Münchens sozial-ökologische Stadtentwicklung zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Kommentar zu Lisa Vollmer und Boris Michel „Wohnen in der Klimakrise. Die Wohnungsfrage als ökologische Frage“

Klaus Geiselhart

Einleitung

Lisa Vollmer und Boris Michel (2020) präsentieren in ihrem Beitrag nachvollziehbare Argumente. Tatsächlich scheinen die Urban Studies die Verbindung von sozialem und umweltgerechtem Bauen zu vernachlässigen. Doch trifft das damit auch zwangsläufig auf die Praxis der Stadtentwicklung zu? Im Folgenden sollen zwei städtebauliche Entwicklungsprojekte der Stadt München vorgestellt werden. Einmal ist das eine ökologische Mustersiedlung, in der ökologisches, umweltgerechtes und gesundes Bauen unter anderem auch mit sozialem Wohnungsbau verbunden wird. Das zweite Beispiel ist die Neuerrichtung eines ganzen Stadtteils im Münchner Osten, bei dessen Planung ebenfalls Fragen von Ökologie und sozialer Wohnraumversorgung eine zentrale Rolle spielen. Nun sollen diese Beispiele aber nicht als Beleg dafür gelten, dass das hier zur Debatte stehende Thema schon von der Stadtplanungspraxis überholt wurde. Unter Stadtplaner_innen gibt es noch keine festen Vorstellungen davon, wie ökologische und soziale Stadtentwicklung gleichzeitig funktionieren können. Vielmehr aber geben die Beispiele Anlass, über das Verhältnis von kritischer Stadtforschung und Stadtverwaltung nachzudenken.

Die ökologische Mustersiedlung im Prinz-Eugen-Park

Nord-östlich des Münchner Stadtzentrums, relativ innenstadtnah und unweit des Englischen Gartens gelegen, steht eine ökologische Mustersiedlung kurz vor der Fertigstellung. Sie entsteht auf dem Gelände der ehemaligen Prinz-Eugen-Kaserne. Mit 570 Wohnungen ist sie die größte zusammenhängende Holzbausiedlung Deutschlands, und nach Angaben der Stadt sind darunter 400 geförderte Wohnungen. Die bis zu sieben Stockwerke hohen Gebäude werden in Holzhybridbauweise erstellt. Die Stadt geht davon aus, dass durch die Bauweise etwa 13.000 Tonnen Kohlendioxid langfristig gespeichert werden können. Je nach Holzanteil ergibt sich dadurch, gegenüber einer herkömmlichen Massivbauweise mit mineralischen Rohstoffen, eine Substitution von 30 bis 60 Prozent der klimaschädlichen Emissionen (Stadt München 2015a).

Die Auflagen für die Mustersiedlung sehen vor, dass ein Mindestanteil an nachwachsenden Rohstoffen verbaut werden muss.[1] Darüber hinaus muss nachgewiesen werden, dass diese Rohstoffe bestimmten ökologischen Zertifikaten entsprechen oder sie entweder in Deutschland oder maximal 400 Kilometer vom Bauplatz entfernt geerntet wurden. Um die finanziellen Mehraufwendungen abzufedern, die bei einer Holzbauweise gegenüber einer konventionellen Massivbauweise mit mineralischen Baustoffen entstehen, wurde im Stadtrat eine Förderung beschlossen (Stadt München 2015b). Da sich die endgültige Förderung nach dem tatsächlichen Anteil der nachwachsenden Rohstoffe bemisst, besteht ein zusätzlicher Anreiz die Mindestanteile zu überschreiten. Selbstverständlich müssen die Projekte auch festgelegte Energiestandards erfüllen. Im Prinzip sind also alle Bauprojekte in dieser Siedlung in der einen oder anderen Weise gefördert. Förderung in Hinblick auf soziale Belange erhalten aber nur vier Bauprojekte. Diese Bauprojekte nutzen einen jeweils individuellen Finanzierungsmix aus Einkommensorientierter Förderung (EOF)[2], Förderung nach dem München Modell (MM)[3] und freier Finanzierung unterstützt durch das Modell konzeptioneller Mietwohnungsbau (KMB)[4]. Durch diese Förderungen entstehen demnach nicht nur Sozialwohnungen im klassischen Sinne, sondern auch Wohnungen für Durchschnittsverdiener_innen, Familien und konzeptionell innovative Projekte.

Zu den Projekten mit sozialorientierter Förderung gehört das Bauvorhaben der städtischen Wohnbaugesellschaft GWG München, die hier 57 Wohnungen[5] und eine Kindertagesstätte baut (Abbildung 1). Der Baukörper diente während der Projektierungsphase oft als Aushängeschild für die gesamte Siedlung, offensichtlich eignet er sich wohl, die Idee einer Verbindung von sozialem und ökologischem Bauen in ästhetisch ansprechender Weise zu vertreten. Direkt gegenüber befindet sich die deutlich schlichtere Anlage der zweiten städtischen Wohnbaugesellschaft GEWOFAG Wohnen GmbH (Abbildung 2). Hier entsteht, mit 180 Wohnungen[6], Gemeinschaftseinrichtungen und einem ‚Haus für Kinder‘, ein deutlich größeres Kontingent an Sozialwohnungen in zwei L-förmigen Zeilenbauten. Die Genossenschaft Bürgerbauverein München BBVM EG baut 87 Wohnungen[7], darunter behindertengerechte Wohnungen, Wohnungen für Betreuungspersonal sowie diverse Werkstätten und Gemeinschaftseinrichtungen. Ebenso realisiert die Genossenschaft WOGENO München EG 82 Wohnungen[8], darunter eine Sonderwohnform (Clusterwohnung mit Flexizimmern), Gemeinschaftsräume und eine gemeinschaftliche Dachterrasse.

Abb. 1 Ökologische Mustersiedlung Prinz-Eugen-Park München, Anwesen der GWG, (Foto: Isabel Maurus)
Abb. 1 Ökologische Mustersiedlung Prinz-Eugen-Park München, Anwesen der GWG, (Foto: Isabel Maurus)
Abb. 2 Ökologische Mustersiedlung Prinz-Eugen-Park München, Anwesen der GEWOFAG (Foto: Isabel Maurus)
Abb. 2 Ökologische Mustersiedlung Prinz-Eugen-Park München, Anwesen der GEWOFAG (Foto: Isabel Maurus)

Auf dem Rest der Grundstücke entwickeln Baugemeinschaften etwa 160 Wohneinheiten. Unter anderem baut die Initiative Gemeinsam Größer einen gemeinschaftlich entworfenen, architektonisch innovativen Baukörper, der Wohnungen mit Gemeinschaftseinrichtungen und einer besonderen Freiraumarchitektur verbindet. Nicht zuletzt weil alle Bauträger_innen in der einen oder anderen Form Gemeinschaftsräume planen und bei allen Planungen auch Flächenverbrauch, Dichte und ökologische Überlegungen – auch über die Baumaterialien hinaus – thematisiert wurden, kann die Siedlung zu Recht als ein städtebauliches Experimentierfeld für soziale und ökologische Entwicklungen gelten.

Der neu entstehende Stadtteil München Freiham

Auf einer der letzten großen zusammenhängenden Fläche innerhalb der Stadtgrenzen Münchens entsteht auf 350 Hektar im Osten der Stadt ein ganz neuer Stadtteil. Schon 1966 wurde zur Realisierung einer Entlastungsstadt für 60.000 Einwohner der Zweckverband Freiham gegründet. Das ermöglichte den Erwerb von 170 Hektar landwirtschaftlicher Fläche, sodass die Stadt und der Zweckverband heute 95 Prozent der benötigten Fläche halten (Reiß-Schmidt 2018: 45). Die geplante Dichte wurde nun allerdings drastisch verringert, denn die Stadt München (2017) spricht heute nur noch von 25.000 Menschen, die dort leben und 15.000, die dort arbeiten sollen. Die Wohnbebauung wird in zwei Realisierungsabschnitten entwickelt. Sie schließt nördlich an ein Stadtteilzentrum und einen Bildungscampus an, welcher ein Gymnasium, eine Realschule, ein sonderpädagogisches Förderzentrum sowie eine Grundschule beherbergen wird. Darüber hinaus sollen in den Wohnanlagen ein Quartierszentrum mit Verkaufsflächen, Gastronomie und Büroflächen, ein Sportpark und weitere Grundschulen entstehen.

Freiham soll aber nicht nur sozial, sondern auch ökologisch nachhaltig entwickelt werden: „Die Werte ökologisch, menschlich, städtisch und familiär sollen als Markenzeichen Freiham prägen, einem nach den Grundsätzen der Inklusion entstehenden Stadtteil“ (Stadt München 2017). So wird ein 58 Hektar großer Landschaftspark nicht nur Freizeit- und Erholungsmöglichkeiten bieten, sondern auch entsprechende Ökosystemleistungen bezüglich Belüftung, Klimaregulierung und Luftreinhaltung ermöglichen. Hierzu werden sogenannte ‚Grünfinger‘ in die Wohnbebauung geführt. Zudem sind Grünflächen und Urban Gardening vorgesehen. Ein Masterplan Beleuchtung (Stadt München 2016) soll eine ganzheitliche Beleuchtung gewährleisten, die sowohl energieeffizient und ökologisch verträglich als auch dem Wohl- und Sicherheitsempfinden sowie der Orientierung der Bewohner_innen zuträglich sein soll. Barrierefreiheit und Aufenthaltsqualität stehen ebenso im Fokus wie die Vermeidung von Lichtverschmutzung.

Derzeit laufen die Ausschreibungen der Grundstücke. 2019 waren unter anderem Baufenster im ersten Realisierungsabschnitt für genossenschaftlichen Wohnungsbau mit einem Fördermix von 25 Prozent EOF, 50 Prozent MM und 25 Prozent KMB ausgeschrieben. Für 2020 ist die Vergabe eines Erbbaurechtes an einer Grundstücksfläche für ein Modellprojekt zum Bau von preisgedämpften Mietwohnungen ausgeschrieben. Weitere Erbbaurechte für konzeptionellen Mietwohnungsbau, teilweise für Auszubildenden- und Studierendenwohnungen, sind angekündigt. Auch in der Planung dieses Stadtteils lässt sich eine Verbindung ökologischer und sozialer Ansprüche erkennen.

Um einem allzu positiven Bild vorzubeugen

Soziales und ökologisches Bauen zusammen zu denken, ist in München also kein Neuland. Sabine Hafner und Manfred Miosga (2007: 33) beschreiben das für die frühen 2000er Jahre sogar als ein Charakteristikum einer rot-grünen Stadtregierung, der es mittels Großprojekten gelänge „die Sicherung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit mit einer Politik zu verbinden, die auf einen sozialen Ausgleich setzt und dabei versucht, ökologische Belange zu integrieren.“ Stephan Reiß-Schmidt[9] (2018: 35) zufolge hat „München viel geleistet“, ist aber trotzdem „teuer geblieben“. Sicherlich habe München in den letzten Jahrzehnten eine Reihe innovativer Konzepte entwickelt, diese würden allerdings von aktuellen Tendenzen konterkariert. Der Münchner Weg einer sozialen Boden- und Planungspolitik umfasse dabei verschiedene Maßnahmen. So wurden etwa soziale Quartierstrukturen durch Erhaltungssatzungen geschützt und zur Umstrukturierung von Konversionsflächen besonderes Städtebaurecht eingesetzt (Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme). Es wurden Verfahrensgrundsätze einer sozialgerechten Bodennutzung (SoBoN) erarbeitet, Genossenschaften und Baugemeinschaften gefördert und eine nachhaltige strategische Liegenschaftspolitik betrieben. 2017 wurden die SoBoN-Verfahrensgrundsätze auch vom Münchner Stadtrat erneuert, allerdings ohne dabei die Quote für den geförderten Wohnungsbau wie geplant auf 40 Prozent anzuheben, was nach Reiß-Schmidt für eine ausreichende Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum notwendig gewesen wäre. Umgesetzt wurde lediglich „eine zusätzliche 10-Prozent-Quote für ‚preisgedämpften Mietwohnungsbau‘ mit einer Anfangsmiete von 13,90 Euro je Quadratmeter, Mietsteigerung nach Mietspiegel und 30-jähriger Bindung als Mietwohnung. Auch die aus heutiger Sicht viel zu kurze Bindungsdauer für den geförderten Wohnungsbau von nur 25 Jahren blieb unverändert“ (Reiß-Schmidt 2018: 41). So entfielen heute etwa 60 Prozent des Wohnungsbauvolumens in SoBoN-Projekten auf Eigentumswohnungen im gehobenen Standard. Auch wurden die ursprünglich angestrebten Dichtewerte für viele städtebauliche Maßnahmen deutlich nach unten korrigiert.

Diese Tendenzen lassen sich im Prinz-Eugen-Park direkt ablesen. Neben den Fördermitteln für das ökologische Bauen, die, wie gesagt, alle Bauträger_innen in diesem Bauabschnitt erhalten, bekommen nur vier von acht Projekten sozial orientierte Förderungen. Diese wiederum orientieren sich nur teilweise an tatsächlich einkommensschwachen Haushalten. Hier lässt sich eine Tendenz zur Reurbanisierung erkennen. Die Stadt wird verstärkt für Mittel- und Oberschicht gebaut, während für die schwächsten Bevölkerungsteile nur verhältnismäßig wenig Wohnraum entsteht. Dies drückt sich nicht zuletzt in immer weiter steigenden Mieten aus. Hier findet Verdrängung ihren Ausdruck nicht in Form von Druck auf konkrete Menschen, aus einem Quartier zu weichen. Vielmehr geschieht sie in Form einer Unterlassung dadurch, dass viele Wohnungen für finanzschwache Bevölkerungsgruppen wegen des erhöhten Flächenverbrauchs besser gestellter Personen gar nicht erst gebaut werden.

Im Prinz-Eugen-Park werden auf einigen Baufeldern nicht nur exklusive Wohnungen, sondern auch neue Bauformen realisiert, die manchmal als ‚Hofhäuser‘, ‚Gartenhofhäuser‘ oder ‚Gartenhofwohnungen‘[10] bezeichnet werden. Meist werden diese Bauten ‚Atriumhäuser‘ genannt, obwohl sie die großzügige, für klassische Atriumhäuser charakteristische Anlage der Wohnräume um einen Innenhof herum vermissen lassen. Derartige ein- oder zweigeschossige Gebäude zeichnen sich in der Regel durch ein Gartenstück in Terrassengröße und eine quaderförmige Kubatur, die an übereinander gestapelte Container erinnert, aus. Sie sind nur durch die notwendigen Zugangswege voneinander getrennt. Diese Architektur scheint dem Anspruch der Minimalisierung des Reihenhausprinzips zu folgen, also der Verbindung eines eigenen Hauses, mit eigenem Garten und eigenem Eingang innerhalb eines kompakten Gesamtbaukörpers. Damit liegt diese Bauform aber letztlich immer noch deutlich über dem Flächenverbrauch von Etagenwohnungen. Das städtebauliche Ziel, bezahlbaren Wohnraum für wenig zahlungskräftige Bevölkerungsgruppen zu schaffen, steht damit im deutlichen Wettstreit mit Investor_inneninteressen und den individuellen Wohnvorstellungen einer besserverdienenden Klientel. Auch für Freiham wurde, wie bereits erwähnt, die Dichte nach unten korrigiert. Derzeit werden hier die Grundstücke in zentraler Lage vergeben. Inwieweit sich eine zahlungskräftige Klientel im zweiten, eher randständigen, sich an die Grünzonen anlehnenden Bauabschnitt Baufenster sichert, bleibt zukünftigen Betrachtungen vorbehalten.

Der indirekte Verlust preiswerteren Wohnraums, welcher gar nicht gebaut wird, weil eine weniger dichte Bebauung für eine zahlungskräftige Klientel entsteht, findet in der Regel in keiner Statistik seinen Ausdruck. Ein zentrales Argument für eine derartige Entwicklung ist das Ideal der sozialen Mischung, das eine Stadt für alle hervorbringen soll. Dies wird im Prinz-Eugen-Park wie auch in Freiham prinzipiell und unter Einbezug ökologischer Gesichtspunkte verfolgt. Dabei bleibt aber fraglich, ob das proportionale Verhältnis zwischen den adressierten Bewohner_innengruppen, vor dem Hintergrund der Mietpreisentwicklung, als gerecht angesehen werden kann.

Zudem wird sich auch die Frage, ob soziale Mischung hier tatsächlich auch ein soziales Miteinander verschiedener Bevölkerungsgruppen hervorbringt, erst nach einer gewissen Zeit beurteilen lassen. Wie sich in diesen Gebieten ein soziales Leben etablieren wird, ist nicht nur von der, wenn man so will, ‚hardware‘, also von in der Bebauung vorgesehenen Begegnungsräume, abhängig, sondern auch von der ‚software‘, also den Initiativen eines Quartiermanagements, der Zivilgesellschaft oder der Bewohner_innenschaft. Was aber die ‚hardware‘ angeht, so finden die sozio-ökonomisch verschiedenen Bevölkerungsgruppen ihren jeweiligen Wohnraum in deutlich wahrnehmbar voneinander unterscheidbaren Bauformen. Es muss sich zeigen, inwieweit das Konsequenzen für die gegenseitige Wahrnehmung der Bewohner_innen dieser Nachbarschaften hat. Auch ist im Prinz-Eugen-Park die Tendenz zu beobachten, dass die Exklusivität der Bauform mit einer günstigeren Wohnlage (entfernt von Straßen und nahe Grünanlagen) zunimmt. Ob dies als ungerecht empfunden wird oder kleinsträumige Milieubildung und othering begünstigt, muss im Einzelfall untersucht werden.

Was können diese Befunde für die kritische Stadtforschung bedeuten?

Inwiefern ist es bezeichnend für das Verhältnis von Stadtplanungspraxis und kritischer Stadtforschung, dass die Verbindung von sozialem und ökologischem Bauen in einem Fall eine Leitlinie des Handelns ist, während sie im anderen Fall als ein Forschungsdesiderat erscheint? Anstatt diese Frage zu beantworten, möchte ich im Folgenden eine Perspektive auf Stadtverwaltung beschreiben, die einen differenzierten Blick auf aktuelle Stadtentwicklung erlaubt und dabei gleichzeitig der Kritik ein spezifisches Wirkungsfeld eröffnet, welches gerade für derartige intersektorale Themen zuträglich sein kann.

Letztlich sind es die städtischen Bediensteten, die soziale und/oder ökologische Entwicklungen tragen, voranbringen oder unter Umständen auch blockieren. So gesehen wird Stadtentwicklung letzten Endes von Einzelpersonen umgesetzt, die sich auf ihren gesellschaftlichen Positionen, zwischen Politik und Bürgerschaft, jeweils mehr oder weniger gemeinwohlorientiert engagieren. So können beispielsweise Amtsleiter_innen in ganz unterschiedlichem Maße konservativ, aufgeschlossen oder progressiv sein. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass nur wenige dem weit verbreiteten Bild einer Beamtin oder eines Beamten, die Dienst nach Vorschrift machen, entsprechen. Zwar trifft es manchmal auch tatsächlich zu, dass Verwaltungsstrukturen stabiler sind als politische Verhältnisse. So werden in manchen Kommunen, egal woher der politische Wind gerade weht, bestimmte progressive Maßnahmen wohl nicht umsetzbar sein, solange bestimmte Personen an hierfür wichtigen Schlüsselstellen sitzen. Die Mehrzahl der städtischen Bediensteten sind aber durchaus kritisch denkende Menschen, die tagtäglich selbst an die Grenzen der strukturellen Gegebenheiten ihrer Städte stoßen und nicht selten auch mit eigenen Anliegen scheitern. Nicht zuletzt verdankt dieser Beitrag zentrale, für eine kritische Betrachtung notwendige, Informationen dem Überblick eines langjährigen Mitarbeiters der Münchner Stadtverwaltung (Reiß-Schmidt 2018).

Stadtverwaltungen beherbergen ein eigenes kritisches Potenzial. Dieses wird in jüngster Zeit zunehmend dadurch verstärkt, dass Städte immer öfter Mitarbeiter_innen auf Projektbasis beschäftigen, die unter anderem themenbezogen intersektorale Vernetzungsarbeit leisten sollen. Obwohl diese Personen oft auf befristeten Stellen arbeiten, sind sie nicht selten überdurchschnittlich engagiert, denn sie nutzen diese Positionen in der Regel als Sprungbrett auf einem längeren Karriereweg. Auch haben die Städte vielfach feste, ressortübergreifende Arbeitsfelder eingerichtet (z. B. für Partizipation oder Gesundheitsförderung). Diese Stellen werden von ganz unterschiedlich motivierten Persönlichkeiten bekleidet. Derartige städtische Stellen nehmen auch deswegen zu, weil Stadtpolitik sich über deren Einrichtung und Ausrichtung einen direkten Einfluss verspricht: denn durch diese Stellen werden die mit den jeweiligen Arbeitsschwerpunkten verbundenen Ideen in die verschiedenen Resorts der Stadtverwaltung und der zivilgesellschaftlichen Akteure hineingetragen. Von diesen Stellen können also viele Anstöße für Veränderungen ausgehen.

Welche Beziehung könnte eine kritische Stadtforschung zu solch heterogenen Stadtverwaltungen aufnehmen? Wendet man sich als Akademiker_in der städtischen Praxis zu, dann sollte man – zumindest ist das meine Erfahrung – nicht erwarten, dass wissenschaftliche Expertise im klassischen Sinne einer externen kritischen Bewertung gefragt ist. Wenn man gezielt für Vorträge angefragt wird, dann wissen die Auftraggeber_innen meist ganz genau, was sie hören wollen. Man wird eingeladen, wenn die zu erwartenden Inhalte absehbar die eigenen Positionen stützen. Geht man als Akademiker_in proaktiv auf die Praxis zu, dann wird man feststellen, dass alle Akteure in der Regel eine gefestigte, mehr oder weniger begründete Perspektive haben. Meist verfügen sie über eine sehr hohe fachliche und themenbezogene Qualifikation, die in der Regel das Wissen einer akademischen Wissenschaftler_in, insbesondere bezüglich zahlreicher Implikationen der Praxis, weit überschreitet. Wer verkennt, dass die akademische Stadtforschung hier viel dazulernen kann, der wird letztlich auch keinen empirischen Zugang finden. Stadtverwaltungen suchen akademische Nähe weniger um einer kritischen Meinung willen, als mehr zur ‚Adelung‘ praktischer Prozesse, beispielsweise partizipativer Projektierungen von Quartiers-, Grünraum- oder Leitbildentwicklungen. Universitäre Begleitung wird gerne als ein Beleg dafür angeführt, dass eine kontinuierliche Qualitätskontrolle stattgefunden hat. Eine kritische Stadtforschung könnte sich die Begleitung derartiger Prozesse zur Aufgabe machen. Der Einblick in die praktischen Vorgänge innerhalb der Stadtverwaltung eröffnet die Möglichkeit, Asymmetrien innerhalb der städtischen Strukturen zu erkennen. Die Mitarbeit bei den Prozessen erlaubt es, unterlegene Positionen zu stärken. Sozial- oder ökologieorientierte, progressive Initiativen könnten gegenüber uninformierten, wählerorientierten Strategien, finanzstarken Marktinteressen oder verhärteten Weisungsstrukturen innerhalb der Verwaltungen befördert werden. Die Kritiker_in vertritt damit nicht eine belehrende kritische Expertise von außen, welche von den Praktiker_innen nicht selten als unterkomplex wahrgenommen und somit nachvollziehbarer Weise meist wenig geschätzt wird, sondern leistet Überzeugungsarbeit im konkreten Arbeitszusammenhang. Dabei verschwimmen die ohnehin trüben Grenzen zwischen Beratung, Forschung und Engagement zugunsten einer in politische Prozesse integrierten kritischen Aktionsforschung. Kritik versteht sich auf diese Weise nicht als Opposition gegen die Verhältnisse im Gesamten, sondern nimmt kompetent die Vielschichtigkeit des Einzelfalls in den Blick und arbeitet dabei verantwortungsvoll an lokalspezifischen Lösungen mit. Meines Erachtens könnte die Praxisrelevanz und der Anwendungsbezug der kritischen Stadtforschung gestärkt werden, würde Kritik in diesem Sinne verstärkt als Mediation (Geiselhart 2020) verstanden.

Dieser Artikel wurde durch Open-Access-Publikationsfonds der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg gefördert.

Endnoten

Autor_innen

Klaus Geiselhart ist Geograph mit den Arbeitsschwerpunkten Geographische Gesundheitsforschung und Urban Studies.

klaus.geiselhart@fau.de

Literatur

Geiselhart, Klaus (2020): Truth and academia in times of fake news, alternative facts and filter bubbles: A pragmatist notion of critique as mediation. In: Robert Lake / Jane Wills (Hg.): The power of pragmatism: Knowledge production and social inquiry. Manchester, Manchester University Press: 139-156.

Hafner, Sabine / Miosga, Manfred (2007): Großprojekte in München im Spannungsfeld zwischen wettbewerbsorientierter Stadtentwicklungsstrategie, sozialer Integration und ökologischen Belangen. In: disP– The Planning Review 43/171, 25-35.

Reiß-Schmidt, Stephan (2018): München – viel geleistet, teuer geblieben. In: StadtBauwelt 217/6, 35-47.

Stadt München (2015a): Ökologische Holzbauweise. Ökologische Mustersiedlung in der Prinz-Eugen-Kaserne. https://www.muenchen.de/rathaus/Stadtverwaltung/Referat-fuer-Stadtplanung-und-Bauordnung/Projekte/Prinz-Eugen-Kaserne/Holzbau.html (letzter Zugriff am 16.01.2020).

Stadt München (2015b): Förderrichtlinien für das Zuschussprogramm in der Ökologischen Mustersiedlung im Prinz-Eugen-Park. https://www.muenchen.de/rathaus/dam/jcr:d79f0e3d-5f01-4af1-b1f8-82dbddf21352/Foerderrichtlinien_oekologische_Mustersiedlung_2017.pdf (letzter Zugriff am 16.01.2020).

Stadt München (2016): Masterplan Beleuchtungskonzept. Freiham Nord – Erster Realisierungsabschnitt. https://www.muenchen.de/rathaus/dam/jcr:cbcf3481-3aa3-4915-8512-58af392eaf58/Anlage%209%20Masterplan%20Licht.pdf (letzter Zugriff am 16.01.2020).

Stadt München (2017): Freiham – Entwicklung eines neuen Stadtteils. https://www.muenchen.de/rathaus/dam/jcr:1ba001fa-5c75-4ceb-a22f-67b17dd852c4/2017_Freiham_Entwicklung_eines_neuen_Stadtteils_Flyer.pdf (letzter Zugriff am 16.01.2020).

Vollmer, Lisa / Michel, Boris (2020): Wohnen in der Klimakrise. Die Wohnungsfrage als ökologische Frage: Aufruf zur Debatte. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 8/1-2, 163-166