Mehr als Baugruppe und alternatives Wohnprojekt

Kommentar zu Lisa Vollmer und Boris Michel „Wohnen in der Klimakrise. Die Wohnungsfrage als ökologische Frage“

Marc Amann

„Hausbesetzungen, Wohnprojekte, Baugruppen: Für die Zukunft planen, heißt, aus Erfahrung lernen! Das NEUE Tübinger Modell. Ein Quartier, das langfristig bezahlbares Wohnen für alle in Gemeineigentum garantiert. Ein Quartier, in dem Wohnraum dem Guten Leben dient – unabhängig von Eigenkapital und jenseits von Konkurrenz und Profit.“

Dieser Text war auf einer großen Informationswand zu lesen, die im Frühjahr 2016 auf einer städtischen Brachfläche in Tübingen stand. Als verantwortlicher Ansprechpartner war das „Referat für Dekommodifizierung, Gemeingüter und Soziale Infrastruktur der Stadt Tübingen“ angegeben. Obwohl dieses Referat nicht existiert und sich auch die ganze Infowand und Bauankündigung als Fake herausstellten, wurde damit in den Raum gestellt, wie ein neues Modell von Stadtentwicklung aussehen könnte – anstelle von privaten Baugruppen und alternativen Wohnprojekten: große sozial-ökologische Nachbarschaften.

Die Stadt der kurzen Wege, Nutzungsmischung, alltagstaugliche Quartiere, Erhalt von baulichen Strukturen, Konzeptvergabeverfahren statt Höchstpreis, architektonische Vielfalt, ökologisch-energetische Bauweisen sind in der schwäbischen Universitätsstadt Tübingen seit den frühen 1990er Jahren beispielhaft auf ehemaligen Kasernengeländen, wie dem Vorzeigequartier Französisches Viertel, umgesetzt und als Tübinger Modell für neue Stadtteile verankert worden (de Maddalena/Schuster 2005). Seitdem wurden hunderte Baugemeinschaften (Wohnungseigentümergemeinschaften) gegründet. Daneben gibt es seit den Hausbesetzungen der 1970er und 1980er Jahre selbstverwaltete alternative Wohnprojekte. Alleine im Zusammenschluss des bundesweiten Miethäuser Syndikats wohnen in sechs Tübinger Syndikatsprojekten fast 300 Menschen, weitere Projekte entstehen derzeit. Zu den über 20 sonstigen alternativen Wohnprojekten zählen auch ehemalige studentische Verbindungshäuser (Amann 2012). Zusammengenommen wohnen in Tübingen damit einige Tausend Menschen, vermutlich zwischen fünf und zehn Prozent der Bevölkerung, in gemeinschaftlichen Strukturen von Baugruppen und Wohnprojekten.

Auch bedingt durch die grün-alternative Attraktivität Tübingens steigen in Tübingen die Mieten in den letzten Jahren massiv an, es gibt Verdrängungsdynamiken aus Häusern und Stadtteilen. Baugruppenwohnungen werden inzwischen profitabel weiterverkauft und sind zu einem alternativen Betongold-Anlagemodell geworden. Die Wohnprojekte hingegen werden zu bezahlbaren Inseln in einer mietenwahnsinnigen Stadt. Beide Modelle, Baugruppen wie Wohnprojekte, bieten zudem nur bestimmten gesellschaftlichen Milieus eine Option: Um Baugruppen zu gründen braucht es Eigenkapital sowie die Bereitschaft und Möglichkeit, sich auf einen gemeinsamen Planungsprozess einzulassen. Die Gründung und das Wohnen in Wohnprojekten hingegen erfordern ein breites Netzwerk, um die Finanzierung auch ohne eigenes Geld über das Einwerben von Direktkrediten zu stemmen, sowie soziales und kulturelles Kapital und die Bereitschaft, Selbstverwaltung leisten zu können. Es ist damit kein Wunder, dass in beiden Strukturen vor allem Menschen wohnen, die einer akademischen, weißen Mittelschicht zuzuordnen sind – die einen etwas grün-bürgerlicher, die anderen etwas links-alternativer ausgerichtet.

Vor diesem Hintergrund haben sich wohn- und stadtpolitisch Aktive in Tübingen auf die Suche begeben, wie die Erfahrungen und Möglichkeiten einer progressiven Stadtentwicklungspolitik auf Basis nutzungsgemischter vielfältiger Stadtviertel, sowie die Erfahrungen von Baugruppen und Wohnprojekten auf ein sozial wie ökologisch neues Level gehoben werden können. Neben Debatten um commons (Gemeingüter) und den Ansatz der sozialen Infrastruktur als Sozialpolitik (AG links netz 2013) sind sie dabei auf Initiativen in Zürich gestoßen, die neue Wege gehen: Unter dem Titel „Nach Hause kommen“ hat die Initiative Neustart Schweiz[1] 2016 ein kleines Taschenbuch veröffentlicht, das inzwischen über die Schweiz hinaus zur Inspiration für andere Formen von Wohnen, Stadtplanung und Gesellschaftsstrukturen geworden ist. In dem Buch wird durch miteinander verbundene Nachbarschaften konkret gemacht, was seit den 1980er Jahren unter anderem vom Züricher Autor und Aktivist Hans Widmer (früheres Pseudonym p. m.) in verschiedenen Veröffentlichungen entwickelt wurde. Bereits in „bolo’bolo“, dem Utopie-Klassiker von 1983, hatte p. m. ein Gesellschaftsmodell miteinander verbundener Gemeinschaften beschrieben, die auf wenig individuellem Privatbesitz und Reichtum an kollektiven Gütern beruhen.

Angestoßen aus der Pionier-Genossenschaft Kraftwerk 1 sind die Kalkbreite (250 Bewohner*innen) und das Hunziker Areal der Mehr Als Wohnen Genossenschaft (1.200 Bewohner*innen, 150 Arbeitsplätze) zu den bekanntesten Projekten in Zürich geworden, die im Wechselspiel mit den Ideen von Neustart Schweiz entwickelt wurden. Unabhängig davon sind auch in anderen Städten Projekte entstanden, die ähnliche Ideen umsetzen, zum Beispiel die Genossenschaften Spreefeld in Berlin oder Wagnis in München. Andreas Hofer, Architekt und Mitinitiator von Kalkbreite und Hunziker Areal, wurde zum Intendanten der Internationalen Bauausstellung Stuttgart 2027 bestimmt. Auch das zeigt, dass diese Ideen inzwischen breit diskutiert werden, in der Hoffnung, damit Antworten auf aktuelle Fragen zu erhalten: Wie kann in Zeiten von Klimakrise, gesellschaftlicher Polarisierung, Prekarisierung, sich ändernden Demographien, neuen Formen von Arbeit und so weiter Stadtentwicklung und Wohnen anders konzipiert werden?

Im Rahmen einer wissenschaftlichen Begleitstudie wurde in den Jahren 2015 bis 2019 das Hunziker Areal in Zürich untersucht (Hoffmann 2019). Die Ergebnisse dieser Studie ermöglichen eine Bewertung, inwiefern die Ziele – sowohl im sozialen wie im ökologischen Bereich, hinsichtlich städtebaulichen und architektonischen Konzepts, dem Betriebsmodell oder den Beteiligungsprozessen – erreicht werden und welche Empfehlungen sich daraus auch für neue Projekte ergeben.

Im Hinblick auf ökologische Nachhaltigkeit orientiert sich Mehr Als Wohnen an den Zielsetzungen der 2000-Watt-Gesellschaft (Primärenergieverbrauch von 2000 Watt und maximale Emission von einer Tonne CO2 pro Person und Jahr) mit möglichst geringem Ressourcenverbrauch sowie der Förderung eines nachhaltigen Lebensstils. Die Studie stellt fest, dass das Hunziker Areal im Vergleich mit dem Schweizer Durchschnitt einen sehr tiefen Stromverbrauch aufweist (19,7 kWh/m² im Vergleich zu 27,0 kWh/m²), wobei das Gewerbe für ein Drittel verantwortlich ist. Auf den Dächern der Gebäude wird ein Viertel dieses Stromverbrauchs selbst produziert. Effiziente Küchengeräte, eine zentrale Tiefkühlanlage und die gemeinschaftlichen Waschküchen tragen dazu ebenso bei wie die Bewohner*innen mit ihrem Verhalten beim Ressourcen- und Energieverbrauch. Der angestrebte Gesamtenergieverbrauch von 30 kWh/m² im Durchschnitt aller Häuser wird knapp eingehalten. Dadurch konnte das Hunziker Areal mit dem Label ‚2000-Watt-Areal in Betrieb‘ ausgezeichnet werden. Hinsichtlich der enthaltenen grauen Energie und bauökologischer Qualitäten der verbauten Materialien werden die Schweizer Minergie-ECO-Standards erfüllt.

Ein zentraler Indikator für Nachhaltigkeit ist der Wohnflächenverbrauch pro Kopf. Mit 31,7 m² pro Person liegt dieser deutlich unter dem Durchschnittswert der Stadt Zürich (39,1 m² pro Person). Beeindruckend sind auch die Zahlen hinsichtlich der Umsetzung als autofreies Quartier: Während in der Stadt Zürich jede*r dritte Bewohner*in ein Auto hat, sind es auf dem Hunziker Areal nur vier von hundert Bewohner*innen. Erreicht wurde das durch ein Verkehrskonzept mit Autoverzichtserklärung (geregelt über den Mietvertrag, wobei es Ausnahmen unter anderem bei körperlichen Einschränkungen gibt). Bei der Befragung der Bewohner*innen werden neben dem innovativen Wohnangebot, den vielfältigen Infrastrukturen und Mitwirkungsmöglichkeiten auch die ökologische Ausrichtung gelobt und 89 Prozent sind zufrieden mit ihrer Wohnsituation.

Mehr als Wohnen scheint es also gelungen zu sein, auf dem Hunziker Areal eine ökologisch überdurchschnittliche Nachhaltigkeit einer sozial gemischten Bewohner*innenschaft umzusetzen, die diese Suffizienz nicht als Verzicht oder Einschränkung erlebt.

Was bieten das Neustart-Konzept und die bisherigen Erfahrungen von bereits bestehenden Projekten für die Initiative Neustart Tübingen?[2]

Entsprechend dem Schweizer Modell plant Neustart Tübingen ein großes Projekt für 500 Personen zu bauen. Seit zwei Jahren bereitet ein Kern von etwa 30 Aktiven mit Unterstützung eines breiten Umfelds die Umsetzung vor. Aktuell finden Gespräche mit Gemeinderat und Stadtverwaltung über eine Baufläche auf dem Marienburger Areal statt. Aus Sicht der Initiative eignet sich dieses Grundstück durch seine Lage zwischen den Baugruppenhäusern des Französischen Viertels und den Sozialwohnungen des Drei-Höfe-Areals ganz besonders für ein solches Projekt. Denn gemäß dem Neustart-Konzept sollen dort 500 Menschen wohnen können, die sozial diverser zusammengesetzt sind, als dies in den homogenen Vierteln der Umgebung der Fall ist. Die Züricher Projekte haben als Grundsatz ihres Belegungsmodells, den Querschnitt der Bevölkerung der Stadt Zürich umzusetzen. Die Tübinger Neustart-Initiative entwickelt derzeit noch einen Belegungsschlüssel, der Diversität garantieren und soziale Benachteiligungen auf dem angespannten Tübinger Wohnungsmarkt ausgleichen soll. Dadurch soll eine Diversität entstehen können, die es sowohl in Baugruppen wie in alternativen Wohnprojekten nicht gibt. Verbunden werden soll das mit solidarischen Finanzierungsmodellen hinsichtlich Miethöhen und Genossenschaftsanteilen zwischen Menschen mit mehr und weniger Einkommen und Vermögen.

Entscheidend für die sozialen und ökologischen Kriterien, die Neustart Tübingen erreichen möchte, ist die Überwindung der bisher im Tübinger Stadtplanungsmodell praktizierten Kleinteiligkeit. Denn erst die Größe ermöglicht das Zusammenspiel von gemeinsamer Finanzierung, Nutzung und Synergiebildung. Träger soll eine Genossenschaft sein, die statt Pflicht zu intensiver Selbstverwaltung (wie in Wohnprojekten) das Recht und die Möglichkeit zur Selbstorganisation und Entwicklung von Eigeninitiative unterstützt. Die Größe garantiert auch Gemeinschaftlichkeit ohne Gruppenzwang: 500 Bewohner*innen können sich kennen, sich begegnen, Gemeinsames organisieren, sich aber auch sein lassen. Unterschiedliche Wohnformen für verschiedene Bedürfnisse werden über Einzelappartements, Familienwohnungen, WGs oder Clusterwohnungen realisiert. Mit einem lebenslangen Wohnrecht soll die Bereitschaft einhergehen, je nach Lebensphase und Bedarf im Projekt umzuziehen. Statt großer Privatwohnungen soll es viele gemeinsame Flächen sowie eine sozial-ökologische Infrastruktur für alle geben: Gäste- und Jokerzimmer, Werkstätten, Geräte- und Materiallager, Café, Veranstaltungsraum. Auch Sorge- und Pflegedienstleistungen sind geplant.

Ökologisch nachhaltig wird das Vorhaben durch die schon in Zürich erfolgreich eingesetzten Elemente: Durch weniger private Wohnfläche und mehr Gemeinschaftsflächen sowie kollektive Infrastruktur werden insgesamt weniger Quadratmeter pro Person gebraucht. Die gemeinschaftlich organisierte Nutzung von Räumen, Geräten und Materialien verringert den individuellen Ressourcenbedarf und -verbrauch weiter. Dazu kommen ökologische Baustoffe wie Holz und ein nachhaltiges Energie- und Mobilitätskonzept. Durch den Anschluss an eine solidarische Landwirtschaft werden zudem auch ökologische Nahrungsmittel für alle Bewohner*innen leicht verfügbar sowie eine Stadt-Land-Verbindung aufgebaut.

Während Kalkbreite (Überbauung eines Straßenbahndepots) und Hunziker Areal (neuer Stadtteil) eigenständige räumliche Einheiten sind, stellt sich für das Marienburger Areal in Tübingen die Frage, welche Infrastruktureinrichtungen es geben soll, nicht nur für die zukünftigen Bewohner*innen sondern auch für die umgebende Nachbarschaft. Hierzu sollen kreative Partizipations- und Planungsprozesse eingesetzt werden. Inspiration dafür gab es bereits auf einem Workshop der PlanBude aus Hamburg.

Insofern ist der Spruch „Hausbesetzungen, Wohnprojekte, Baugruppen: Für die Zukunft planen, heißt, aus Erfahrung lernen! Ein Quartier, das langfristig bezahlbares Wohnen für alle in Gemeineigentum garantiert. Ein Quartier, in dem Wohnraum dem Guten Leben dient!“ tatsächlich ernst gemeint. Denn es geht nicht um ein weiteres kleines Modellprojekt einer vergleichsweise privilegierten Bewohner*innenschaft, sondern um die Verbreitung der bisherigen Tübinger Erfahrungen: Für mehr Menschen in einer diverseren Zusammensetzung die Möglichkeit bieten, gut, sozial wie ökologisch nachhaltig und suffizient zu wohnen – ohne diese Nachhaltigkeit als Einschränkung, Verzicht oder Pflicht zu erleben, sondern als Gewinn von Wohn- und Lebensqualität.

Endnoten

Autor_innen

Marc Amann ist Diplompsychologe, arbeitet als freiberuflicher Aktions- und Kampagnentrainer in der politischen Bildung und engagiert sich in stadtpolitischen Zusammenhängen und Wohnprojekten, aktuell in der Initiative Neustart Tübingen.

go.stop.act@mtmedia.org

Literatur

AG links netz (2013): Sozialpolitik anders gedacht: Soziale Infrastruktur. Hamburg: VSA.

Amann, Marc (2012): Wohnprojekte in Tübingen. Eine Übersicht. https://wohnprojekte-tuebingen.mtmedia.org/uebersicht-wohnprojekte-in-tuebingen/ (letzter Zugriff am 13.02.2020)

de Maddalena, Gudrun Theresia / Schuster, Matthias (2005): go south. Das Tübinger Modell. Tübingen/Berlin: Ernst Wasmuth.

Hoffmann, Marco (2019): Wohnen, Leben, Arbeiten im Hunziker Areal in Zürich. Strukturen – Prozesse – Erfahrungen. Begleitstudie 2015-2019. Zürich: IMMOQ.

p. m. (1983): bolo’bolo. Zürich: Paranoia City.

Verein Neustart Schweiz (2016): Nach Hause kommen. Nachbarschaften als Common. Zürich: Edition Volles Haus.

Vollmer, Lisa / Michel, Boris (2020): Wohnen in der Klimakrise. Die Wohnungsfrage als ökologische Frage: Aufruf zur Debatte. In: sub\urban 8/1-2, 163-166.