Kein Einzelfall

Über den Tod von Adel B., der während eines Polizeieinsatzes in Essen-Altendorf erschossen wurde

Moritz Rinn, Jan Wehrheim, Lena Wiese

18. Juni, Essen-Altendorf

Am frühen Morgen des 18. Juni 2019 wird Adel B. im Eingangsbereich seines Wohnhauses in Essen-Altendorf von einem Polizisten der Kreispolizeidirektion Essen erschossen. Zuvor hatte der 32-Jährige bei der lokalen Polizeibehörde angerufen und angekündigt, sich das Leben nehmen zu wollen. Nachdem er zu Fuß und mit einem Messer in der Hand durch den Stadtteil gelaufen war, im Disput mit Polizist*innen, die ihn mit gezogenen Waffen verfolgten, geht er schließlich nach Hause. Als er mit seiner Lebensgefährtin telefonierend das Mehrparteienhaus betritt, stürmen die Polizist*innen hinter ihm her, einer von ihnen feuert einen Schuss ab, der Adel B. durch die Haustür hindurch in den Oberkörper trifft. Adel B. verblutet noch vor Ort. In den ersten Presseverlautbarungen der Polizei ist davon die Rede, dass er vor seiner Wohnung mit dem Messer auf die Polizist*innen losgestürmt sei. Diese Darstellung ist falsch, widerlegt auch durch ein vielbeachtetes Handyvideo (vgl. Pesch 2019a). Ein Nachbar hatte den Einsatz aus seiner Wohnung heraus gefilmt und das Video anschließend veröffentlicht. Im August demonstrieren gut 80 Leute durch Altendorf und fordern „Gerechtigkeit für Adel“. Drei Monate später werden die polizeiinternen Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft eingestellt. Der Polizist habe einer akut bedrohten Kollegin Nothilfe geleistet. Eine Debatte über den Tod von Adel B. findet in der stadtpolitischen Öffentlichkeit kaum statt. Abgeschlossen ist der ‚Fall‘ damit jedoch noch nicht. Adel B.s Mutter kündigt an, juristisch gegen diese Entscheidung vorzugehen und auch eine lokale Initiative formiert sich, die Aufklärung und Gerechtigkeit fordert.

In Altendorf ist ein Mensch, der in einer persönlichen Notsituation Hilfe gesucht hat, durch Polizeikräfte ums Leben gebracht worden. Ein Mensch, der alltägliche rassifizierende Zuschreibungen erfahren haben muss. Adel B. war zwar deutscher Staatsbürger, dass er aber in der Presse als „Deutscher mit algerischen Wurzeln“ beschrieben wird, muss mit seiner Erschießung und der anschließenden Verhandlung der Ereignisse in Zusammenhang gesetzt werden. Ebenso wie die Tatsache, dass Adel B. Bewohner eines Stadtteils war, der seit Jahren als problematisch und gefährlich stigmatisiert wird. Wir haben in den Monaten vor seinem Tod in Altendorf geforscht,[1] sind zahlreichen Bewohner*innen begegnet, haben viele Gespräche geführt. Wir haben einen ausgeprägten alltäglichen Rassismus wahrgenommen, und uns wurde von rassistischen Übergriffen berichtet. Und wir konnten eine enorme Präsenz von Polizeikräften beobachten. Über das Geschehene zu schreiben, ist für uns eine nicht nur forschungspolitische Notwendigkeit. Denn: Was im Sommer 2019 in Altendorf geschehen ist, ist kein Einzelfall. Zwei Jahre zuvor, am 27. April 2017, erschoss ein Essener Polizist Mikael Haile in dessen Wohnung im Stadtteil Altenessen, nachdem ein Nachbar wegen Ruhestörung die Polizei gerufen hatte. Der 22-Jährige, der aus Eritrea nach Deutschland geflüchtet war, sei an diesem Abend mit einem Messer auf den Polizisten losgegangen, so die offizielle polizeiliche Darstellung, die seine Angehörigen und Freund*innen bis heute zurückweisen. Ihr öffentlicher Protest verhallte weitgehend ungehört. Die Staatsanwaltschaft erkannte Notwehr (Pesch 2019b). Haile lebte in einem Essener Stadtteil, der ebenfalls seit Jahren als ‚Problemviertel‘ gelabelt wird.

Der Zusammenhang von Rassismus, der Konstruktion ‚gefährlicher Quartiere‘, selektiven Polizeipraktiken und Polizeigewalt ist vielfach beschrieben worden und auch durch internationale Forschungen gut belegt. So unterscheidet sich polizeiliches Handeln je nach Einsatzort. Von Bedeutung sind die lokalen Wissensbestände der street cops über das eigene ‚Revier‘ und das dortige ‚Klientel‘. In einem Prozess der „ökologischen Kontamination“ (Smith 1986) werden alle Personen, die in einem ‚schlechten Gebiet‘ angetroffen werden, für die negativen Eigenschaften, die diesem Gebiet zugeschriebenen werden, moralisch in Haftung genommen. Die „(kollektive) Wahrnehmung von Stadtteilen, aber auch von einzelnen Straßenzügen, Parks und Plätzen“ (Belina/Wehrheim 2011: 213) beeinflusst also die polizeilichen Kriminalisierungspraktiken. Das kann von einem sozialräumlich unterschiedlichen Einsatz polizeilicher Zwangsmaßnahmen (vgl. auch Lautenschlager/Omori 2019) bis zum Einsatz des polizeirechtlichen Instruments der „gefährlichen Orte“ reichen, mit dem sich die Polizei selbst die Befugnis erteilt, verdachtsunabhängige Kontrollen durchzuführen – wie etwa auch in Altendorf.

Polizeigewalt allgemein ist zudem keine seltene Ausnahme (vgl. jüngst zu Deutschland Abdul-Rahman/Espín Grau/Singelnstein 2019). Sie ist vielmehr ‚normal‘ und zugleich selektiv. Für die USA, Großbritannien, Frankreich oder Bulgarien etwa ist gut dokumentiert, dass Schwarze Menschen, People of Color und Rom*nija überproportional oft von polizeilichen Kontrollmaßnahmen, Polizeigewalt und Tötungen betroffen sind (vgl. statt vieler etwa Miller et al. 2008). Es ist gleichzeitig vielfach beschrieben, dass Rassismuserfahrungen auch darin bestehen, von weißen Personen als besonders emotional, impulsiv oder aggressiv wahrgenommen zu werden, gerade auch im Zusammenhang mit tödlichen Polizeieinsätzen (bspw. Bruce-Jones 2015). Der Einsatz von tödlichem polizeilichem Zwang trifft zudem ebenso überproportional oft Personen mit psychischen Problemen (Baker/Pillinger 2019: 2).

Vieles spricht also dafür, dass sich in der Erschießung von Adel B. verschiedene polizeiliche Selektivitäten zu tödlicher Gewalt verdichtet haben: (kolonial)rassistisches Wissen, Typisierungen und Praktiken (vgl. Thompson 2018), Stigmatisierungen und Unkenntnisse im Umgang mit Menschen mit psychischen Schwierigkeiten und eine stadträumliche Selektivität. Der Tod von Adel B. war kein „tödliches Drama“ (so die Westdeutsche Allgemeine (WAZ), Kinscher 2019) und kein Einzelfall. Trotz aller Unterschiede erinnert er uns an den kamerunischen Studenten William Tonou-Mbobda, der zwei Monate zuvor zwar nicht durch Polizeikräfte, aber durch den Sicherheitsdienst der psychiatrischen Abteilung des Universitätsklinikums Eppendorf in Hamburg zu Tode kam.[2] Er erinnert uns unweigerlich an die zahlreichen Todesfälle Schwarzer Menschen und People of Color durch deutsche Polizist*innen – sei es in Polizeigewahrsam oder in Einsatzsituationen (El-Tayeb/Thompson 2019). Und an die vielen skandalösen Ermittlungs- und Gerichtsverfahren im Anschluss, von denen der Fall des in einer Dessauer Polizeiwache ermordeten Oury Jalloh wohl am bekanntesten ist, nicht zuletzt aufgrund der bis heute unermüdlichen Arbeit von Aktivist*innen.[3] Auch bei den Tötungen von Adel B. und Mikael Haile bleibt bislang unaufgeklärt, was genau passiert ist. Dabei bestehen jeweils gut begründete Zweifel an der Version der Polizei. Im Fall von Adel B. haben Polizist*innen zumindest anfänglich offensiv gelogen und – so die Aussage des filmenden Augenzeugens – das Video vom Handy des Augenzeugens entfernt. Medial wurden zudem die Darstellungen der Polizei und der Staatsanwaltschaft zunächst weitgehend übernommen, Adel B. wurde diskreditiert und als potenziell gefährlich für sich, seine Angehörigen und die Allgemeinheit dargestellt. Eine solche Täter-Opfer-Umkehr („blaming the victim“) ist ein typisches Muster zur nachträglichen Rechtfertigung von Polizeigewalt (Baker/Pillinger 2019: 10 f., El-Tayeb/Thompson 2019: 319).

Adel B.s Tod berührt uns auf eine besondere Weise. Als wir im Herbst 2018 und Frühjahr 2019 mehrere Monate in Altendorf forschend unterwegs waren und ganz unterschiedlichen Menschen im Stadtteil begegnet sind, war auch Adel B. einer von ihnen. Davon gehen wir zumindest gut begründet aus, auch wenn wir aus Datenschutzgründen keine persönlichen Informationen von unseren Forschungspartner*innen erhoben haben. Auch haben wir alle Gespräche unter der Voraussetzung geführt, die Erzählungen vertraulich zu behandeln und nur anonymisiert zu nutzen. Daran halten wir uns selbstverständlich auch nach seinem Tod. Gleichzeitig halten wir es für wichtig, offenzulegen, dass wir mit Adel B. gesprochen haben. Dass wir ein längeres, ausführliches Gespräch über sein Leben in Altendorf geführt haben, dass wir ihn als stadtteilpolitisch informiert und reflektiert und als ausgesprochen angenehm und aufgeschlossen erfahren haben. Seine Geschichte ist für uns damit untrennbar mit unserer Forschung verbunden. Und wir sehen eine forschungspolitische Verantwortung, das Geschehene zu dokumentieren, es mit unserer bisherigen Forschung im Stadtteil in Beziehung zu setzen und öffentlich zu intervenieren.

Altendorf ist ein Stadtteil, der seit mehreren Jahrzehnten als ‚Problemquartier‘ mit Strategien der ‚sozialen Mischung‘ aufgewertet werden soll. In unserem Forschungsprojekt gehen wir der Frage nach, wie sich sozial ungleich und unterschiedlich positionierte Bewohner*innen Altendorfs städtische Ressourcen – Wohnraum, nachbarschaftliche Infrastrukturen, öffentliche Räume – aneignen und welche Konflikte sie dabei austragen. Dabei zeigt sich ziemlich deutlich, dass gerade die polizeiliche Bearbeitung von ‚Jugendgangs‘, Drogen- und ‚Clan-Kriminalität‘ und eine damit einhergehende mediale Skandalberichterstattung bedeutende Auswirkungen auf die Alltage von Menschen in Altendorf haben: auf die Wahrnehmungsweisen, nachbarschaftlichen Beziehungen und alltäglichen Konflikte. Insbesondere die sich als alteingesessen und deutsch positionierenden Bewohner*innen artikulieren alltägliche Schwierigkeiten und Ärgernisse im Stadtteil auffallend häufig mittels ethnisierender und kulturalisierender Gruppenkonstruktionen. Wahrgenommene Störungen und Gefahren werden in den Erzählungen über den Stadtteil regelmäßig mit „den Ausländern“, die „immer mehr werden[4], verknüpft. Zugleich wird uns von zahlreichen Rassismuserfahrungen im Stadtteil berichtet: Zwei Jugendliche, deren Familien aus dem Kosovo nach Altendorf gezogen sind und die hier seit Jahren nur einen Duldungsstatus haben, erzählen, sie würden im Stadtteil regelmäßig von der Polizei kontrolliert:

Weil die denken, du machst was mit Drogen. Neulich bin ich hier so langgegangen, habe in meine Bauchtasche reingefasst, wollte was rausholen, und dann hat die Polizei mich angehalten und wollten meinen Ausweis sehen. Ich so: ‚Warum kontrolliert ihr mich?‘ Und die: ‚Weil in Altendorf so viel mit Betäubungsmitteln gehandelt wird, und Falschgeld‘ und so weiter. Aber ehrlich, also die Deutschen werden nie kontrolliert, also ich habe nichts gegen die Deutschen, aber es werden immer nur die Ausländer kontrolliert. Die denken halt, die Ausländer handeln alle mit Drogen, aber das stimmt nicht.

Ein Schwarzer Bewohner berichtet, er werde regelmäßig im Stadtteil von Passant*innen nach Drogen gefragt: „Das ist so lästig [annoying]. Die sehen, du bist ein Schwarzer Mann und dann denken die, ich sei ein Dealer. Ich kann nicht einfach die Straße entlanggehen, immer kommen die Junkies und fragen mich: ‚Hast du was?‘ “ Eine Bewohnerin, die vor mehreren Jahrzehnten aus der Türkei nach Essen gezogen ist, erzählt: „Viele Deutsche hier mögen keine Ausländer. Das ist mehr geworden.“ Auch weitere Bewohner*innen berichten, dass sich „deutsche“ Nachbar*innen im Haus regelmäßig ungerechtfertigterweise beschweren würden. Die Korrespondenzen dieser erzählten Erfahrungen mit der stadtpolitisch-polizeilichen Konstruktion der ‚üblichen Verdächtigen‘ im ‚gefährlichen Problemquartier‘ sind kaum übersehbar.

Unser Anliegen ist es, Adel B.s Tod und dessen anschließende öffentliche (Nicht-)Verhandlung in den Zusammenhang dieser Alltagsverhältnisse in Altendorf zu setzen: Es geht um alltägliche Beziehungen von Bewohner*innen des Stadtteils, um dessen Entwicklungsgeschichte, aber auch um die lokale Polizeikultur. Wir fragen uns, wie es zur Erschießung eines Altendorfer Bewohners durch einen Polizisten kommen konnte, und wie es verstehbar wird, dass diese Erschießung außerhalb des Kreises von Angehörigen, Freund*innen und Aktivist*innen kaum Widerspruch nach sich gezogen hat – ganz analog zur Erschießung von Mikael Haile zwei Jahre zuvor. Denn während Angehörige und Freund*innen Aufklärung und Gerechtigkeit fordern, scheint die erneute Erschießung eines Bewohners durch die örtliche Polizei in der dominanten öffentlichen Debatte in Essen kein Thema (mehr) zu sein. Kann es eine ‚Stadtgesellschaft‘ tatsächlich einfach so hinnehmen, dass zwei Stadtbewohner von der örtlichen Polizei erschossen wurden? Spielt es dafür eine Rolle, dass es sich nicht um weiße Personen gehandelt hat? Wessen Tod wird öffentlich betrauert, wessen nicht? Der Eindruck drängt sich auf, dass hier eine kollektive Verleugnung institutionalisierter wie alltäglicher Rassismen durch Polizei, Stadtpolitik und in den dominanten medialen Diskursen stattfindet, die fatale Folgen hat. Deshalb gilt es, auch als Forscher*innen jene Positionen zu stärken, die diese Verleugnung angreifen.

„Gerechtigkeit für Adel!“

Als Angehörige, Freund*innen und Aktivist*innen eine Demonstration organisieren und „Gerechtigkeit für Adel“ fordern, folgen auch wir dem Aufruf. Wir wollen uns solidarisieren und auch unabhängig von unserer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Stadtteil zeigen, dass uns Adel B.s Tod erschüttert und wütend macht. Wir wollen aber auch mit den Menschen ins Gespräch kommen und mehr über ihre Beweggründe erfahren, an der Demonstration teilzunehmen. Zugleich wollen wir den Angehörigen und ihren Unterstützer*innen unsererseits Unterstützung anbieten, wohl wissend, wie begrenzt unsere Möglichkeiten gerade jetzt sind. Am frühen Abend des 8. August 2019 versammeln sich zunächst mehrere Dutzend Leute am Ort der Auftaktkundgebung, später werden es um die achtzig Teilnehmende sein: Neben den Organisator*innen sind es Nachbar*innen und andere Bewohner*innen des Stadtteils, Leute, die wir dem lokalen linken Spektrum zuordnen, aber auch überregional angereiste Aktivist*innen, etwa von der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh. Schilder mit Forderungen nach Aufklärung der Todesumstände von Adel B. werden getragen. Menschen kommen miteinander ins Gespräch. Es werden Sprechchöre gerufen und vorbereitet oder spontan Redebeiträge gehalten. Ein junger Mann aus der Nachbarschaft erzählt, er habe als Mitarbeiter einer psychiatrischen Einrichtung regelmäßig mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen zu tun:

Die Polizei behauptet, sie musste Adel erschießen, weil er bewaffnet war, aus Notwehr. Ehrlich, wir haben da dauernd solche Situationen, dass da jemand aufgeregt ist, auch mit einem Messer vor mir steht, sich umbringen will. Und wir schaffen das immer, die Person zu beruhigen, und das ganz ohne Gewalt. Es kann doch nicht sein, dass die Polizei so unfähig ist, dass die das nicht auch kann.

Er kritisiert, dass Altendorf in den Medien immer als „gefährlicher Stadtteil“ dargestellt werde: „Jeder, der hier wohnt, weiß, dass das nicht stimmt. Trotzdem ist hier permanent die Polizei unterwegs, und das kann nicht sein“. Ein weiterer Redner, der sich als Roma-Aktivist vorstellt, schildert, wie er von klein auf mit der Polizei zu tun gehabt habe: „Schaut mich an, mein Gesicht. Meine Gesichtszüge ähneln denen von Adel. Die Polizei schikaniert uns, egal was wir machen. Jeder, der so einen Background hat wie wir, kennt das. Das passiert jeden Tag. Das ist Rassismus. Die Polizei hat Adel ermordet.“ Nach seiner Rede wird er von einem Polizisten zur Seite genommen, offenbar hat dieser etwas dagegen, dass die Erschießung Adel B.s als Mord bezeichnet wird. Das greift ein Aktivist der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh auf und erklärt die rechtliche Lage: „Die Leute sind ja keine Juristen oder so, sondern das ist eine gemein geläufige Bezeichnung dafür, dass jemand durch Einwirkung eines anderen zu Tode gekommen ist, in Abgrenzung etwa von einem Unfall. Und deshalb sage ich: Unserer Meinung nach war das Mord.“ Auch die Mutter von Adel B. spricht im Verlauf der Demonstration mehrfach, sie wird von Freundinnen per Handy zugeschaltet. Sie bedankt sich bei den Demonstrierenden und verspricht im Namen ihrer Familie, sie werde nicht ruhen, bis der Tod ihres Sohnes aufgeklärt sei. Sie werde mit anwaltlicher Unterstützung alles tun, damit die Täter bestraft würden. Vor dem Wohnhaus, in dem Adel B. gestorben ist, werden zwei Schweigeminuten gehalten.

Für die Teilnehmenden der Demonstration wie auch für einige derer, die eher vom Straßenrand aus das Geschehen beobachten, ist klar: Die Polizei hat falsch und unangemessen gehandelt. Wir kommen mit zahlreichen Leuten ins Gespräch, von denen nicht wenige auf persönlich erlebte rassistische Polizeipraktiken zu sprechen kommen. Ihre Erzählungen decken sich mit jenen in unseren zuvor geführten Interviews und unseren Beobachtungen während zahlreicher Aufenthalte im Stadtteil. Insbesondere die jüngeren Einsatzkräfte werden kritisiert: Sie seien zu impulsiv, hätten sich selbst nicht im Griff und agierten in Kontrollsituationen provokativ und aggressiv. Nachbar*innen oder entfernte Bekannte brachten ihre Betroffenheit zum Ausdruck – sie hätten Adel B. als einen „Anständigen“ erlebt. Die immer wieder gestellte Frage, warum man ihm nicht in die Beine geschossen habe, lässt sich dabei als Kritik an der Unverhältnismäßigkeit des polizeilichen Handelns verstehen. Aber auch die Frage, wie es sein könne, dass jemand, der Hilfe benötigt, erschossen werde, begegnet uns während der Demonstration mehrfach. Als der Demonstrationszug endet, verstreuen sich die Leute. Die Initiator*innen rufen auf, sich zu vernetzen und laden zu einem ersten Initiativentreffen ein. Wenige Wochen später gründet sich eine Initiative, die die Erschießung von Adel B. und Mikael Haile nicht auf sich beruhen lassen will.[5] Nach der Einstellung des polizeiinternen Ermittlungsverfahrens gegen den Polizisten, der Adel B. erschossen hat, demonstriert die Initiative Ende Oktober 2019 erneut vor der Essener Staatsanwaltschaft und fordert eine juristische Aufklärung in einem Gerichtsprozess, die Einrichtung einer unabhängigen Kontrollstelle für Fälle von Polizeigewalt, eine bessere medizinische Versorgung für psychisch kranke und suizidgefährdete Menschen und auch ein Ende rassistischer Stimmungsmache und der „Law-and-Order“-Politik.[6]

Problemquartierbearbeitung und Polizeipraktiken

Ein Tod lässt sich nicht einfach ‚verstehen‘. Wir können aber versuchen, die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu beleuchten, in denen sich die polizeiliche Erschießung eines Deutschen of Color ereignet hat. Und dafür ist es eben nicht unerheblich, wo Adel B. erschossen wurde. Seit die Essener Stadtpolitik Ende der 1990er Jahre damit begonnen hat, Altendorf zu ‚entwickeln‘, findet sich in den entsprechenden programmatischen Konzepten die diskursive Verknüpfung von ‚Ausländern‘ und ‚Problemen‘ bzw. ‚ethnischen Konflikten‘ in der Nachbarschaft (bspw. Stadt Essen 1999). Zentral war dabei die nicht näher bestimmte Problemdefinition der „Segregation“. Im Hintergrund stand die sozialstatistische Diagnose einer räumlichen Konzentration von Menschen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit und von Transferleistungsempfänger*innen. Und so entfaltete sich die Programmatik der „Sozialen Stadt“[7] auch in Altendorf. Diverse städtebauliche Aufwertungsmaßnahmen wurden begleitet von multikulturalistisch orientierten Nachbarschaftsprojekten. Auch wenn es rassistische Artikulationen innerhalb von Nachbarschaften gab (worauf Presseartikel aus dieser Zeit hinweisen), wurden diese offenbar nicht als stadtpolitischer Interventionsanlass begriffen. Es ging vielmehr um ‚Vermittlung‘ zwischen als ethnisch unterschiedlich klassifizierten Bewohner*innen und um eine ‚Aktivierung‘ von Selbsthilfepotenzialen. Ziel war es, die Abwanderung ‚alteingesessener‘ Bewohner*innen und eine ‚problematische‘ Neuzusammensetzung von Wohngebieten zu verhindern. Ab Mitte der 2000er Jahre wurde dann noch offensiver versucht, die ‚soziale Mischung‘ im Stadtteil zu ‚verbessern‘, indem Besserverdienende durch den Neubau von attraktivem Wohnraum angelockt werden sollten. Damit verknüpft war die Hoffnung auf einen Imagewandel des Stadtteils. Die Zielrichtung dieser Strategie lässt sich zugespitzt auch als eine ‚Senkung des Ausländeranteils‘ und eine ‚Rückeroberung des Stadtteils‘ für die (als weiß-deutsch und lohnarbeitend imaginierte) ‚Normalbevölkerung‘ lesen.

Folgt man der Einschätzung der Stadtentwicklungspolitik und der medialen Repräsentation, ist ein solcher Wandel allerdings bisher ausgeblieben. Altendorf wird nach wie vor problematisierend als „Ankommensstadtteil[8] für Migrant*innen und Geflüchtete beschrieben. Als Ursache wird folgender ‚Teufelskreis‘ identifiziert: Geringe Mieten und unattraktiver Wohnraum machten den Stadtteil zum Anziehungspunkt für eine ‚problematische‘ Bevölkerung. Deren geringe Kaufkraft führe zu einer ‚einseitigen‘ und ‚unattraktiven‘ Gewerbeinfrastruktur.[9] Weitere Anzeichen seien ‚Problemschulen‘; es häuften sich Desintegrationsphänomene, grassierende Alltagsdevianz („Müll“, „Lärm“ und Verkehrsdelikte) und Kriminalität (insbesondere „Drogenhandel“). So reproduziere sich dann auch der „schlechte Ruf “ des Stadtteils. Und deshalb seien fortlaufende Gegenstrategien notwendig, um Altendorf attraktiver für Mittelschichtshaushalte zu machen.

Solche Strategien der ‚sozialen Mischung‘ können als bevölkerungspolitische Interventionen in die beschriebene ‚Abwärtsspirale‘ verstanden werden. Diese sind aber nicht nur hinsichtlich von Klassenzugehörigkeiten selektiv. Es geht – zumeist implizit – auch um das Aufbrechen einer räumlichen Konzentration ‚problematischer Ausländer‘. Eine zentrale Voraussetzung solcher forcierter Aufwertungspolitiken ist dabei eine rigide Ordnungspolitik. Und so ist die Problemperspektive der mischungsorientierten Stadtentwicklungspolitik in Altendorf eng verflochten mit lokalen Polizeistrategien. Die durch rassifizierende und kriminalisierende Zuschreibungen konstruierte ‚gefährliche Bevölkerung‘ ist dabei Ausgangspunkt der gegenwärtigen landesweiten polizeilichen Strategien der „Politik der 1000 Nadelstiche“ und der „Null-Toleranz-Politik“. Diese zielen unter Federführung von NRW-Innenminister Herbert Reul auf die flächendeckende Durchsetzung von „Recht und Ordnung“ ab (bspw. Burger 2018). In Altendorf wird diese Programmatik vor allem durch eine Dauerpräsenz der Polizei im Stadtteil sichtbar, gerade auch in Form von intensiver anlassloser Bestreifung, aber auch regelmäßiger und gezielter Razzien in als ‚ausländisch‘ markierten Shisha-Bars, Gaststätten, Teestuben oder Wettbüros. Zur Bekämpfung des lokalen Drogenhandels wurde schon vor Jahren ein Kreuzungsbereich als „gefährlicher Ort“ definiert, an dem anlasslose Polizeikontrollen durchgeführt werden können. Eine Praktik, die laut Aussage eines Polizeibeamten in der Altendorfer Bevölkerung wenig Beschwerden hervorgerufen habe, insbesondere auch keine Rassismusvorwürfe gegenüber der Polizei. In Altendorf lassen sich, so also das polizeiliche Wissen, relativ unproblematisiert repressiv-kontrollintensive Polizeistrategien gegen die ‚üblichen Verdächtigen‘ durchführen.

Man könnte nun annehmen, dass die lokale Stadtentwicklungspolitik die polizeiliche Bearbeitung Altendorfs als ‚gefährliches Viertel‘ eher kritisch sieht. Denn es geht ihr ja um den Ruf des Stadtteils, und da sind mediale Skandalberichte über Polizeieinsätze wohl eher schädlich. Doch das Gegenteil ist der Fall: Von uns interviewte Mitarbeiter*innen der Stadtverwaltung und involvierter sozialer Träger befürworten die polizeiliche „Null-Toleranz-Strategie“ und begrüßen die „kontinuierlichen Interventionen“. Verstehbar wird das auch dadurch, dass diese Kontrollpraktiken mit den stadtteilpolitischen Zielen korrespondieren: Die Bewohner*innen, die mehr Sicherheit, (soziale) Kontrolle und Ordnung fordern, sollen vom Verbleib im Stadtteil überzeugt, der Zuzug von Mittelschichtshaushalten auch durch Ordnungspolitiken mittelfristig ermöglicht werden. Plausibel wird so auch der Appell an die Bewohner*innen, bei Störungen oder Konflikten die Polizei zu kontaktieren. Durch diese Einbindung wird die Polizei zugleich als legitime Beschwerde- und Konfliktlösungsinstanz alltäglicher Ärgernisse im Stadtteil positioniert.

Kein Fall rassistischer Polizeigewalt? Stimmen aus der Nachbarschaft

Die Erschießung von Adel B. lässt sich als ‚bedauerlicher oder tragischer Einzelfall‘ erzählen, Adel B. kann als ‚psychisch krank‘ oder als ‚gefährlich‘ beschrieben werden. Das Vorgehen der Polizei mag ‚unglücklich‘ oder ‚fehlerhaft‘ erscheinen und der Ablauf der Geschehnisse als Unfall oder auch als ‚schlecht durchgeführter‘ Polizeieinsatz. Solche Deutungen prägten nicht nur die Presseberichterstattung in WAZ und Bild (die mit der Überschrift „Polizei erschießt Messer-Mann“ sogar die jüngste Moralpanik der Verbindung von Migration und Messern aufrief). Als wir in den Wochen nach Adel B.s Tod mit Nachbar*innen und Anwohner*innen auf der Straße ins Gespräch kamen und uns an umliegenden Kiosken danach erkundigten, was denn eigentlich passiert sei und wie es passieren konnte, hörten wir vielfach Schilderungen eines ‚tragischen Vorfalls‘, die erneut um die Frage kreisten, warum der Polizist Adel B. nicht einfach ins Bein geschossen habe. Eine Nachbarin, die sich als Augenzeugin der Ereignisse auf der Altendorfer Straße vorstellte, die aber die Erschießung Adels nicht direkt mitbekommen habe, berichtet:

Der hat schon gerufen, erschießt mich doch, der wollte das ja. Aber das darf man dann nicht machen. Das ist ja mehr ein Hilferuf, der hat ja vorher auch die Polizei gerufen. Ich weiß nicht, man hätte anders handeln können, vorher schießen, ins Knie, ins Bein, man hätte viel Zeit gehabt, mir ist unklar, warum die das gemacht haben. Man hätte den beruhigen sollen.

Warum also, so der Tenor dieser Äußerungen, habe die Polizei einem Mann, der sich umbringen wollte, nicht geholfen, sondern ihn stattdessen getötet? Vielleicht, so vermutete ein Nachbar, habe die Polizei angenommen, dass es sich um einen Terroristen handele – heutzutage gebe es ja diese Leute, die mit einem Messer rumlaufen würden. Hier wird deutlich: Die Vermutung, dass rassistische Zuschreibungen zu den möglichen Bedingungen von Adel B.s Tod zählen könnten, bleibt auch in den Erzählungen, die seinen Tod bedauern, höchstens implizit.[10] Niemand unter den Leuten, mit denen wir eine Woche nach den Ereignissen sprechen, äußert, dass Adel B. von den Polizist*innen als gefährliche Person wahrgenommen wurde, weil er für sie eben einer jener jungen Männer ‚mit nordafrikanischen Wurzeln‘ an einem ‚gefährlichen Einsatzort‘ war – Deutungen, die etwa Teilnehmer*innen der Demonstration deutlich äußerten. Explizit wird Rassismus nun in den Erzählungen derjenigen, die über Adel B.s Tod kein Bedauern äußern. Einige unserer Gesprächspartner*innen zeigten Verständnis für die Polizist*innen und hießen die Erschießung sogar gut: Sie sei notwendig gewesen, um die Bewohner*innen vor einem „Irren“ zu schützen, der mit einer „Machete“ auf der Hauptstraße unterwegs gewesen sei – so etwa ein Kioskbetreiber, der von einer Kundin erzählte, die „dabei gewesen“ sei. Ein direkter Nachbar erzählte, angesprochen auf die Ereignisse:

Nee, ich kannte den nicht wirklich, ich hab davon auch nichts mitbekommen, ich bekomm hier eh nicht so viel mit, wenn ich morgens um fünf Uhr zur Arbeit muss und abends meine Ruhe haben will. Ich hab diesen Knall gehört und hab dann das Fenster aufgemacht, aber die Polizisten haben gerufen: Machen Sie das Fenster wieder zu, und das hab ich auch gemacht. Aber das wird hier ja auch immer doller, das mit den Ausländern am Niederfeldsee und der ganze Müll und das Shisharauchen. Das wird immer mehr.

Eine weitere Anwohnerin machte, unmittelbar vor der Haustür mit den Kerzen, Blumen und Briefen in Gedenken an Adel B. stehend, „Frau Merkel“ für das Ereignis verantwortlich, „die hat ihn hierher geholt, da müssen sie die fragen. Solche Leute, die gehören nicht nach Deutschland“. In solchen Erzählungen tauchen Versatzstücke nicht nur jenes als ‚rechtspopulistisch‘ beschriebenen anti-migrantischen und rassistischen Diskurses auf. Es sind insbesondere zirkulierende Wissensbestände über den Stadtteil Altendorf als ‚Problemviertel‘. Diese ermöglichen erst die diskursive Leistung, eine Verkettung der Elemente „Ausländer“ an einer öffentlichen Grün- und Naherholungsfläche („Niederfeldsee“) mit „Müll“ und „Shisharauchen“ als Kontextualisierung von Adel B.s Tod anzuführen. Nimmt man diese Artikulationen, die stadtpolitische Bearbeitung Altendorfs und die polizeilichen Kriminalisierungspraktiken in ihren rassistischen Dimensionen zusammen, dann verdichtet sich der Eindruck eines spezifischen sozialen Klimas, das mit ermöglicht hat, was am 18. Juni und danach geschehen ist.

Lokalpolitische Verhandlungen: Schweigen und Widerspruch

Zum Tod von Adel B. hat unseres Wissens nach bislang niemand aus der Essener Stadtregierung, aus der Verwaltung oder den Altendorfer Stadtteilgremien öffentlich Stellung bezogen. Parteipolitische Reaktionen – mit Ausnahme einer Pressemitteilung der lokalen Linkspartei Essen – blieben aus. Auch die Kreispolizeidirektion Essen sah sich nicht dazu genötigt, sich zu den offensichtlichen internen Problemen zu äußern oder gar Veränderungen anzustoßen, die möglicherweise verhindern könnten, dass ihre Polizist*innen weitere Menschen bei Einsätzen erschießen. Lokalpolitik und Stadtverwaltung schweigen. Hier scheint kein Interesse zu bestehen, sich mit der Problematik einer lokalen Polizei auseinanderzusetzen, die insbesondere für jene Menschen zur Gefahr wird, die von den rassistischen Kategorisierungsrastern erfasst werden oder die als psychisch oder anderweitig von hegemonialen Normen abweichend gelabelt werden. Und das hängt insbesondere mit den dominanten Erzählungen über die Ereignisse des 18. Juni 2019 und auch des 27. April 2017 zusammen. Die Tode von Adel B. und Mikael Haile werden als Einzelfälle bagatellisiert. Dass auch die seit Jahrzehnten in den Stadtteilen Altendorf und Altenessen präsenten Akteur*innen der integrierten sozialen Stadtteilentwicklung keinerlei Interventionsnotwendigkeit sehen, verwundert dabei kaum: Wie sollten sich jene nun auch äußern, die ansonsten die anhaltenden polizeilichen Kontrollpraktiken gegen (bislang nicht einmal offiziell näher definierte) ‚Clan-Kriminalität‘ oder ‚Drogendealer‘ begrüßen und von Alltagsrassismen in ihren ‚Entwicklungsgebieten‘ schweigen? Auch eine von SPD und Grünen angekündigte Befassung mit Adel B.s Tod im Innenausschuss des Landtags bleibt bislang ohne Effekt – ein dort diskutierter Bericht der Landesregierung bleibt vertraulich, politische Konsequenzen gibt es bislang keine. Und eine stadtöffentliche Diskussion ließe sich, wenn überhaupt, nur im Medium der weitgehend polizeifreundlich berichtenden WAZ beobachten.

Die Demonstration im Stadtteil und die anschließende Gründung einer Initiative, die Aufklärung und „Gerechtigkeit für Adel und Mikael“ fordert, zeigen aber, dass sich auch in Essen öffentlich vernehmbarer Widerspruch gegen die polizeiliche Erschießung zweier Bewohner organisiert. Adel B.s Mutter hat die Einstellung der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft juristisch angefochten. Anders als etwa in Städten wie Berlin, Frankfurt am Main oder Hamburg können die Aktivist*innen in Essen aber nur auf relativ kleine aktivistische Netzwerke zurückgreifen. Gerade deshalb ist die Dokumentation und Kritik rassistischer Polizeiarbeit durch Initiativen wie etwa die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) Berlin oder diverse copwatch-Gruppen[11] so überaus wichtig und unterstützenswert. Denn das dort zusammengetragene alltägliche wie aktivistische Wissen über Polizeipraktiken und Widerstandsstrategien kann auch in anderen lokalen Auseinandersetzungen aufgegriffen und nutzbar gemacht werden (vgl. etwa Wa Baile et al. 2019, Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt 2016). Und es geht auch ganz umfassend um eine Verbreiterung der kritischen Debatte um die Institution Polizei (vgl. die Beiträge in Loick 2018), ihre spezifischen sozialen Selektivitäten, die ihr eingeschriebenen Gewaltförmigkeiten, ihre kolonialen Vergangenheiten und Gegenwarten (Thompson 2018), und ihren „Illegalismus“ (Jobard 2013). Und es geht um gangbare Alternativen, die die Polizei auch als quasi-universelle Akteurin zur Bearbeitung von Alltagskonflikten und zur Herrschaftssicherung überflüssig macht.

Allerdings scheint der Weg dahin schwierig. Das Erstarken autoritärer und faschistischer Positionen und Akteur*innen – bis weit in die sogenannte gesellschaftliche Mitte hinein, in Institutionen, insbesondere aber auch innerhalb des Polizeiapparats – macht repressive staatliche Bearbeitungen von (zugeschriebenen) Abweichungen von gesellschaftlichen Normen und hegemonialen Subjektpositionen wahrscheinlicher. Für uns geht es darum, aus einer Position, in der wir es uns aussuchen können, uns (alltäglich, aktivistisch oder eben auch wissenschaftlich[12]) in Konflikte und Auseinandersetzungen um rassistische Polizeiarbeit zu begeben, zur Bekämpfung von alltäglichem wie institutionellem Rassismus beizutragen. Ein wichtiger Schritt dahin ist noch immer, überhaupt die Existenz von Rassismus sichtbar zu machen und diejenigen zu unterstützen, die dies tun. Intervenierende wissenschaftliche Publikationen und Praktiken können dazu beitragen, alltägliche wie institutionelle Rassismen in ihrer Verschränkung mit anderen Machtbeziehungen und herrschaftsförmigen Strukturierungen zu analysieren und sichtbar zu machen. Gleichwohl die ‚kritische‘ akademische Wissensproduktion nur eine begrenzte Reichweite und keinerlei unmittelbare ‚Macht‘ hat, muss sie sich auch immer wieder damit auseinandersetzen, selbst jene Wissenshierarchien zu reproduzieren, in denen die Stimmen derjenigen, die zuallererst mit Rassismen zu kämpfen haben, als ‚Aussagen von Betroffenen‘ abgewertet oder gar nicht gehört werden. Der von Vanessa Eileen Thompson formulierten Forderung, „dass die Mehrheitsgesellschaft, weißdominante Initiativen und politische Gruppen, Einzelpersonen und Forscher*innen […] viel mehr Platz machen und Räume abgeben [müssen], wenn sie dekoloniale Praxis/Theorie ernst nehmen“ (El-Tayeb/Thompson 2019: 325), stimmen wir zu. Zugleich halten wir es für möglich und notwendig, an der Aussprechbarkeit und Wahrnehmbarkeit dessen mitzuarbeiten, dass die Erschießungen von Adel B. und Mikael Haile durch die Essener Polizei nicht als ‚tragische Einzelfälle‘ hingenommen werden können. Dass diese Erschießungen durch rassistisches polizeiliches Wissen und damit verknüpfte Praktiken mit ermöglicht wurden. Dass es also rassistische Polizeipraktiken gibt und dass diese bekämpft werden müssen. Es geht darum, Artikulationsräume von Rassismuskritik zu erweitern und es auch innerhalb der „Mehrheitsgesellschaft“ sagbar zu machen, dass es ein strukturelles Problem mit der Polizei gibt – innerhalb jener „Mehrheitsgesellschaft“, die in Essen weggeschaut hat.

 

Das Forschungsprojekt wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 389360901gefördert. Die Publikation dieses Beitrags wurde durch den Open-Access-Publikationsfonds der Universität Duisburg-Essen ermöglicht.

Endnoten

Autor_innen

Moritz Rinn hat Politikwissenschaft studiert. Seine Arbeitsschwerpunkte sind städtische Konflikte, Stadtentwicklungspolitik, Politiken des Sozialen und Sozialstaatlichkeit.

moritz.rinn@uni-due.de

 

Jan Wehrheim hat Sozialwissenschaften und Entwicklungspolitik studiert und lehrt und forscht seit vielen Jahren in Bereichen der Stadt-, Devianz- und Techniksoziologie.

jan.wehrheim@uni-due.de

 

Lena Wiese hat interdisziplinäre Sozial- und Migrationswissenschaften studiert und forscht insbesondere in Bereichen zu Stadtentwicklungspolitik, Konfliktsoziologie und Polizei.

lena.wiese@uni-due.de

Literatur

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Wa Baile, Mohamed / Dankwa, Serena O. / Naguib, Tarek / Purtschert, Patricia (Hg.) (2019): Racial Profiling. Bielefeld: transcript.