Nützliche Illusionen

Stefanie Bürkle

MODELLVERSUCHE
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Nacheinander wird uns erst das linke, dann das rechte Auge zugehalten. Immer kleiner werdende Details der sich ins Unendliche erstreckenden Räume müssen wir beim Sehtest identifizieren, während die Zentralperspektive uns anzieht. Die Fotografien von Stefanie Bürkle messen den Grad unserer Wahrnehmungsfähigkeiten. Links und rechts zwei unterschiedliche Motive, verschiedene Ansichten von Stadt- und Raumstrukturen treffen aufeinander um unsere Wahrnehmung zu irritieren. Über die Bildgrenze hinweg setzen sich Perspektivlinien auf der jeweils anderen Bildhälfte fort.

Sie sind „Stereosichten, dialogische duale Sichten“ auf eine anscheinend bekannte Welt Als Schatten auf der Netzhaut nehmen wir das linke Motiv mit, während wir das rechte betrachten und umgekehrt. So entsteht ein oszillierender Blick, der zwischen den Motiven springt und Strukturen abzugleichen sucht, um sie zur Kongruenz (Deckungsgleichheit) zu bringen (was kaum gelingen kann). Wie bei einer mathematischen Gleichung stehen sich rechts und links eine Vielzahl von Informationen in Formeln gegenüber. Nach Kürzung aller augenscheinlichen Gemeinsamkeiten liegt die eigentliche Essenz, die Struktur, der Inhalt der Fotografien bloß. Die Schönheit dieser Gleichung besteht hier allerdings in ihrer Unlösbarkeit, ihrem Widerspruch.

Die Ableitungen vom altbekannten Raum in unterschiedlichen Maßstäben sind Inhalt der Arbeit „Dimensionen“. Durch das „Stereoskop“ glaubt unser Auge einen städtischen Platz zu erkennen. Links täuscht uns die, den Proportionen der europäischen Stadt entlehnte, Pariser Flughafenarchitektur – rechts befinden wir uns zwar auf dem Markusplatz, allerdings nicht in Venedig, sondern in Shenzen, in einem chinesischen Themenpark.

Die Arbeit „Wachstum“: Das rastlose Wachstum der Städte führt den Betrachter von Shenzen nach Paris La Défense. Wie blinde Flecken im Zentrum der Bildperspektiven, an denen die Autobahnen vorbeileiten, gibt es Relikte aus einer früheren Zeit. Hüttenunterkünfte werden eingemauert, damit die Hochglanzstadt störungsfrei weiterwuchern kann; auch ist eine überflüssig gewordene Autobahnabfahrt zu sehen, die inmitten einer hysterischen Bautätigkeit ins Leere führt.

Bei „Panorama“ steht im Anatonomiesaal des Naturkundemuseums in Paris der Mensch im Zentrum der Perspektive. Gehäutet und ausgestellt schreitet er der skelettierten Schöpfung voran. Die Menschen in der schier unendlichen Halle des neuen Terminals am Flughafen Charles des Gaulles bewegen sich als Passagiere wie Schatten.

Das Element Wasser steht in der Arbeit „Minimeere" im Mittelpunkt. In der zweckmäßigen Industriearchitektur der Wasserversuchsanstalt in Berlin werden Schiffsmodelle auf ihre Seetauglichkeit hin überprüft. In der Pariser Badeanstalt Piscine Pontoise erlernte der naturentwöhnte Städter das Schwimmen in einer Passage. Beide Male ist ein Mikrokosmos geschaffen worden, eine künstliche Welt für wissenschaftliche und Vergnügungszwecke. Stichwort: Zweckarchitektur – Themenarchitektur.

Die Fotoserie „Nützliche Illusionen" fordert die Wahrnehmung der ineinander verwobenen dualen Elemente aus linker und rechter Bildhälfte heraus – die auf beiden Seiten wiederkehrenden Formen, die inhaltlichen Bezüge, die unterschiedlichen Nutzungen bei gleicher Architektursprache, die sich spiegelnden Perspektiven. Sie bilden einen neuen, assoziativen Raum jenseits der Abbildungen – einen Raum der Illusionen.

Aus der Serie nützliche Illusionen 2000-2006:
MODELLVERSUCHE ©Stefanie Bürkle/VG Bild-Kunst