Eine Frage der Flächengerechtigkeit!

Kommentar zu Lisa Vollmer und Boris Michel „Wohnen in der Klimakrise. Die Wohnungsfrage als ökologische Frage“

Miriam Neßler, Anton Brokow-Loga

Frühjahr 2019: Im Plenum des Kollektivs Raumstation Weimar, einer stadtpolitischen Gruppe, in der wir beide aktiv sind, diskutieren wir darüber, wie wir Wohnfragen stärker in den kommunalpolitischen Diskurs bringen können. Plötzlich entflammt an der These, dass (individueller) Wohnraum aus ökologischen Gründen praktisch begrenzt werden müsste, eine überraschend kontroverse Diskussion. Uns wird dabei klar: Zwischen den Forderungen nach weniger Flächenverbrauch und -versiegelung mit ökologischer Begründung und Forderungen nach mehr sozialverträglichem Wohnraum entsteht in der aktivistischen Praxis zunächst ein Widerspruch, der schwer aufzulösen ist. Ein paar Wochen später besuchen wir eine Konferenz[1] zur gesellschaftlichen Verteilung von Boden vor dem Hintergrund der Wohnungskrise. Auch hier ergibt sich ein ähnliches Bild: Die wissenschaftlichen Ansätze zur Lösung dieser (als sozial verstandenen) Krise ignorieren weitgehend die Bedingungen der Klimakrise. Dabei sind soziale und ökologische Problematiken, die mit der Verteilung von Wohnfläche verbunden sind, Teil derselben (Wohnungs-)Krise. Wir wollen zeigen, dass, sobald dieses komplexe und widersprüchliche Zusammenspiel als Frage der Flächengerechtigkeit verstanden und analytisch geschärft wird, sich neue handlungsfähige Allianzen ergeben, beispielsweise mit stadtökologischen oder mobilitätsbezogenen Bewegungen. Dieses Zusammenspiel ins Bewusstsein der kritischen Stadtforschung und von Aktiven im Recht-auf-Stadt-Spektrum zu holen, ist Ziel dieses Debattenbeitrags.

Ein um sich greifender Autoritarismus, schwindende Biodiversität, explodierende Ungleichheiten: Die Krise des neoliberalisierenden (Spät-)Kapitalismus hat viele Gesichter, deren Verbindungslinien von emanzipatorischer Theorie und Praxis (an-)erkannt werden müssen. Da die Phänomene als Teile einer tiefgreifenden krisenhaften Entwicklung ineinandergreifen, sich gegenseitig verstärken und miteinander auf komplexe Weise verwoben sind, sprechen Demirović et al. (2011) von einer „Vielfachkrise“, Brand (2009) versteht sie als „multiple Krise“. Die miteinander verbundenen, sozialen und ökologischen Krisen äußern sich in urbanen Räumen unter verschärften Vorzeichen und teilweise als Dilemmata: So sind städtische Grünräume, die zur Steigerung der Luftqualität beitragen könnten, sowohl durch knappe öffentliche Finanzierungsmöglichkeiten als auch durch Forderungen nach mehr Wohnungsbau in verdichteten Lagen bedroht (Breckner 2018). Die Orientierung an ökologischer Nachhaltigkeit bei Stadtumbaumaßnahmen in einem kapitalistisch organisierten Immobilienmarkt wiederum verschärft nachweislich soziale Ungleichheiten und Verdrängungseffekte (Holm 2011). Im Endeffekt stellt sich damit die Gretchenfrage, wie Ansätze ökologischer und sozialer Gerechtigkeit in Theorie und Praxis zusammengebracht werden können: „Sattes Grün verlangt kräftiges Rot“ (Thie 2013). Krisen sind jedoch aus unserer aktivistischen Perspektive ambivalent: Während Ungerechtigkeiten verstärkt werden, öffnen sich in ihnen gleichzeitig Gelegenheitsfenster, in denen Widersprüche neu verhandelt und sozial-ökologische Herrschaftsverhältnisse radikal hinterfragt werden können (Brand 2009: 10). Entscheidend ist nun, diese Möglichkeitsfenster strategisch zu nutzen – und zwar sowohl durch Freiräume und radikale Bewegungspolitik als auch durch planerische und politische Instrumente.

Wohnflächenverteilung als Ausdruck und Ursache der sozial-ökologischen (Wohnungs-)Krise

Die Verteilung von Wohnfläche ist nicht nur im öffentlichen und an vielen Stellen im wissenschaftlichen Diskurs unsichtbar. Die Wohnung gilt in der europäischen Stadt als Inbegriff des privaten Raumes und ist als solcher durch dicke Mauern, Türen und Vorhänge vom öffentlichen Raum abgegrenzt. Dementsprechend sind Informationen über die Größe der Wohnung und die Anzahl der in ihr Lebenden auch in der Stadt meist unsichtbar. Die existierende Wohnflächenungerechtigkeit sowie daran anschließende ökologische Problematiken bleiben so verborgen.

Dabei ist Wohnfläche sowohl global, als auch innerhalb Deutschlands und innerhalb einer Stadt ungleich verteilt. Lag in Deutschland der durchschnittliche Wohnflächenverbrauch im Jahr 2014 bei 45 m² pro Person, hatte im selben Jahr beispielsweise in den USA durchschnittlich jede Person 75 m² und in Nigeria 6 m² zur Verfügung (Die Zeit 2014). Auch innerhalb Deutschlands gibt es starke regionale Ungleichheiten, die sich zum Teil mit den vorherrschenden Baustrukturen erklären lassen. So ist der Wohnflächenverbrauch pro Person in Städten mit hohem Plattenbau- und allgemein Siedlungsbauanteil niedriger als in Städten, die stärker durch Einfamilienhäuser geprägt sind, was zum Teil eine unterschiedliche Wohnflächenverteilung zwischen Ost und West erklärt (Lebuhn et al. 2017: 45). Zudem spiegelt sich in der regional unterschiedlichen Verteilung von Wohnfläche auch der „enge Zusammenhang von Wohnungsmarktlage, Mietpreisen und der Wohnqualität“ (ebd.) wider: In Städten in strukturschwachen Regionen ohne angespannte Wohnungsmärkte steht Menschen durchschnittlich mehr Wohnfläche zur Verfügung als in Städten mit angespannten Wohnungsmärkten. Besonders stark unterscheidet sich die Verteilung der Wohnfläche jedoch nach sozialen Kriterien. Eine Rolle spielen hier neben der Haushaltsgröße (Einpersonenhaushalte belegen durchschnittlich mehr als doppelt so viel Fläche pro Person wie Haushalte mit drei und mehr Personen) und dem Haushaltstypus (Seniorenhaushalte weisen durchschnittlich mehr als doppelt so viel Fläche pro Person auf als Haushalte von Familien mit Kindern unter 18 Jahren) auch die Frage, ob es sich bei der Wohnung um selbst genutztes Eigentum oder eine Mietwohnung handelt (ca. 50 m² pro Person im Vergleich zu ca. 37 m² pro Person) (Statistisches Bundesamt 2016, Zahlen von 2014). Einen besonders großen Unterschied gibt es jedoch hinsichtlich des Einkommens: Größere Wohnungen werden vor allem von reicheren Haushalten bewohnt und ärmere Haushalte wohnen auf weniger Wohnfläche. Etwa die Hälfte der Wohnungen über 120 m² werden von Haushalten mit hohem Einkommen (mehr als 140 % des Bundesmedianeinkommens) bewohnt, während der Anteil der Haushalte unter der Armutsgrenze (weniger als 60 % des Bundesmedianeinkommens) bei weniger als 5 % liegt (Lebuhn et al. 2017: 65). Bei Wohnungen bis 45 m² ist die Verteilung in etwa gespiegelt: 40 % der kleinen Wohnung werden von Haushalten mit weniger als 60 % des Bundesmedianeinkommens und knapp 8 % von Haushalten mit mehr als 140 % des Bundesmedianeinkommens bewohnt (ebd.). Im Umkehrschluss stehen ärmeren Haushalten also deutlich weniger Quadratmeter zur Verfügung als Haushalten mit hohem Einkommen (vgl. u.a. Lebuhn et al. 2017: 12; BBSR 2015: 61-68). Dass dies eine Frage sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Gerechtigkeit berührt, liegt auf der Hand: „Das verfügbare Einkommen bestimmt die Wohnungsgröße und der Wohnflächenverbrauch erscheint als klarer Indikator sozialer Ungleichheiten im Bereich des Wohnens“ (Lebuhn et al. 2017: 65).

Unter dem Stichwort ‚Wohnverhältnisse‘ wird neben der Lage und Ausstattung eines Wohnraums auch die ungleiche Verteilung von Wohnfläche gleichzeitig als Ausdruck von, aber auch als Grund für soziale Ungleichheit in der Stadt gesehen (vgl. Häußermann/Siebel 2000). Die Beobachtung der sozialen Ungleichheit, die sich im Wohnen ausdrückt und durch das Wohnen bedingt wird, sollte angesichts der oben aufgeführten statistischen Deutlichkeit zugespitzt werden – wir sprechen daher nicht nur von einer Wohnflächenungleichheit, sondern von einer Wohnflächenungerechtigkeit. Die Verteilungsmechanismen von Wohnfläche sind nicht am Bedürfnis, sondern am Einkommen ausgerichtet. Da Wohnraum und Fläche weder global noch in einer Stadt endlos verfügbare Güter sind, bleibt – wenn einige Menschen auf viel Raum leben – für andere Menschen weniger Fläche übrig. Daraus folgt, dass die Wohnflächenungerechtigkeit – gerade in Städten mit angespanntem Wohnungsmarkt – auch Auslöser für zahlreiche weitere Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten ist: Eine Verknappung des verfügbaren Wohnraums führt unter derzeitigen Gegebenheiten quasi-automatisch zu erhöhten Mietpreisen, die mit einer ungleich hohen Mietbelastung, Verdrängung aus dem Lebensstil durch ‚Zusammenrücken‘ sowie Verdrängungen in schlechtere Wohnungen, Wohnlagen oder letztlich in die Obdachlosigkeit einhergehen. Und die Menschen, die am wenigstens für eine Verknappung von Wohnraum verantwortlich sind, leiden am meisten darunter.

Die Verteilung der Wohnfläche ist jedoch nicht nur unter sozialen, sondern auch unter ökologischen Aspekten problematisch. Der Wohnflächenverbrauch pro Person ist in Deutschland in den letzten Jahrhunderten und Jahrzehnten extrem gestiegen. 1960 betrug er noch durchschnittlich rund 20 m² pro Person (Lage/Leuser 2019: 366). 2017 lag die durchschnittliche Wohnfläche pro Person mit 46,5 m² bei einem mehr als doppelt so hohen Wert. Mit weiterhin steigender Tendenz: „Despite a shrinking population, living space in Germany is growing continuously and […] scenarios […] assume this development to continue at least until 2030“ (Bierwirth/Thomas 2015: 72). Neue Wohnflächen machten dabei im Jahr 2013 fast die Hälfte der insgesamt in Deutschland neu in Anspruch genommenen Siedlungs- und Verkehrsflächen aus (SRU 2016: 246 f.). Wohnen wird in einem Umweltgutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen aus dem Jahr 2016 daher eindeutig als Treiber der Flächenneuinanspruchnahme betrachtet (ebd.: 246), was sich aufgrund der gestiegenen Nachfrage und erhöhten Bautätigkeit im Rahmen der „Wohnraumoffensive“[2] noch verstärkt haben dürfte. Ein Mehr an Wohnraum bedeutet dabei auch ein Mehr an Ressourcen für den Bau und die Einrichtung der Wohnungen sowie einen gesteigerten Energiebedarf für die Produktion und den Unterhalt der neuen Wohnungen. Im Jahr 2016 kamen in Deutschland auf jede_n Einwohner_in mehr als 100 Tonnen Materialbestand, davon knapp die Hälfte Beton – allein aus Wohngebäuden (Bundesstiftung Baukultur 2019: 2). Die Neuinanspruchnahme von Flächen für den Bau von Wohngebäuden führt zudem auch zum Wegfall von Freiflächen, zur Versiegelung von Boden, und hat damit sowohl auf die Lebensqualität von Menschen als auch auf die Tier- und Pflanzenwelt einen erheblichen Einfluss. Denn die Versiegelung von Flächen wirkt sich negativ auf die Biodiversität und die Resilienz von Ökosystemen, zum Beispiel bei Starkregenereignissen und anderen extremen Wetterereignissen in Folge des Klimawandels, aus (Lage/Leuser 2019: 365). Der Zugang zu unversiegelten Flächen ist dabei wiederum sozial und räumlich ungleich verteilt und im Hinblick auf städtische Umweltgerechtigkeit, die seit einigen Jahren sowohl in der Forschung als auch in der politisch-planerischen Praxis zunehmend thematisiert wird, zeigt sich, dass urbane Klimaprobleme, die auch aus der Versiegelung von Flächen resultieren, überdurchschnittlich Menschen in ärmeren Wohngegenden belasten (vgl. Sander 2019; SenUVK 2019). Gleichzeitig profitieren wohlhabende Gruppen von genau diesen Umweltbedingungen tendenziell – oder können sich durch höhere Mauern, Stacheldraht oder Überwachungstechnik von den negativen ökologischen Wirkungen abschirmen. Die Untersuchungen zur Verteilung und zum Verbrauch von (Wohn-)Fläche sollten deshalb stärker Anschluss an Debatten um Umweltgerechtigkeit erfahren.

Die Frage, ob nicht bereits genug Wohnfläche vorhanden ist, drängt sich angesichts dieser Problematiken nahezu auf. Explizit verstehen wir dieses ‚genug‘ in gesamtgesellschaftlicher Bedeutung und nicht als Appell nach individuellem Verzicht. So gehen Jonas Lage und Leon Leuser in ihrem Artikel zu den sozial-ökologischen Dimensionen der Flächennutzung in deutschen Wachstumsregionen davon aus, dass „Wohnfläche in Deutschland […] heute – historisch betrachtet – (mehr als) ausreichend zur Verfügung“ (Lage/Leuser 2019: 366) steht. Für Daniel Fuhrhop ist diese Annahme Grundvoraussetzung für seine Forderung „Verbietet das Bauen!“ (2015). Und auch in der internationalen Degrowth-Debatte wird davon ausgegangen und dementsprechend gefordert: „Small is necessary“ (Nelson 2018). Der gestiegene Pro-Kopf-Verbrauch lässt sich vor allem auf die Verbreitung des Einfamilienhauses – „paradoxerweise eine exklusive und zugleich gesellschaftlich normalisierte Wohnform“ (Lage/Leuser 2019: 366) – sowie den so genannten Remanenzeffekt – das Phänomen, dass Menschen nach dem Auszug von Haushaltsmitgliedern in der auf einen größeren Haushalt ausgelegten Wohnung verbleiben – zurückführen. Zudem sind der gesellschaftliche Wandel hin zu Einpersonenhaushalten und ein gestiegener Wohnstandard Grund für den gestiegenen individuellen Flächenverbrauch. Vormals gemeinsam genutzte Räume und Infrastrukturen wie Bad, WC, Waschmaschine und Küche sind nun zum Bestandteil jeder Wohnung geworden und ständig werden neue Bedürfnisse formuliert, kreiert und durch einen Wohnstandard mit mehr und mehr Platzbedarf befriedigt. Wachsender Wohlstand und die ökonomisch-politischen Rahmenbedingungen, wie sie beispielsweise durch das Baukindergeld geschaffen wurden, müssen dabei als politisch-institutionell geschaffene Voraussetzungen für eine Ausbreitung der Wohnfläche gesehen werden (vgl. Lage/Leuser 2019: 366 f.). Und ohne in individualisierende Debatten abzugleiten, müssen wir uns eingestehen, dass der Umbau von Infrastrukturen auch die „mentalen Infrastrukturen“ betrifft – in Anlehnung an die von Harald Welzer (2011) beschriebenen „Autobahnen im Kopf“ (Konzeptwerk Neue Ökonomie 2016: 1) geht es hier ganz klar um den kritischen Umgang mit dem Einfamilienhaus im Kopf.

Doch bei den Diskussionen um ein fehlendes Bewusstsein für flächensparendes, flächensuffizientes Bodenverhalten besteht die Gefahr, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die zu einem fehlenden „Bodenbewusstsein“ (Enbergs 2005) und gleichzeitig zum Paradoxon des unfreiwilligen „guten Bodenbewusstseins“ von Personen mit niedrigerem Einkommen führen, außer Acht zu lassen. Argumentationen nach Flächensuffizienz verlaufen gemäß des derzeitigen Framings als „Verzicht“ zumeist individualistisch, mit dem Begriff der Flächeneffizienz zwangsweise technizistisch. Stattdessen sollten diese Problemlagen diskursiv zu Fragen der Flächengerechtigkeit transformiert werden. Denn es geht nicht um eine ausschließlich ‚grün‘ zu formulierende Frage, die mit „Weniger ist mehr!“ beantwortet werden kann. Stattdessen müssen wir gesellschaftliche Eigentums- und Machtstrukturen hinterfragen und überwinden, die schlicht und ergreifend eines sind: ungerecht. Debatten um weniger (Wohn-)Flächenverbrauch müssen konsequent mit einer Thematisierung bestehender Wohnflächenungerechtigkeiten einhergehen. Das momentan von uns zu beobachtende Gelegenheitsfenster, das durch den Druck städtischer Bewegungen, aber auch die zunehmende Ratlosigkeit in städtischen Verwaltungen angesichts der ökosozialen Dilemmata geöffnet wird, muss genutzt werden, um Diskussionen um die Neuausrichtung der Wohnungspolitik viel grundlegender zu führen.

Praktiken und Forderungen für eine sozialökologische Wohnflächengerechtigkeit

Schauen wir auf derzeitige Lösungsansätze wie Tiny Houses und Mikroappartements, wird die ökologische und soziale Krise der Wohnflächenverteilung nicht nur zugespitzt, sondern häufig durch marktorientierte Scheinlösungen buchstäblich zementiert. Sie laufen außerdem Gefahr, bisherige Wohnstandards für ärmere Bevölkerungsgruppen weiter abzusenken (vgl. Prigge 2018). Regelungen zu Mindestwohnflächen, wie sie einige Bundesländer erlassen haben, sollen demgegenüber vorbeugen, dass Menschen auf zu wenig Raum wohnen (dürfen). In Berlin beträgt die Mindestquadratmeterzahl pro erwachsener Person 9 m² (Deutscher Bundestag 2017: 4). In Gemeinschaftsunterkünften werden jedoch Asylsuchenden, je nach Bundesland – falls es Mindeststandards gibt – nur 6 oder 7 m² pro Person zugesprochen (Wendel 2014: 39-46). Noch einmal zur Erinnerung: Die durchschnittliche Pro-Kopf-Wohnfläche in Deutschland betrug 2017 46,5 m². Das zeigt, wie weit Regelungen zu Minimalwohnflächen von den erreichten durchschnittlichen Wohnflächen entfernt sind.

Das flächenintensive Wohnen einiger weniger Personen einzuschränken, wird angesichts vorherrschender Normen von Eigentum und Privatsphäre jedoch kaum diskutiert[3]. Überlegungen und tatsächliche Gesetze zu Maximalwohnflächen setzen bisher nur bei von Transferleistungen abhängigen Menschen an, deren Wohnungsgröße angemessen sein muss, was bereits eine Wohnungsgröße von mehr als 50 m² pro Einpersonenhaushalt (plus 15 m² je weiterer Person) von einer Förderung ausschließen kann (HartzIV.org o. J.). Schaut man auf Neubauregelungen, scheint ebenfalls nur der Wohnungsneubau der sozialen Wohnraumförderung steuerbar zu sein. Nur hier lassen sich Regelungen zu Wohnflächenobergrenzen (z. B. SenSW 2019: 5413) finden. Andere Lösungsvorschläge blenden die Zustände in den von Neoliberalismus und Finanzialisierung geprägten Städten aus. So versuchen Wohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften Menschen vom Wohnungstausch zu überzeugen und vergessen dabei oft, dass dieser aufgrund gestiegener Mieten für viele keine Option ist. Selten geht es um grundsätzliche Fragen der gesellschaftlichen Aushandlung von Wohnfläche und damit einer Überwindung der imperialen Lebensweise[4] (I.L.A. Kollektiv 2019: 44-49).

Die Rolle einzelner Freiräume, in denen eine solidarische Lebensweise in der Praxis erprobt wird, sollte bei der Suche nach Lösungen nicht unterschätzt werden: In diesen können eigene Handlungsfähigkeit bewiesen und Internalisierungsmuster hinterfragt werden. Konkret geht es um die Schaffung und Verstetigung von Räumen, die „Aspekte des Teilens, der Herstellung neuer Gemeingüter (Urban Commons) und geteilter Raum-Ressourcen und Wissen” (Koch et al. 2020: 221) fördern. Projekte gemeinschaftlichen Wohnens, bei denen Flächen von mehreren Personen und Haushalten genutzt und gemeinsam verwaltet werden, sind Beispiele dafür, dass durch „Praktiken des Teilens Dekommodifizierungsprozesse angestoßen werden können“ (ebd.) und der individuelle Flächenverbrauch pro Person zumindest thematisiert werden kann. Auch wenn gemeinschaftliches Wohnen per se kein Garant für eine Absenkung der individuellen Wohnfläche ist, bietet es das Potenzial dazu, indem Infrastrukturen und Räume geteilt werden und so vor allem dem flächenintensiven Single-Wohnen entgegengewirkt wird. Allerdings gilt es hierbei zu beachten, dass auch kommerzielle Plattformen wie Airbnb auf einem ähnlichen Grundprinzip, dem „Wegfall exklusiver Raumnutzungen“ (ebd.: 231), basieren und im Kontext grassierender Flächenungerechtigkeit die Wohnungskrise eher verschärfen. Dieses Beispiel zeigt erneut: Ökologisch ‚gute‘, flächensparende Praxis sollte nicht ohne soziale Zugänglichkeit und Gerechtigkeit gedacht werden!

Gleichzeitig erfordert eine gerechte und sparsame Wohnflächenverteilung Regularien. Die Verteilung und der Verbrauch von Wohnfläche müssen dafür zum Politikum und auch von stadtpolitischen Initiativen stärker thematisiert und sichtbar gemacht werden. Der beständige Neubau, das Baukindergeld und das sozial ungleich verteilte Wohnen auf viel Raum müssen stärker problematisiert werden. Gerade Akteure aus Stadtverwaltungen und -parlamenten sollten dabei verhindern, dass hauptsächlich die Bauwirtschaft von Forderungen nach mehr bezahlbarem Wohnraum profitiert. Dabei können auch zunächst unrealistisch klingende Ansätze wie die Verordnung eines Flächenmoratoriums (vgl. Kopatz 2017: 131 f.) oder einer Maximalwohnfläche gefordert, bearbeitet und demokratisch umgesetzt werden.

Um das erreichen zu können, muss ein Bewusstsein dafür entstehen, dass die derzeitige Verteilung von (Wohn-)Fläche stadtpolitisch hauptsächlich monetär vermittelt und damit reichengerecht ist. Besonderes Augenmerk sollte dabei auf die sich verschärfende Mietbelastungsquote einkommensschwacher Haushalte gerichtet werden (Lebuhn et al. 2017: 69-74). Zudem ist es notwendig, städtische Flächengerechtigkeit nicht nur unter dem Aspekt der Mobilität zu betrachten – denn herkömmlicherweise wird diese mit der Parole „Straße zurückerobern!“ (VCD: o. J.) gleichgesetzt. Die Problematisierung und Zurückdrängung der autogerechten Stadt müssten jedoch stärker mit einer emanzipatorischen Wohnungspolitik verknüpft werden. Letztendlich geht es um die Frage, wofür wir städtische Flächen nutzen und wie wir zusammenleben wollen.

Damit wir alle das Recht auf ein selbstbestimmtes Wohnen, das nicht auf Kosten anderer geht, haben können, erfordert es ein radikales Umdenken bei der Verteilung von Wohnfläche. Die Verteilung muss dabei letztlich von der (neuen) kapitalistischen Landnahme (Dörre 2017) befreit werden, weswegen eine kritische Transformationsperspektive sich nicht nur auf Freiräume oder Regularien, sondern auch auf Momente des Bruchs orientiert (vgl. Wright 2015: 101; in Übertragung auf städtische Konflikte vgl. Brokow-Loga 2020: 80-84). An die Stelle kapitalistischer Logiken der Wohnraumverteilung müssen (dann) bedürfnisorientierte und demokratische Verteilungsmechanismen vor dem Hintergrund endlicher Ressourcen treten (vgl. I.L.A Kollektiv 2019: 48).

Da Flächenungerechtigkeiten institutionell und rechtlich abgesichert sind, sollte einer der Schwerpunkte kritischer Stadtforschung und der Recht-auf-Stadt-Bewegung darauf liegen, diese sichtbar zu machen, ihre Ursachen und Ausprägungen besser zu verstehen und für eine sozialökologische Neuausrichtung der Wohnungspolitik einzutreten. Akteure aus den Spektren der ‚Recht-auf-Stadt‘ und ‚degrowth‘-Bewegung können hier durchaus voneinander profitieren, wenn es um das Erproben und Einfordern sozialer und ökologischer Gerechtigkeit geht. Einer gemeinsamen Transformationsperspektive ginge es dann weniger um das Recht auf eine vermeintlich individuell wählbare Fläche, sondern stattdessen endlich um Raum für alle. Sowohl in der kritischen Stadtforschung als auch in unserer aktivistischen Praxis brauchen wir dafür eine breitere Debatte um die Verwirklichung von Wohnflächengerechtigkeit und das Recht auf ein gutes Leben in der Stadt für alle.

 

Die Bauhaus-Universität Weimar unterstützt die Publikation dieses Beitrags durch eine institutionelle Vereinbarung zur Finanzierung von Publikationsgebühren.

Endnoten

Autor_innen

Anton Brokow-Loga forscht an der Schnittstelle von Politikwissenschaft und kritischer Urbanistik entlang städtischer Transformationspfade.

anton.brokow-loga@uni-weimar.de

 

Miriam Neßler ist Kulturanthropologin und Urbanistin mit wissenschaftlichen und aktivistischen Schwerpunkten auf dem Recht auf Stadt und Grenzregimen.

miriam.nessler@uni-weimar.de

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