Rückkehr nach Rostock

Rezension zu Steffen Mau (2019): Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp. Zusammengelesen mit Didier Éribon (2016 [2009]): Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp. (Übers. aus dem Französischen Tobias Haberkorn).

Nina Schuster

Der Rostocker Stadtteil heißt wirklich so: Lütten Klein. Es handelt sich dabei um eine zwischen 1965 und 1975 erbaute DDR-Mustersiedlung für circa 26.000 Bewohner*innen, die damals ein beliebtes Wohngebiet gewesen ist. Dies war zum einen auf den Wohnungsmangel und die zur Entstehungszeit vergleichsweise hohe Qualität der Wohnungen zurückzuführen, zum anderen auf die umfassende Infrastruktur des Stadtteils, die den Alltag, und insbesondere die Reproduktionstätigkeiten, erleichterte. Seit 2001 ist das Wohngebiet an das städtische Straßenbahnnetz angeschlossen und ist nach einer Phase mit erhöhtem Leerstand wieder recht beliebt zum Wohnen in einer Stadt, in der die Mieten im innerstädtischen Bereich für manche unbezahlbar geworden sind. In Lütten Klein ist der Autor von Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft (2019), der Soziologe Steffen Mau, in den 1970er und 1980er Jahren aufgewachsen. Hierhin kehrt er nach fast 30 Jahren zurück, um nachzusehen, wie es sich heute dort lebt, Eindrücke zu sammeln und mit den Bewohner*innen für seine Forschung darüber zu sprechen. Sein Ziel ist es, sich gemeinsam mit den Bewohner*innen von damals an den Alltag im Stadtteil zu DDR-Zeiten zu erinnern und die Konsequenzen der gesellschaftlichen Umbrüche der vergangenen 30 Jahre im Ostteil Deutschlands nachzuzeichnen und zu analysieren.

Hinsichtlich des Genres von Steffen Maus Rückkehr nach Lütten Klein ähnelt das Buch Didier Éribons Rückkehr nach Reims (2016), stellt es doch ebenso eine autobiographische wie soziologische Rekonstruktion anhand der eigenen Herkunftsstadt dar. Mau geht es dabei um das Ausloten des „Lebens in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“, wie der Untertitel der Monographie lautet. Wie Éribon kehrt er als Erwachsener und Soziologe nach dreißig Jahren zurück an die Orte seiner Kindheit und Jugend, um sich zu erinnern und einen Weg nachzuzeichnen: den eignen, den der Stadt und des Stadtteils und den der Gesellschaft. Die Stadt und die Kontexte der eigenen Kindheit bezeichnet Éribon wiederum folgendermaßen:

„Ein sozialer Raum, den ich auf Distanz gebracht hatte, ein geistiger Raum, gegen den ich mich konstruiert hatte, der aber trotz allem einen wesentlichen Teil meines Seins bestimmte. […] Das, wovon man losgerissen wurde oder sich losreißen wollte, bleibt ein Bauteil dessen, was man ist.“ (Éribon 2016: 10 f.)

Natürlich bestehen diverse und deutliche Unterschiedlichkeiten zwischen den Kontexten und Zeiten, auf die sich die beiden Autoren beziehen. Auch das grundlegende Anliegen, das sie jeweils mit ihrem Text verfolgen, ist unterschiedlich: Didier Éribon analysiert die Erosion der Arbeiterklasse und den Verlust der kommunistischen Orientierung dieser Klasse zugunsten neurechter Ausrichtung. Seine Erkundungen zielen darauf, gesamtgesellschaftliche Entwicklungen vor dem Hintergrund der omnipräsenten Homophobie in der Gesellschaft seiner Kindheit und seine eigenen Bestrebungen, sich aus der Enge der Arbeiterklasse zu befreien, zu analysieren. Dabei würdigt er Reims auch als die Stadt, „in der es mir gegen alle Widerstände gelang, mein Schwulsein zu konstruieren“ (Éribon 2016: 201), als er begann, die Orte der lokalen schwulen Subkultur zu entdecken.

Demgegenüber geht es Steffen Mau um die kollektive wie individuelle Verarbeitung einer gesamtgesellschaftlichen Transformation nach dem Verschwinden eines ganzen Staatswesens und damit auch diverser Alltagsbesonderheiten wie Konsumgewohnheiten, Zeit- und Arbeitsregime. Seine persönliche sozialstrukturelle Positionierung bleibt dabei eher im Hintergrund, was vielleicht auch darauf zurückzuführen ist, dass deren Bedeutung zu DDR-Zeiten sozial weniger gewichtig war als in kapitalistischen Staaten. Dabei spielt die Stadt beziehungsweise der Stadtteil für Éribon und Mau eine je unterschiedliche Rolle. Während Éribon sich regelrecht befreit aus der Enge der Arbeiterklasse und seiner homophoben Alltagsumgebung und seine Erzählung der Wiederkehr zur Reflexion der eigenen gesellschaftlichen Position nutzt, geht es Mau um die Rekonstruktion des politischen Systems der DDR und der Auswirkungen politischer Repression, die er mit seinen persönlichen Erfahrungen in der DDR anreichert, sowie die Veränderungen der Siedlung, die sich heute erkennen lassen. Er registriert dabei die soziale Degradierung der Großsiedlung, die in seiner Kindheit und Jugend ein relativ egalisierter Wohn- und Lebensort für Menschen unterschiedlicher Berufsgruppen und Einkommensklassen war. Gemeinsam ist Mau und Éribon, dass sie unter anderem die Frage umtreibt, warum die Menschen, die heute in der Region der eigenen Kindheit leben, zu rechtspopulistischen, nationalistischen oder rechtsradikalen Positionen tendieren, verbunden mit sozialer Ausgrenzung gegenüber Zugewanderten. Sie erkunden dazu die sozialen, politischen und historischen Rahmenbedingungen in der französischen Provinz und in Ostdeutschland, die sich stark unterscheiden, und kommen zu unterschiedlichen und differenzierten Antworten. In beiden Fällen lässt sich eine radikale Abkehr von ‚linken‘ Positionen und den Parteien, die für diese Positionen stehen, in relevanten Anteilen der Bevölkerung feststellen.

Den Resonanzraum für Steffen Maus Auseinandersetzung mit der heutigen „ostdeutschen Transformationsgesellschaft“ bildet die Auseinandersetzung mit dem ‚Davor‘, das er am Alltag in der DDR festmacht. Maus Buch teilt sich dementsprechend in zwei große Teile, „Leben in der DDR“ und „Transformationen“.

Teil I vertieft verschiedene Aspekte des Alltagslebens in der DDR. Ausgehend von der Wohnungsfrage blickt Mau auf den Alltag im Neubaustadtteil Lütten Klein (und anderswo in der DDR). Dabei geht es einerseits um Fragen der sozialen Nivellierung und der Möglichkeit sozialer Mobilität, andererseits auch um alltagspraktische Fragen der Lebensführung, um Familien- und andere Lebensentwürfe, die Unsichtbarkeit und soziale Ausgrenzung von Ausländer*innen in der DDR und den Aspekt der sozialen Formierung in der DDR. Über weite Strecken anschaulich ist dieser erste Teil, weil er auf den erzählten Erinnerungen des Autors und seiner Interviewpartner*innen basiert. Ausgemalt wird darin das Alltagsleben in einer Welt, die es nicht mehr gibt, manchmal bis in kleine Details wie die Wohnungseinrichtung oder einzelne Situationen im Leben des Kindes und Jugendlichen Steffen Mau. Dieser Teil vermag soziologisch informiert zu vermitteln, wie sich der Alltag in der DDR für die Menschen angefühlt hat, ohne ins Banale abzudriften, auch durch so manches Detail aus dieser verflossenen Zeit und dem verschwundenen Staat.

„In der DDR gab es für die breite Masse der Bevölkerung kaum wohnbezogene Formen der sozialstrukturellen und statusmäßigen Segregation – man wohnte zusammen und man wohnte gleich. Innerhalb der Großwohnsiedlungen sollte es besonders egalitär zugehen.“ (Mau 2019: 36)

Zwar hat es auch in der DDR Marginalisierte gegeben, die nur mit schlechten Wohnungen versorgt waren, und Privilegierte, die in Villenvierteln und Einfamilienhäusern wohnten.

„Für die Masse der Werktätigen zeichnete jedoch die zentrale Wohnraumversorgung der DDR verantwortlich. Da es keinen freien Mietmarkt gab, wurde Wohnraum gleichsam zu einem – wortwörtlichen – Schlüsselgut, über das die DDR Verhalten prämierte.“ (37)

Nostalgie kommt dabei nicht auf; vielmehr wird das Sich-Einrichten der Menschen in einem System, das aus westdeutscher Perspektive meist nur und vor allem als Stasi-Diktatur rezipiert wird, verständlich und nachvollziehbar. Mau arbeitet dabei heraus, inwiefern sowohl Anpassung an die gegebenen Bedingungen als auch Akte der Rebellion und Nichtunterwerfung im Alltag ihren Ort hatten. So beschreibt er zum Beispiel die Bedeutung, die Privatheit und private Nischen hatten als „Rückzugszonen gegen die Verregelung des sozialen Alltags und die Zudringlichkeit staatlicher Stellen“ (78), wenn diese auch „keinesfalls außerhalb des staatlichen Kontrollzugriffs“ standen (ebd.):

„Wenn jemand seinen Grill auf die Grünfläche gestellt und dort mit Freunden gegrillt hätte, wäre der Abschnittsbevollmächtigte der Polizei eingeschritten. Man zog sich eher in die Kleingartenanlagen ringsherum zurück. Der öffentliche Raum behielt den Charakter eines offiziellen und kontrollierten Bereichs.“ (66)

Mau entwirft ein differenziertes, auch persönliches Bild vom Leben in einer Gesellschaft, die nur noch in den Geschichten derer, die sich erinnern, existiert und deren Gedächtnis mehr und mehr verschwimmt. Seine Forschungsarbeit verknüpft seine eigenen Erinnerungen mit denen seiner Interviewpartner*innen und anderen Quellen wie statistischen Daten aus BRD und DDR. Insgesamt zeichnet er die DDR-Gesellschaft als homogenisierte, etwas graue, weitgehend angepasste Gesellschaft (63), deren „Einschluss nach innen“ eng verbunden war mit der „Abschottung nach außen“: Eine staatlich verordnete Ausgrenzung von ‚Vertragsarbeitern‘ aus dem Ausland habe dazu beigetragen, dass DDR-Bürger*innen sich in einer Identität einrichten konnten, die durchaus national ausgerichtet darauf war, ein „DDR-Deutscher“ zu sein (93) – trotz des propagierten Internationalismus, der insbesondere den ‚sozialistischen Bruderländern‘ galt. Mau schlussfolgert, dass es den Menschen in der DDR aufgrund des relativen materiellen Wohlstandes (subventionierte Preise auf ausgewählte Grundnahrungsmittel; Versorgung mit Wohnraum und Waren des täglichen Bedarfs), aber auch in Bezug auf das Gesundheitssystem und die öffentliche Bildung im Vergleich zu den anderen sozialistischen Ländern relativ gut ging und sie sich sogar privilegiert fühlen konnten. Allerdings habe, wer sich am politischen System rieb, die Härte des Staates zu spüren bekommen. Insbesondere die jüngeren DDR-Generationen hätten „die Konfrontation mit dem System, weil die ideologische Vereinnahmung misslang und die Phrasenhaftigkeit (‚Gesülze‘) der Mobilisierungsversuche immer deutlicher hervortrat“, verstärkt (109).

In Teil II, „Transformationen“, analysiert Mau eher mit der Stimme des distanzierteren Soziologen, wie sich die ostdeutsche Gesellschaft seit dem Zusammenbruch der DDR in den vergangenen 30 Jahren entwickelt hat. Anders als im anschaulichen, manchmal anekdotisch eingefärbten ersten Teil stehen im zweiten Teil makrosoziologische und politisch-ökonomische Aspekte im Mittelpunkt, alltagsweltliche Bezüge sind deutlich seltener: Im Fokus stehen „Übernahmepolitik“ und „Modernisierungsdruck“, die zunehmende gesellschaftliche Differenzierung im Zuge der kapitalistischen Neuausrichtung der Gesellschaft, neue soziale Ungleichheiten, Bevölkerungsverluste durch Abwanderung, aber auch „mentale Lagerungen“ in der Auseinandersetzung der Ostdeutschen mit ihrer Identität und Herkunft, insbesondere auch in Bezug auf die starken Ausgrenzungsimpulse vieler Menschen gegenüber Zugewanderten. Schließlich widmet sich Mau den „Bruchzonen“, also dem Umgang der Menschen mit ihrer Deklassierung und daraus entstehenden Konfliktlinien.

Die Erfahrung vieler DDR-Bürger*innen mit dem Ende der DDR beschreibt er als „Implosion eines Systems als kollektiver Schock, der allen Beteiligten die Endlichkeit ihres Gesellschaftsbildes vor Augen führt, sie aus den gewohnten Bahnen herausreißt und kollektive Gewissheiten als Illusionen demaskiert“ (113). Die Wochen und Monate nach der Wende seien mit einer „anhaltenden kollektiven Erregung“ verbunden gewesen:

„Euphorie vermischte sich mit Schwindelgefühl. In biografischen Erzählungen haben diese Wochen den Sonderstatus des Außeralltäglichen und einer Zäsur. Die Menschen beschreiben bis heute die besondere Stimmung einer verschworenen Gesellschaft, in der alle sozialen Antennen aufgerichtet und auf Empfang geschaltet waren und man an jeder Stelle spürte, dass sich tektonisch etwas verschob.“ (120 f.)

Die politische Wende beschreibt er als kollektive Migrationserfahrung, denn die Ostdeutschen seien „en bloc in die Bundesrepublik“ migriert – allerdings „ohne dabei ihr angestammtes Territorium verlassen zu müssen“ (133). Mau konstatiert, dass diese unveränderte Übernahme eines Systems, eines „ready-made-state“ (ebd.) nach westdeutschem Vorbild, verhindert hat, dass sich die Ostdeutschen beteiligen und ihren neuen Staat gestalten konnten. Es mangelte an gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, in die auch eigene Interessen der Ostdeutschen hätten stärker eingebracht werden können. Stattdessen wurde Ostdeutschland eine ‚Blaupause West‘ übergestülpt. Mit etwas Bedauern stellt Mau fest:

„Eine Liste der ‚Errungenschaften der DDR‘ wurde nie verfertigt, die Abrissbirne umstandslos angesetzt. Man wollte nicht nach best practices Ausschau halten, Östliches und Westliches zu etwas Neuem kombinieren, Bewahrenswertes ausfindig machen oder Rücksicht auf vorhandene Routinen, Mentalitätsbestände oder lokales Wissen nehmen. Es gab sogar Stimmen, die wie der Historiker Arnulf Baring eindringlich vor der ‚Gefahr der Ver-Ostung‘ der Bundesrepublik warnten.“ (134 f., Herv. i. Orig.)

So haben in den 1990er Jahren viele Ostdeutsche der Aussage zugestimmt, „die Westdeutschen hätten die DDR in Kolonialstil erobert“ (134). Dass dieser politische Prozessauf diese Weise vonstattengehen konnte, hatte aus Maus Sicht auch damit zu tun, dass die Ostdeutschen wenig Erfahrung damit hatten, sich für ihre Interessen zu organisieren. Abgesehen von den mutigen Straßenprotesten zum Ende der DDR gab es dort Ende der 1980er Jahre noch keine politische Beteiligungskultur oder Prozesse kollektiver Selbstorganisierung und entsprechender Willensbildung, wie sie in demokratischen Staaten erforderlich sind und immer wieder eingeübt werden müssen. Harsch kritisiert Mau dabei den Umgang der westdeutschen Institutionen mit den Ostdeutschen innerhalb des Beitrittsprozesses. In diesem sei es um eine „kollektive Unterordnung unter die Spielregeln der Bonner Republik“ gegangen, „die sich von nun an gegen weiter gehende Mitsprachebegehren immunisieren konnte. Es handelte sich um eine Form der politischen Demobilisierung autochthoner politischer Akteure.“ (123 f.) In dieser Phase habe sich nur die durch die DDR-Bürgerrechtsbewegung geforderte Aufarbeitung der Repressionen der Stasi durchsetzen lassen.

‚Blaupause West‘ hieß auch, dass die BRD die DDR als rückständig und aus modernisierungstheoretischer Sicht als modernisierungsbedürftig behandelte. Entsprechende Defizite wurden an zahlreichen Charakteristika der DDR-Gesellschaft festgemacht wie Mentalitäten, Kompetenzen und Einstellungen der Menschen, die aus einer Westperspektive als nicht mehr zeitgemäß, dysfunktional oder gesellschaftlich nicht wünschenswert galten.

„Ob die Dominanz der Kleinfamilie und die frühe Familiengründung, ob die Randständigkeit alternativer Lebensformen und die starke Verbreitung häuslicher und bescheidener Lebensstile oder das auf Versorgung ausgerichtete Staatsverständnis – in fast jeder Hinsicht ließ sich die DDR-Gesellschaft als ‚rückständig‘, ‚unmodern‘ und ‚insuffizient‘ klassifizieren. Eine gesellschaftliche Durchlüftung durch die Achtundsechzigergeneration hatte die DDR auch nicht erlebt. Allenfalls die höhere Erwerbsbeteiligung der Frauen galt, mit Einschränkungen, als ‚modern‘.“ (141)

Durch die tiefgreifenden Umstrukturierungen der ostdeutschen Wirtschaft wurde Arbeitslosigkeit in den Nachwendejahren zur kollektiven Erfahrung eines Großteils der ostdeutschen Bevölkerung. Die Arbeitslosenquote stieg dort zeitweise auf über zwanzig Prozent; vierzig Prozent der Beschäftigten war bis 1996 mindestens einmal arbeitslos, wobei Frauen* deutlich stärker betroffen waren als Männer*. Neben massiven Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen sowie einer großen Zahl an Umzügen nach Westdeutschland musste eine Million der Erwerbstätigen über 50 Jahren aufgrund der starken Strukturveränderungen in der Wirtschaft Ostdeutschlands in den Vorruhestand gehen. Mau weist dabei auf die zahlreichen sozialen Verwerfungen hin, die die schnelle Transformation in Ostdeutschland zur Folge hatte; Individualisierungstendenzen führten zu sozialer Separierung, weil Freundeskreise und Familien zerrissen, nicht zuletzt aufgrund sich auseinander entwickelnder Bildungswege und größerer räumlicher Distanzen durch Umzüge, aber auch durch sich ausdifferenzierende Lebenslagen, die sich materiell und symbolisch niederschlugen.

„Konkret stellt man sich Fragen wie: Wer in meinem Freundeskreis kann sich den Restaurantbesuch oder eine gemeinsame Urlaubsreise leisten? Die formierte und auf einheitlich getrimmte Gesellschaft wurde fragmentierter, was auch bedeutete, dass die Individuen aufgefordert waren, sich in einer unübersichtlicher werdenden Statuslandschaft neu zu verorten.“ (159)

Diese sozioökonomische Spaltung geht, wie Mau auf der Grundlage eigener Forschung und der Rezeption zahlreicher anderer Autor*innen darlegt, mit einer Regionalisierung sozialer Ungleichheiten einher. Dabei ist noch heute eine Ost-West-Kluft erkennbar, wenn auch bestimmte Regionen in Ostdeutschland wirtschaftlich besser dastehen als andere. Mau geht davon aus, dass die Transformationsprozesse soziale „Frakturen“ hinterlassen haben, die „die Dynamik der gesellschaftlichen Veränderung auch heute noch beschränken“ (165). Gemeint sind damit Brüche, die aufgrund und im Zuge der gesellschaftspolitischen Umbrüche entstanden sind und die vom „Ringen um Respektabilität in der Grammatik ostdeutscher Anerkennungskämpfe“ (244) zeugten. Diese könnten Gesellschaften „weniger belastbar, weniger anpassungsfähig machen“, auf Stress oder Veränderungsdruck würde dabei überreizt reagiert.

„Mit dem Begriff der Frakturen ist angezeigt, dass wir es nicht mit einem reinen Anerkennungsdefizit oder einer atmosphärischen Frage im innerdeutschen Miteinander zu tun haben. Entscheidend ist vielmehr das Zusammenspiel von Sozialstruktur und mentaler Verfasstheit, also die Art und Weise, wie man in der Gesellschaft seinen Platz findet und welche Weltsicht man hegt, was den eigenen Status bestimmt und welche Erfahrungen einen prägen.“ (245)

Mau hebt dabei die Bedeutung „mentaler“ Aspekte, die sich im Zuge der Veränderungen in Ostdeutschland entwickelt haben, für zahllose gesellschaftliche Entwicklungen hervor. Er macht generationsspezifische Unterschiede in den Verarbeitungsmustern der Transformation aus und weist auf die Entwertung des in der DDR erworbenen Erfahrungsschatzes hin. Diese habe zu Frakturen geführt, da eigene Erfahrungen den Individuen als Quelle der Anerkennung nicht mehr zur Verfügung standen, wobei „Fragen der Wurzeln und der Herkunft doch eng mit Fragen der Identität sowie des Fremdbezugs verknüpft“ seien (205). Diese Brüche hätten bei vielen Menschen zu „kulturellen Kränkungen“ geführt (206), wenn es auch immer noch gesellschaftliche Milieus und Praktiken gebe, die wie die Datschen- und Gartenkolonien, aber auch die Jugendweihe, den Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) und die Super-Illu von alten DDR-Bezügen zehrten.

Nicht zuletzt widmet sich Mau den Konsequenzen der „Stasi-Verwicklung“ großer Teile der ostdeutschen Gesellschaft, die bis heute schwierig aufzuarbeiten sei (208). Er kritisiert aber auch, dass die DDR aus westdeutscher Sicht oft auf diesen Aspekt reduziert werde. Mithilfe von Norbert Elias‘ und John L. Scotsons Figurationsanalyse charakterisiert er die Ostdeutschen als „habituelle Außenseiter“, die sich den Westdeutschen unterzuordnen hätten. Der Entzug gesellschaftlicher Anerkennung habe das auch heute noch abrufbare Gefühl bei den Ostdeutschen hinterlassen, Bürger*innen „zweiter Klasse“ zu sein, eine Einschätzung, die bei AfD-Anhänger*innen besonders stark ausgeprägt sei: „Man kann das sowohl als Echoeffekt sozioökonomischer Deklassierung als auch als Reaktion auf kulturelle Umwertungen deuten, die tradierten Mustern der ostdeutschen Lebensführung und Soziokultur Anerkennung entzogen.“ (209) Dies spiegelte sich auch in der seit den 1990er Jahren veränderten symbolischen Bewertung von Wohngebieten wider: Das geringste Prestige hätten dabei die Neubaugebiete im Osten versprochen, die als ähnlich defizitär behandelt wurden wie die so genannten ‚Problemquartiere‘ der westdeutschen Großwohnsiedlungen. Die alteingesessenen Bewohner*innen von Lütten Klein reagierten darauf auch heute mit Trotz und wehrten sich gegen die abschätzige Bezeichnung ‚Platte‘ oder ‚Plattenbau‘, die sie als westdeutsche Kampfbegriffe identifizierten (210).

Schließlich zieht Mau eine Linie von der die Wiedervereinigung antreibenden Bezugnahme auf eine gemeinsame nationale Identität zu den rechtsradikalen Ausschreitungen 1992 in Rostock-Lichtenhagen. Er ordnet die Gewalteskalation in Lichtenhagen als Symptom einer dramatischen Umbruchphase ein, in der viele deutschstämmige Bewohner*innen arbeitslos waren, während gleichzeitig in die Lichtenhagener Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber*innen (ZAst) des Landes Mecklenburg-Vorpommern zahlreiche osteuropäische Asylbewerber*innen in den Stadtteil zuzogen, die dort nur prekär untergebracht wurden. In den angstgesteuerten, gewalttätigen Ausschreitungen der Stadtteilbewohner*innen gegen die Asylbewerber*innenunterkunft erkennt Mau eine „Verwilderung des sozialen Konflikts“ (Honneth). Dabei sei aus Täter*innensicht die Brüchigkeit der eigenen Existenz mindestens ebenso schwerwiegend gewesen wie die Sorge, der Stadtteil könnte zum ‚Problemghetto‘ werden. Die angestammten Bewohner*innen hätten dadurch eine weitere Entwertung befürchtet (223). Heute versuche die AfD auch in den Neubaugebieten Rostocks, an fremdenfeindliche Stimmungen anzuknüpfen und Islamfeindlichkeit weiter zu schüren, wobei sie an „das Ressentiment gegen Zuwanderung, das Bedürfnis nach Abschließung sowie die Angst vor sozialen und kulturellen Verlusten“ im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Veränderungen anknüpfe, die kein rein ostdeutsches Phänomen seien (226).

Zur Frage, ob ökonomische Verwerfungen dafür ursächlich sind oder es sich um eine „eigenständige […] kulturelle […] Konfliktlinie“ handelt (227), konstatiert Mau für den ostdeutschen Kontext eine ausgeprägte Angst vor der so genannten ‚kulturellen Überfremdung‘, die er auch auf die zu DDR-Zeiten jahrzehntelang fehlenden Alltagskontakte mit Menschen anderer Herkunft zurückführt. Zugleich weist er auf die jahrelange Verharmlosung rechtsextremer Tendenzen durch die Politik hin, die heute in vielen Regionen zu verfestigten rechten Szenen geführt hätten – auch in Westdeutschland. Hinzu komme im Osten die tradierte Unterlegenheitserfahrung gegenüber den hier weniger stark vertretenen Mittelschichtsmilieus. Als Träger von Werten wie Kosmopolitismus, Vielfalt und Selbstentfaltung hätten diese Milieus wenig zu tun mit den alltäglichen Lebenserfahrungen vieler Ostdeutscher.

Steffen Mau gelingt es, eigene Erinnerungen und Erfahrungen in der DDR und zu Zeiten der Wende bis heute so mit theoretischen und empirischen Erkenntnissen zu verflechten, dass vor dem inneren Auge der Leser*in konturierte Bilder entstehen: vom Alltag in der DDR-Großwohnsiedlung der 1970er und 80er Jahre, von den Umbrüchen in Ostdeutschland ab 1989 und den zahlreichen Problemen, mit denen sich die Menschen in Ostdeutschland durch die politische Transformation und den Anschluss der DDR an die BRD auseinandersetzen mussten und die bis heute Spuren in den individuellen wie sozialen Bezügen hinterlassen haben. Die sorgsam ausgewählten Fotos im Band erweitern den Text um die visuelle Ebene und illustrieren ihn als Zeitdokumente. Am Rande weist Mau darauf hin, dass mit der Trennung in ‚Ost- und Westdeutsche‘ angesichts der tausendfachen Migrationen von Ost nach West und von West nach Ost heute reflektiert umgegangen werden sollte.

Ähnlich wie Didier Éribon schreibt Steffen Mau nicht ausschließlich für ein soziologisch geschultes Fachpublikum. Sein flüssiger Schreibstil macht sein Buch einer größeren Leser*innenschaft zugänglich, was allerdings manchmal zu etwas flapsiger Ausdrucksweise führt und vielleicht in einigen Fällen eine leichte Verflachung der (zugegebenermaßen sehr umfangreichen) Sachverhalte mit sich bringt. Mau hat in der DDR eine Lehre zum Elektriker beim VEB Schiffselektronik Rostock gemacht und in der dortigen Forschungsabteilung gearbeitet. Wie so vielen seiner und vorhergehender DDR-Generationen war ihm der Weg zum Studium staatlicherseits versperrt zugunsten einer sozialen Homogenisierung und De-Akademisierung der Bevölkerung (55).

„Überall ging es darum, keinen habituellen und kulturellen Abstand zwischen der Arbeiterklasse und den Heranwachsenden zuzulassen. So erzog man uns einen gewissen Arbeiterstolz an. Jeder sollte vom proletarischen Habitus infiziert werden; reine Kopf- und Geistesmenschen waren nicht willkommen.“ (49)

Erst nach der Wende konnte Mau an der Berliner Humboldt-Universität Soziologie studieren und hat dort heute eine Professur inne. Der Soziologe Mau vermag es vielleicht gerade aufgrund seines Bildungsweges und der Reflexion seiner eigenen Erfahrungen mit den gesellschaftlichen Transformationen seit dem Fall der Mauer, der Leser*in einige Aspekte der sozialen und politischen Verwerfungen der gegenwärtigen bundesdeutschen Gesellschaft näherzubringen. Dazu trägt auch die verstehende Perspektive bei, die er einnimmt, wenn er entschlossen von Ostdeutschland aus auf die aktuellen Konflikte in der bundesdeutschen Gesellschaft blickt und dabei die Transformation ins Zentrum rückt. Er tut dies, ohne das ‚Ostdeutsche‘ zu essenzialisieren oder zu verengen. Dabei identifiziert er einige bis heute wirksame Mechanismen, die die kolonialisierend wirkende Systemangleichung des einen Staates (DDR) an das System des anderen Staates (BRD) mit sich gebracht hat. Zwar ist Steffen Mau bisher nicht als Stadtsoziologe bekannt und hat hier auch nur vereinzelt auf stadtsoziologische Forschung rekurriert. Dieses Buch zeigt aber, wie fruchtbar es sein kann, wenn Sozialwissenschaft ihre gelegentliche Raumblindheit ablegt und sich ausgehend von räumlichen Strukturen wie denen von Lütten Klein und deren historischer Gewordenheit, aktuellen gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen annähert. Dabei ist dies kein weiteres Buch über das Leben in Großwohnsiedlungen in Ostdeutschland oder deren Aufstieg und Fall. Vielmehr nutzt Mau die Großwohnsiedlung Lütten Klein als Ausgangspunkt, um über die gesellschaftlichen Transformationen in den vergangenen 30 Jahren in Deutschland nachzudenken und Lebenswelten in Ostdeutschland unter anderem anhand der Frage des Wohnens zu erörtern; sein Beitrag lässt sich insofern auch als politische Zeitdiagnose lesen.

Während Éribon mit Jean Genet von einer „Wiederentdeckung dieser ‚Gegend meiner selbst‘“ spricht (Éribon 2016: 10), was er sowohl metaphorisch als auch konkret meint, klingelt Mau im Abspann des Buches, „Hausbesuch“, schließlich sogar an der Tür der Wohnung, in der er aufgewachsen ist. Er will noch einmal die Perspektive seiner Kindheit einnehmen, wenn er aus dem Fenster seines früheren Kinderzimmers blickt.

 

Die Publikation dieses Beitrags wurde durch den Open Access Publikationsfonds der Technischen Universität Dortmund gefördert.

Autor_innen

Nina Schuster ist Soziologin und forscht an der Schnittstelle von stadtsoziologischen und queer/feministischen Theorien zur sozialen und räumlich-materiellen Produktion sozialer Ungleichheit. Derzeit erforscht sie Konflikte und den alltäglichen Umgang mit Differenz in der Stadt anhand von Kleingärten.

nina.schuster@tu-dortmund.de

Literatur

Elias, Norbert / Scotson, John L. ((2002 [1965]): Etablierte und Außenseiter. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Éribon, Didier (2016 [2009]): Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp. (Übers. aus dem Französischen Tobias Haberkorn).

Honneth, Axel (2011): Verwilderungen des sozialen Konflikts. Anerkennungskämpfe zu Beginn des 21. Jahrhunderts, MPIFG Working Paper 4. Köln: Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung.

Mau, Steffen (2019): Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp.