet. An das Quartier grenzen länger bestehende Kleingartensiedlungen an sowie weitere, ehemalige Industrie- und Infrastrukturanlagen. Diese haben im letzten Jahrzehnt einen profunden Nutzungswandel erlebt. Vielfach entstanden neue Wohnquartiere. So wurden 2014 auf dem angrenzenden Areal des ehemaligen Preyerschen Kinderspitals die ersten Wohnungen für das Wohnquartier „Preyersche Höfe“ übergeben.
Etwa fünf Gehminuten vom neuen Stadtteil Monte Laa entfernt liegt das Kreta-Viertel. Dieses ist durch eine für den gewachsenen Teil des Wiener Bezirks Favoriten typische, schlechte Bausubstanz gekennzeichnet. Noch 2008 waren 25 Prozent der Wohnungen des Stadtteils als Kategorie-D-Wohnungen registriert. Das ist die niedrigste Wiener Einstufung in Hinblick auf den Wohnungsstandard (Gebietsbetreuung Stadterneuerung 10 2008). In Kategorie D fallen etwa Wohnungen, die über kein WC oder keinen eigenen Wasseranschluss verfügen (Mietervereinigung 2016).
In Wien wohnen seit Jahrzehnten in erster Linie niedrigverdienende Migrant_innen in Substandardwohnungen. Dementsprechend setzt sich auch die offiziell registrierte Bewohner_innenschaft des Kreta-Viertels zusammen. 2011 waren 64 Prozent der Bewohner_innen nicht in Österreich geboren. 25 Prozent hatten ihren Geburtsort in einem der heutigen Nachfolgestaaten Jugoslawiens, 15 Prozent in der Türkei (Denk/Feuerstein 2011).
In Bezug auf die tatsächliche Zusammensetzung der Bewohner_innen des unweit des Kreta-Viertels liegenden Neubaugebietes Monte Laa kann festgestellt werden, dass sich im Stadtteil in mehrfacher Hinsicht ein soziales Aufstiegsszenario bietet. Dieses wird anhand der Wohnbiografien verdeutlicht und betrifft insbesondere migrantische Familien aus Südost- und Osteuropa, aber auch aus der Türkei. Die Haushalte stammen teilweise aus sehr schlechten Wohnverhältnissen, wobei sich aus den meisten Wohnbiografien eine kontinuierliche Aufstiegsbewegung erkennen lässt. Diese vollzieht sich in einigen Fällen zur Gänze im Wiener Bezirk Favoriten: vom Substandard, etwa im angrenzenden Kreta Viertel, über vergleichsweise besser ausgestattete Wohnungen bis hin zur geförderten Wohnung in Monte Laa.
Mit dem beschriebenen, sozialen Aufstiegsszenario migrantischer Haushalte geht eine transnationale Dimension des Alltagslebens in Monte Laa einher. Eine der Ideen des vorliegenden, methodischen Beitrages ist es, Wohnen im Sinne Lefebvres (1991: 38) als potenziell multiskalare Praxis zu verstehen. Die multiskalare Dimension des Alltagslebens in Monte Laa kann anhand des Beispiels von Frau Maria, einer Bewohnerin, die 2011 und 2018 interviewt wurde, veranschaulicht werden.
Maria zog in den frühen 2000er Jahren aus Südpolen nach Wien, wo sie ihren Mann, der ebenfalls aus Polen stammt, kennen lernte. Beide studierten in Wien und fanden eine ihrer Ausbildung entsprechende Arbeit. Über Jahre hinweg wohnten sie zusammen in relativ teuren zentralen Wiener Wohnquartieren, aber immer mit befristeten Mietverträgen. 2010 beschlossen Maria und ihr Mann schließlich nach Monte Laa in eine geförderte Wohnung zu ziehen. Dieser Schritt ging mit der Entscheidung einher, längerfristig in Wien zu bleiben.
Als ich Maria kurz nach ihrem Einzug 2011 zum ersten Mal traf, hatte ihr Leben eine ausgeprägte transnationale Dimension. Gemeinsam mit ihrem Mann und einer Gruppe von Freunden, die auch aus Zentral- und Osteuropa nach Wien gezogen waren, fuhr sie fast jedes Wochenende in eines der Nachbarländer. Zugleich arbeiteten sowohl Maria als auch ihr Mann in großen Unternehmen, die von Wien aus in mehreren Ländern Zentral- und Osteuropas tätig sind. Dies hatte zur Folge, dass sie 2011 auch beruflich regelmäßig in die Nachbarländer reisten.
Maria zufolge hatte sich das Paar nicht zuletzt deshalb für die Wohnung in Monte Laa entschieden, da dieser Stadtteil unmittelbar neben einer Autobahnauffahrt lag, was die Reisen in andere Länder der Europaregion erleichterte. So hatte Monte Laa in den Praktiken und Vorstellungen einiger Migrant_innen aus Zentral- und Osteuropa eine zentrale Lage im Mitteleuropäischen Kontext erlangt. Für Maria standen Wien und insbesondere Monte Laa im Zentrum eines weiten, transnationalen Raumes, zu dem sie und ihr Mann sich zugehörig fühlten.
Als ich Maria und ihren Mann 2018 wieder traf, hatte sich sowohl ihr Leben, als auch ihr Verständnis der relationalen Position Monte Laas stark verändert. Maria unterstrich im zweiten Interview, dass Wien leider „viele Vorteile verloren“[2] habe. Als Grund dafür beschrieb sie das schnelle Wachstum der Stadt und die Zuwanderung, insbesondere die Zuwanderung von „Flüchtlingen aus muslimischen Ländern“. Viel mehr als 2011 mied sie aus diesem Grund in ihrem Alltag weite Abschnitte des von schlechter Bausubstanz geprägten Teils des Bezirks, etwa das oben beschriebene Kreta-Viertel. Ähnliches galt für Bereiche des unmittelbaren Umfelds von Monte Laa, insbesondere für die angrenzenden großen Grünflächen des Laaer Waldes.
Maria zufolge war im Jahr 2016 im Laaer Wald eine junge Frau beim Joggen von einem Mann afghanischen Ursprungs vergewaltigt worden. Tatsächlich war es 2016 zu einer Vergewaltigung gekommen. Der Täter, der schließlich verhaftet und verurteilt wurde, war jedoch rumänischer Staatsbürger (Kurier 2017). Da Maria eine Läuferin ist, hatte sie nach dem Vorfall eine Zeit lang daran gedacht, wegzuziehen. Im Interview brachte Maria ihre Gedanken wie folgt auf den Punkt: „Was soll ich hier machen, wenn ich nicht mehr dort [in den Park, Anm. D. K.] hin kann?“ Mit ‚hier‘ meinte Maria, so viel wurde im Interview klar, nicht nur das Quartier Monte Laa, sondern Wien an sich. Darüber hinaus hatten, insbesondere anlässlich der sogenannten ‚Flüchtlingskrise‘ 2015, vielfach Verwandte aus Polen angerufen, um besorgt nachzufragen, ob sie noch wohlauf sei. Maria zufolge wurde Wien in dieser historischen Phase in polnischen Medien, aufgrund der Migrationsbewegungen, als gefährlicher Ort im Ausnahmezustand dargestellt.
2018 hatte sich jedoch nicht nur die äußere Lage verändert, sondern auch Marias Alltagsrhythmus. Sie war nun Mutter von zwei Kindern und das veränderte die transnationale Dimension ihrer Routinen. Sie reiste nicht mehr in verschiedene zentraleuropäische Länder, um dort mit Freunden ihre Wochenenden zu verbringen, sondern stattdessen nach Polen, um bei Verwandten Unterstützung bei der Kinderbetreuung zu finden. In diesem Bild hatten Wien und Monte Laa eine sehr andere Position inne als noch 2011. Geographisch lag die Stadt immer noch im Zentrum eines transnationalen europäischen Raumes. Emotional empfand Maria die Stadt aber immer stärker als ‚fremd‘ und unvertraut, als „irgendwie nicht mehr wie Wien, aber wie eine Stadt mit allen Nachteilen von Paris“. Paris stand hierbei als Symbol für eine ‚fremde‘, ‚muslimische‘, europäische Stadt.
Das Beispiel von Maria unterstreicht mit Sicherheit die spezifische Position der Stadt Wien im zentral- und osteuropäischen Raum. Dennoch verdeutlicht es, dass die Frage der Nähe und Distanz nicht nur räumlich zu verorten ist, sondern auch eine stark emotionale und symbolische Dimension in sich trägt. Said (2000: 181) hat den Begriff der ‚imaginative geographies‘ geprägt. Michael C. Frank (2009: 71), der die räumliche Dimension bei Said und Foucault diskutiert, versteht imaginative geographies als konkrete Verortung der nicht-räumlichen Kategorien des ‚Eigenen‘ und des ‚Fremden‘.
In Marias Alltagserzählungen von 2011 und 2018 überlappen sich ihre konkreten Alltagspraktiken mit der Unterscheidung des transnationalen zentral- und osteuropäischen Raumes in ‚eigene‘ und in ‚fremde‘ Orte. Die Differenzen zwischen den beiden Interviews unterstreichen vor allem, wie sich die imaginäre Verortung des ‚Fremden‘ im erweiterten Wohnumfeld verändern kann. Das Beispiel zeigt schließlich, dass die Veränderungen in Raumerleben und Raumvorstellungen im Kontext der zunehmend rassistischen politischen und medialen Diskurse seit der sogenannten ‚Flüchtlingskrise‘ 2015 betrachtet werden müssen.
Methodisch war die beschriebene Dualität von ‚eigenen‘ und ‚fremden‘ Räumen weder in der ersten noch in der zweiten Untersuchung Ausgangspunkt der Gespräche. Die Unterscheidung trat allerdings im Zuge der Analyse des Materials der zweiten Serie als entscheidend hervor. So waren die Erzählungen der persönlichen Wohngeschichte vielfach anhand dieser räumlichen Dualität strukturiert. Die Unterscheidung trat bei der Erzählung der persönlichen Wohngeschichte zutage. So begannen die Erzählungen oftmals mit einer Erinnerung an die Kindheit beziehungsweise an einen Raum, der im Kindesalter als ‚eigen‘ empfunden wurde. Ein Interviewpartner leitete seine Erzählung etwa mit folgenden Worten ein: „Ich bin in einem kleinen Dorf geboren und dort war meine frühe Kindheit. Wir waren in einem Haus. Garten gab es nicht, das ganze Dorf ist unser Garten gewesen.“ (Interview mit Alexander 2011)
Die Wohnbiographie als vorgegebener Ausgangspunkt für die Erzählung des eigenen Lebens gibt also einen Rahmen vor, der die Erzählung zum Teil vorstrukturiert. Dies erfolgt zum einen räumlich, anhand des Schwerpunktes auf dem ‚eigenen‘ Wohnraum. Zum anderen geschieht dies in zeitlicher Hinsicht, weil die Kohärenz der Erzählung oftmals auch dadurch konstruiert wird, dass das Leben als eine Abfolge von Wohnsituation dargestellt wird. Linde (1993: 14) beschreibt diese Art der linearen, zeitlichen Anordnung als typisches Element der Kohärenzkonstruktion in biographischen Erzählungen. Bei der Wiederholung der Interviews kann sich der Erkenntnisgewinn dadurch ergeben, dass, wie im Fall von Maria, die zeitliche Abfolge gleich bleibt, sich aber die Grenzziehungen zwischen den ‚eigenen‘ und ‚fremden‘ Räumen in den verschiedenen Zeitschichten verschieben.
Zur Veranschaulichung dieses zeit-räumlichen Nexus soll an dieser Stelle Paula, eine weitere zweifach interviewte Bewohnerin Monte Laas, vorgestellt werden. Paula ist in ihren 50ern und lebt allein. Sie ist im Bezirk Favoriten aufgewachsen und lebte bis zu ihrem Umzug nach Monte Laa in verschiedenen städtischen Wohnhausanlagen. Paula arbeitet im Stadtbezirk Favoriten.
Als ich sie 2011 zum ersten Interview traf, war sie eine überzeugte Nutzerin der öffentlichen Verkehrsmittel. Jeden Morgen fuhr sie mit dem Bus und der Straßenbahn zur Arbeit. Auf dem Rückweg ging sie oftmals auf die Haupteinkaufsstraße des Bezirkes sowie auf den dortigen Markt. Sie genoss diesen Rhythmus sehr und fuhr nur an manchen Wochenenden auf das Land, zum Haus ihrer Ursprungsfamilie nach Niederösterreich. Paulas Alltagsleben in Monte Laa war also 2011 in das erweiterte Umfeld des Wiener Bezirks Favoriten integriert. Verschiedene Alltagsfunktionen waren in einem größeren Stadtgebiet angeordnet, das sie als ‚eigen‘ und als vertraut empfand. In diesem Bild beschrieb sie nur einige Wohnhausanlagen und Straßenzüge im historischen Teil des Bezirkes als unvertraute, ‚fremde‘ Inseln.
Als ich Paula 2018 wieder traf, hatten sich die gelebte und die imaginierte Stadt dramatisch verändert. Anders als sieben Jahre zuvor sprach sie vom gesamten Bezirk als unvertraut, ‚fremd‘ und ‚orientalisch‘. Auf meine Frage nach den Gründen für dieses veränderte Empfinden begann sie nach einigem Zögern von einer Begebenheit zu erzählen. Im Jahr 2015 hatte eine Gruppe von jungen Männern begonnen, sich regelmäßig in einem Park in unmittelbarer Nähe Monte Laas zu treffen. Paula bezeichnete die Männer 2018 im Interview als „Araber“ und als „Flüchtlinge“.
Auf ihrem Arbeitsweg war sie es gewohnt, den Park zweimal täglich zu durchqueren. Doch bald begann sie, sich auf Grund der Präsenz unsicher und verängstigt zu fühlen, obwohl, wie sie mehrmals selbstkritisch unterstrich, nie etwas vorgefallen war. Auch in ihrem Wohnviertel selbst hatte sich sonst nichts verändert. Dennoch war ihr Gefühl ein anderes als davor. Paula erzählte, dass sie sich viele Gedanken über diesen Wandel gemacht habe. Paula erklärte das Gefühl der Entfremdung vom eigenen Wohnumfeld zu allererst mit den Berichten in lokalen Medien: „Na du schaust in die Zeitung und jeden Tag steht da drin: eine Vergewaltigung, eine Messerstecherei. Und immer: Afghanen, Araber. Ich hab‘ vielleicht Angst bekommen, wirklich.“
Paula wies 2018 wiederholt auf den Einfluss von Zeitungsartikeln auf ihre geänderte Erfahrung des erweiterten Wohnraumes hin. Sie war sich der Wirkung medialer und politischer Diskurse auf ihre Raumerfahrung zwar bewusster als die meisten anderen Gesprächspartner_innen, aber dahingehend kein Einzelfall. Zwischen 2011 und 2018 hatte sich das Gesprächsklima in Wien in Bezug auf Migrationsthemen stark verändert, insbesondere ab der sogenannten ‚Flüchtlingskrise‘ 2015. Es gibt, wie Ruth Wodak (2016) unterstreicht, in Österreich eine lange Tradition des rassistisch gefärbten politischen Diskurses. Doch diese Tendenz verstärkte sich nach 2015 weiter, nicht zuletzt aufgrund einer langen Serie von in Migrationsfragen extrem polarisierten Wahlkämpfen anlässlich der Wiener Landtagswahlen (2015), der Bundespräsidentenwahlen (2016) und schließlich der Nationalratswahlen (2017). Benjamin Opratko (2019) hat herausgearbeitet, wie in diesen Jahren rassistische und vor allem antimuslimische Positionen selbst in sogenannten liberalen österreichischen Medien hegemonial werden konnten. Das Beispiel Paulas deutet an, wie ebensolche Verschiebungen hegemonialer Grenzziehungen sich auch im alltäglichen Erleben des erweiterten Wohnumfeldes von Monte Laa niederschlagen können.
Zuerst hatte Paula begonnen, Ihren Arbeitsweg als ‚fremd‘ und ‚gefährlich‘ zu empfinden. Später mied sie die zentrale Einkaufsstraße Favoritens und schließlich hörte sie auf, die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen. Die ehemals geliebte Straßenbahn beschrieb Paula 2018 abfällig als „einen Lonely Trip in den Orient“.
Als Folge dessen hatte sich seit 2011 die Größenordnung des Raumes, den Paula als ‚ihren‘, vertrauten Stadtraum empfand, vollkommen verändert. Waren von ihr einige Jahre davor nur wenige Straßenzüge als ‚fremd‘ beschrieben worden, erschien ihr jetzt der gesamte Bezirk als ‚fremd‘, wild‘ und ‚orientalisch‘, ebenso wie der Park in unmittelbarer Nähe zu Paulas Wohnhausanlage.
Im selben Zeitraum hatte sich der ‚vertraute‘ Alltagsraum aus dem eigenen Bezirk in andere Stadtteile und insbesondere in das erweiterte Umfeld Wiens verlagert. Paula fuhr 2018 fast immer mit dem Auto zur Arbeit. Auch verbrachte sie fast jedes Wochenende im Haus ihrer Ursprungsfamilie in Niederösterreich, fast eineinhalb Autostunden von Wien. Auf dem Hin- und Rückweg erledigte sie fast alle Einkäufe außerhalb der Stadt.
In diesem veränderten Kontext wurde Paulas Wohnung in Monte Laa in immer neue alltagsräumliche Beziehungen zu Orten außerhalb der Stadt gesetzt. Zugleich erschien der Wohnort immer losgelöster vom städtischen Umfeld Monte Laas.
Methodisch interessant erscheint im Fall von Paula die Rolle der Gegenstände, die sie für die beiden Interviews auswählte. Wie erwähnt sollten die Gegenstände symbolisch für die eigene Wohngeschichte stehen und in Paulas Fall waren es zwei sehr unterschiedliche Objekte. Für das Interview von 2011 hatte sie einen Sportgegenstand ausgewählt, 2018 einen Gegenstand mit Bezug zu ihrem Auto.
Wie alle zweifach interviewten Gesprächspartner_innen führte Paula die zweite Erzählung nicht ‚gegen‘ die ältere aus, sondern als eine in sich geschlossene und schlüssige Narration. Methodisch war jedoch anhand des Gegenstands, der 2011 für das erste Interview ausgewählt worden war, eine direkte Gegenüberstellung der beiden Narrationen möglich. Als Paula 2018 am Ende des Gespräches mit dem Gegenstand von 2011 konfrontiert wurde, erkannte sie in dem Sportgegenstand das damals empfundene Gefühl der Freiheit im Erleben des ‚eigenen‘ Alltagsraumes in Monte Laa und im angrenzenden Laaer Wald wieder: „Ja, ja, ich war dort unterwegs immer, das war halt mein Wald hier irgendwie.“
Ähnlich zu Paulas Geschichte konnten auch in anderen Interviews in unterschiedlicher Intensität Verschiebungen des ‚eigenen‘, vertrauten Alltagsraumes aus dem Stadtgebiet heraus in die umliegenden Regionen beobachtet werden. In einigen Fällen kam es zu Verlagerungen in die Grenzregionen der Nachbarländer. In diesem Zusammenhang sticht die Verschränkung des subjektiven Erlebens mit der medialen Berichterstattung zu Migrationsthemen in vielen Gesprächen heraus.
Als bezeichnend dafür kann ein Interview mit Ivana und Milica im Jahr 2018 stehen. Die beiden sind in ihren 60ern, Nachbarinnen und Freundinnen. Beide sind aus Serbien nach Österreich gezogen. Sie wurden gemeinsam interviewt, wobei die Veränderung des Bezirkes hin zu einem ‚fremden‘, ‚muslimischen‘ Gebiet großen Raum einnahm. Im Gespräch beschrieben die Freundinnen den Bezirk detailreich. Dabei schienen sie immer zu wissen, welche Wiener Tageszeitung ausführlich über welches negative Ereignis berichtet hatte. Über das gesamte Gespräch hinweg schien die mediale Berichterstattung für die Nachbarinnen weitaus wichtiger zu sein als die tatsächlichen oder vermeintlichen Ereignisse im Wohnumfeld.
Zugleich beschrieb Ivana, eine der beiden Gesprächspartnerinnen, die auch 2011 interviewt worden war, 2018 ihren erweiterten Alltagsraum primär anhand der Unterscheidung in christliche und muslimische Bewohner_innen beziehungsweise Stadträume. Sich selbst positionierte Ivana dabei in erster Linie anhand dieser religiösen Scheidelinie als Christin. 2011 hatte sich Ivana hingegen zur konfessionsübergreifenden Gruppe der „Ausländer“ gezählt. Diese würden, so ihre damaligen Ausführungen, anders als die „Österreicher“ Nachbarschaftsbeziehungen pflegen. 2018 blieb die Argumentationsweise gleich, nur wurden „Österreicher und Jugos“ (Kurzform für Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien, Anm. D. K.) als jene Gruppen beschrieben, die mit Nachbarn kommunizieren. ‚Muslim_innen‘ würden das, so Ivana, hingegen nicht tun und blieben unter sich.
Diese Neupositionierung unterstreicht die methodischen Potenziale der Wiederholung narrativer, wohnbiographischer Interviews. Anhand der Wiederholung wird klar, dass sich nicht nur die Linien zwischen ‚eigenen‘ und ‚fremden‘ Räumen verschieben können, sondern auch die subjektive Positionierung in Bezug auf diese Linien.
Da die Narrationen in sich schlüssig konstruiert werden, kann sich die veränderte Positionierung, über den geschilderten aktuellen Alltag hinausgehend, durch die gesamte erzählte Wohngeschichte ziehen. So berichtete Ivana 2011 im Interview, auch in früheren Wohnsituationen immer gute Beziehungen zu „ausländischen“ Nachbar_innen gepflegt zu haben. 2018 hingegen unterstrich Ivana die in mehreren Wohnsituationen erlebten, stets guten Beziehungen zu „österreichischen“ Nachbar_innen.
Biographische Narrationen sollen, wie Linde (1993: 11) heraushebt, die eigene Lebensgeschichte in ihrer gewünschten Form stärken und nicht in Frage stellen. Das Konzept des hier vorgeschlagenen Ansatzes sieht nun vor, eben diese gewünschte Form in einen konjunkturellen Kontext zu setzen. Im Fall von Ivana war 2018 das Gespräch von der Beschreibung ihrer selbst und ihrer Kinder als ‚Nicht-Muslime‘ dominiert. Herauszuheben ist in diesem Zusammenhang, dass die rechtspopulistische Partei FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) in den Wahlkämpfen seit 2015 gezielt die große Zahl österreichischer Wähler serbischen Migrationshintergrunds angesprochen hat (Die Presse 2016). Im Mittelpunkt stand hierbei auch eine vermeintlich verbindende, anti-muslimische Rhetorik.
Auch in der Selbstpositionierung von als muslimisch stigmatisierten Bewohner_innen Monte Laas lassen sich zwischen 2011 und 2018 Verschiebungen erkennen. Sara, eine in Nordafrika geborene, muslimische Interviewpartnerin, die sich aber nicht primär über ihre Religionszugehörigkeit definieren würde, schilderte eindrücklich, wie in den letzten Jahren die religiöse Fremdzuschreibung durch Nachbar_innen zugenommen hätte. Zugleich sei der Druck seitens anderer muslimischer Bewohner_innen angewachsen, auf Basis der vermeintlichen religiösen Gemeinsamkeit engeren Kontakt zu pflegen. Um aus dieser doppelten Drucksituation auszubrechen, unterstrich sie, dass sie, wenn irgendwie möglich, in einen teureren, von kreativem Milieu geprägten Wiener Bezirk ziehen wollte. Aus ihrer Warte erfolgte die beschriebene duale Grenzziehung anhand der Scheidungslinie Islam in diesen Stadtteilen nicht derart ausnahmslos.
Im Fall von Sara erschien die Wiederholung des Interviews überdies deshalb interessant, weil die erzählte Geschichte in beiden Gesprächen von einer Zukunftsvorstellung geprägt war. Diese hatte sich jedoch zwischen 2011 und 2018 verändert, was wiederum anhand der beiden ausgewählten Gegenstände verdeutlicht werden kann. 2011 hatte Sara ein gemaltes Bild aus ihrem Geburtsland ausgewählt, das in ihrer Wohnung hing. Dieses stand, wie sie betonte, für die eigene, nach Monte Laa mitgenommene Lebensgeschichte. Sie sprach von dem Glücksgefühl, sich mit eben dieser Geschichte langfristig in einem neuen Zuhause niedergelassen zu haben. 2018 hatte Sara hingegen einen anderen Gegenstand mit zum Gespräch genommen, der für ihre soeben abgeschlossene Berufsausbildung stand. Das Objekt symbolisierte, wie Sara betonte, auch für den Wunsch, endlich aus Monte Laa auszubrechen, um in einem „besseren Stadtteil“ Wiens der Stigmatisierung als Muslimin zu entkommen. Gabriele Rosenthal unterstreicht, dass die erzählte Lebensgeschichte oftmals auch in Bezug auf eine „antizipierte Zukunft“ modifiziert wird (Rosenthal 1995: 70). Saras Erzählungen der eigenen Vergangenheit liefen 2011 und 2018 auf sehr unterschiedliche antizipierte Zukunftsbilder zu. Diese Verschiebung war unter anderem bedingt durch die veränderte Fremdzuschreibung als Muslimin.
Die verstärkte Grenzziehung zwischen als Muslim_innen und Nicht-Muslim_innen verstandenen Personen wurde 2018 auch anhand der neuerlichen Suche nach Interviewpartner_innen in Monte Laa deutlich. 2011 und 2018 wurde von denselben Kontaktpersonen in Monte Laa ausgegangen. Diese sollten nach dem Schneeballprinzip einige Nachbar_innen weiterempfehlen und diese wiederum ihre Bekannten. 2018 rissen wiederholt früher bestehende Ketten ab, wo – stärker als 2011 – Uneinigkeiten in Bezug auf die Positionierung gegenüber anderen ‚Gruppen‘ im Stadtteil herrschte. Dies betrifft etwa eine verstärkte Polarisierung zwischen christlichen, bosnisch/kroatisch/serbisch sprechenden Personen, die mit Muslim_innen gemeinschaftliche Aktivitäten suchten (etwa die Organisation von Nachbarschaftsfesten) und solchen, die das nicht taten.
In ähnlicher Weise erschien auch bei Interviewpartner_innen mit ‚autochthon österreichischer‘ Selbstpositionierung das Verständnis für zwischen unterschiedlichen Bewohner_innengruppen vermittelnde Positionen zurückgegangen, etwa in Bezug auf Haushalte mit muslimischer Zuschreibung. Auf Mikroebene ist somit zu erkennen, wie Verschiebungen im öffentlichen Diskurs und veränderte Grenzziehungen zwischen Bewohner_innengruppen die Position jener Bewohner_innen geschwächt haben, die über ebendiese Grenzziehungen hinweg vermitteln. Zugleich zeigen Verläufe aus lokalen Internetforen und Facebook-Gruppen, wie solche vermittelnden Personen mit zunehmend rassistischen Tönen von anderen Bewohner_innen angegriffen wurden.
Als entscheidender Scheidepunkt kann in vielen Interviews die sogenannte ‚Flüchtlingskrise‘ im Jahr 2015 ausgemacht werden. Dieser Wendepunkt drückte sich in einigen Interviews von 2018 nicht nur in den Erzählungen selbst aus, sondern auch im Aufbau der Narrationen. So waren die Erzählungen oder Teile der Erzählungen bei manchen Gesprächspartner_innen sowohl 2011 als auch 2018 anhand eines biographischen Ereignisses als Scheidelinie strukturiert. Das gilt etwa für Paula. Während diese Struktur in beiden Gesprächen gleich blieb, hatte sich 2018 die biographische Scheidelinie verschoben. 2011 war das prägende Erlebnis der Umzug nach Monte Laa gewesen. 2018 stand hingegen für Paula die oben beschriebene, im Jahr 2015 erlebte Bedrohung durch als „Flüchtlinge“ beschriebene Männer im Park als strukturierendes Element im Zentrum der Narration. Im Vergleich aller Interviews von 2018 erscheint das Jahr 2015 wiederholt als Bruchstelle in der autobiographischen Erzählung.
Anhand dieser Gemeinsamkeiten eröffnete die Wiederholung narrativer Interviews die Möglichkeit, das Stadterleben in einen weitreichenden konjunkturellen Kontext zu stellen. 2015 stand der konjunkturelle Moment im transkontinentalen Kontext der Kriege in Syrien, Irak und Afghanistan sowie der Europäischen Migrationspolitik. Zugleich verschob er den politischen Diskurs in Österreich und anderen europäischen Ländern stark. In Monte Laa veränderte sich jedoch in ebendiesem konjunkturellen Zusammenhang, wie im Fall von Paula, der im Alltag unmittelbar erlebte Stadtraum. Durchgehend erschien die Unterscheidung des erweiterten Wohnumfeldes in ‚muslimische‘ und ‚nicht muslimische‘ Räume 2018 viel deutlicher aus als 2011. Diese Dualität betraf nicht nur Wien, sondern das gesamte transnationale, zentraleuropäische Einzugsgebiet der Stadt.
Wie das oben ausgeführte Beispiel Marias unterstreicht, waren hierbei nicht nur die Berichte in österreichischen Medien bedeutend, sondern auch die aus den Herkunftsländern einiger Bewohner_innen. Marias Bild von Wien wurde etwa 2015 besonders von skandalisierenden Berichten in polnischen Medien geprägt.
Gerade hier lässt sich erkennen, wie stark sich die emotionalen Debatten zu Migrationsthemen in Europa seit 2015 im lokalen Kontext ausgedrückt haben. Die meisten Länder Zentral- und Osteuropas nahmen eine im europäischen Kontext sehr restriktive Position in Migrationsfragen ein. Demgegenüber war die österreichische Position widersprüchlicher, zumindest bis zu den Parlamentswahlen 2017. Diese brachten aufgrund der Migrationsdebatten eine klare Mitte-Rechts-Mehrheit mit sich. Auf kommunaler Ebene positionierte sich die Stadt Wien wiederum als Gegenpol zu allzu repressiven Positionen, indem explizit eine Willkommenspolitik gegenüber geflüchteten Personen verfolgt wurde.
Solche Spannungen und Widersprüche unterstreichen die transnationale Dimension des Wohnens in einem Stadtteil wie Monte Laa. Sowohl Wohnpraktiken als auch das räumliche Verständnis entfalten sich in einem multiskalaren Kontext. In diesem nehmen sehr unterschiedliche nationale, regionale und transnationale Akteur_innen Einfluss auf vermeintlich ‚normale‘, aber sich stets verändernde Vorstellungen von Stadt.
So beschrieb etwa eine Interviewpartnerin ungarischer Herkunft die Veränderungen in ihrem erweiterten Wiener Wohnumfeld, indem sie János Lázár, einen Vertreter der ungarischen Regierung, zitierte. Ungarn verfolgt nicht erst seit 2015 eine sehr restriktive Migrationspolitik. 2018 postete Lázár ein Video, das ihn selbst auf einem Rundgang durch den Wiener Bezirk Favoriten zeigte. Diesen schilderte er dabei sinnbildlich als multikulturellen Albtraum in der Mitte Europas (Mayer 2018). In diesem hätten ‚muslimische Zuwanderer_innen‘ die Kontrolle übernommen und ‚christliche Bewohner_innen‘ verdrängt.
Diese bewusst alarmierenden Aussagen richteten sich an ein Publikum in Ungarn, doch sie hatten auch Einfluss auf das reale Wohnerleben einer Interviewpartnerin im nahe dem Drehort gelegenen Monte Laa. Das Beispiel unterstreicht, dass Monte Laa ein städtischer Ort in einem multiskalaren, zentral- und osteuropäischen Kontext ist. In diesem wird Monte Laa immer wieder neu positioniert, nicht zuletzt durch die Alltagsbeziehungen seiner Bewohner_innen. 2018 machte ein Interviewpartner die seit 2011 veränderte Position mit folgenden Worten zum Thema: „Ich bin ja nicht umgezogen, aber meine Wohnung die liegt […] irgendwie ganz woanders als vor sieben Jahren.“ (Interview mit Niko 2018)
2018 lag der Wohnort Monte Laa für viele Interviewpartner_innen in einem widersprüchlichen zentral- und osteuropäischen Alltagsraum, in dessen Imagination sich immer stärker ‚muslimische‘ von ‚nicht muslimischen‘ Räumen abgrenzten. Diese Dualität war zunehmenden auch für die Alltagspraktiken prägend. Es liegt jedoch im Wesen einer konjunkturellen Analyse des städtischen Raumes, dass eben diese Dualität schon heute von anderen Raumvorstellungen und damit verbundenen Praktiken überformt worden sein könnte.
Der Beitrag hat gezeigt, dass die Wiederholung eines narrativen Settings Möglichkeiten eröffnet, um lokale Verschiebungen des Alltagslebens in einen weiter reichenden, konjunkturellen Zusammenhang zu stellen. Zum methodischen Schlüssel wird hierbei die Gegenüberstellung von Erzählungen derselben Interviewpartner_innen aus den Jahren 2011 und 2018. Die qualitative Tiefe ergibt sich daraus, dass erzählte Lebensgeschichten, wie Linde (1993) hervorhebt, stets in ihrer Schlüssigkeit konstruiert sind. Anhand der Wiederholung narrativer Interviews kann gezeigt werden, wie sich die Kohärenzkonstruktion und die eigene Positionierung in der Narration verändern. Zugleich erscheinen wohnbiographische Erzählungen aufgrund der intimen Wohnthematik oft anhand der Unterscheidung in ‚eigene‘ und ‚fremde‘ Räume strukturiert. Verschiebungen der eigenen Positionierung treten daher auch in Bezug auf diese räumliche Unterscheidung hervor. So entsteht eine methodische Brücke zwischen der eigenen Identitätskonstruktion und dem Raumerleben beziehungsweise der alltäglichen Wohnpraxis.
Die Erzählungen können jedoch nicht nur mit der eigenen früheren Narration verglichen werden, sondern auch mit den Erzählungen von Nachbar_innen. Diese doppelte Ebene des Vergleichs ermöglicht es, gemeinsame Tendenzen herauszuarbeiten. Das zeigte sich im Fall von Monte Laa etwa anhand der ähnlichen Ereignisse, um welche die Wohngeschichten in den Interviews von 2018 strukturiert waren. So waren viele Erzählungen auch formal um die sogenannte ‚Flüchtlingskrise‘ 2015 als Wendepunkt im subjektiven Raumerleben organisiert. Ebendieser Zusammenhang kann herausheben, wie sich weitreichende, konjunkturelle Veränderungen in geänderten lokalen Alltagspraxen räumlich ausdrücken. Dies betrifft sowohl die Unterscheidung in als ‚eigene‘ und ‚fremde‘ empfundene Räume als auch die subjektive Positionierung in Bezug auf diese Trennlinien.
Kernaspekt der Auswertung war die Verortung des Wohnalltags in einem multiskalaren Kontext, vom Wohnhaus ausgehend über Wiener Stadtteile und angrenzende Regionen in Österreich und den Nachbarländern bis hin zu den Geburtsländern der Bewohner_innen. Die Gegenüberstellung von 2011 und 2018 zeichnet Monte Laa als Ort aus, der auch dadurch entsteht, dass Bewohner_innen veränderte Beziehungen zu anderen Orten herstellen und das Wohnquartier in einem translokalen Kontext stets neu positionieren. Das gilt sowohl für den imaginierten Stadtraum als auch für den tatsächlich gelebten.
Monte Laa erscheint dabei nicht nur als Wiener Ort, sondern – 2018 noch stärker als 2011 – in einen transnationalen, zentral- und osteuropäischen Raum integriert. So verorten sich Arbeits- und Alltagsfunktionen der Bewohner_innen in mehreren Ländern, ebenso wie die ‚vertrauten‘ und ‚unvertrauten‘ Räume ihres Alltags. Mediale und politische Debatten in diversen zentral- und osteuropäischen Ländern können die Verschiebung von Zugehörigkeiten und Grenzziehungen im Wiener Wohnquartier beeinflussen, wie auch die Art, sich im Alltag fortzubewegen. Stark zu erkennen war hier insbesondere der seit 2015 gestärkte Einfluss von rassistischen und vor allem antimuslimischen Positionen.
Daniele Karasz ist Sozialanthropologe und arbeitet zu Themen des Wohnens, der Stadtentwicklung sowie der Migration.
daniele.karasz@univie.ac.at
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Interview mit Maria, Bewohnerin von Monte Laa (2018).
Interview mit Paula, Bewohnerin von Monte Laa (2018).
Interview mit Niko, Bewohner von Monte Laa (2018).
Interview mit Sara, Bewohnerin von Monte Laa (2018).