Thesen zur Soziologie der Stadt – revisited

Kommentar zu Hartmut Häußermann & Walter Siebels „Thesen zur Soziologie der Stadt“

Norbert Gestring

1.

Der Aufsatz „Thesen zur Soziologie der Stadt“ ist einerseits ein Kind seiner Zeit, andererseits einer der Grundlagentexte für eine kritische Stadtsoziologie.

Die 1970er Jahre waren ein Jahrzehnt der Bildungsexpansion und des Aufbruchs für die Universitäten. Die Kapazitäten bestehender Universitäten wurden erhöht, viele neue wurden gegründet. Die beiden Autoren gehörten zur ersten Generation von Soziologie-Professor_innen an neu gegründeten Universitäten (Häußermann erst in Kassel, dann in Bremen, Siebel in Oldenburg). Die Soziologie war in dieser Zeit so etwas wie eine Leitdisziplin. Sie wurde massiv ausgebaut und differenzierte sich zugleich in eine Vielzahl von Bindestrich-Soziologien aus, was sich in zahlreichen Gründungen von Sektionen – wie der Sektion Stadt- und Regionalsoziologie – innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie niederschlug. Der Aufsatz von Häußermann und Siebel markiert in dieser Phase des „Boom[s] der Stadtsoziologie“ (485) den Versuch, eine kritische Stadtsoziologie zu begründen, die sich von der Chicagoer Schule, der hier so genannten Stadtplanungssoziologie und von Bahrdts (2006) 1961 veröffentlichtem Konzept der modernen Großstadt abgrenzt durch die gesellschaftstheoretische Fundierung, wie sie für die internationale New Urban Sociology (vgl. Häußermann/Kemper 2005) mit ihren neo-marxistischen Anschlüssen kennzeichnend war. In der deutschen Stadtsoziologie war der polit-ökonomische Ansatz, für den die „Thesen zur Stadtsoziologie“ wegweisend waren, die theoretische Referenz. Darauf wird unten zurückzukommen sein.

Der Aufsatz ist aus einem zweiten Grund ganz offensichtlich ein Kind seiner Zeit: Er wurde geschrieben in einer anderen Gesellschaft und er behandelt andere Städte als die heutigen. Er ist geprägt von der fordistischen Gesellschaft (die freilich noch nicht so bezeichnet wurde) und ihrer Krise. Mitte der 1970er Jahre waren noch 44 Prozent der Erwerbstätigen in der Industrie beschäftigt, für eine Vielzahl von Städten war die Industrie die alles dominierende ökonomische Basis. Es gab – zumindest „auf dem Papier“ (Bourdieu 1998: 23) – eine Arbeiterklasse und in den großen Städten noch so etwas wie eine Arbeiterkultur, die durch den engen Zusammenhang von Betrieb und Wohnen in den Arbeiterquartieren sichtbar wurde. Die „Unterschicht“ war deshalb nicht wie heute Gegenstand niveauarmer Witze über TV-Konsum, sondern wurde als zumindest potenzielle Akteurin gesellschaftlicher Konflikte und Veränderungen ernst genommen. Der folgende Satz liest sich ja wie eine Warnung: „Je deutlicher […] die Probleme in den großen Städten die Probleme der Unterschicht werden, desto mehr müssen auch die Auseinandersetzungen in den Städten an politischem Gehalt gewinnen.“ (490)

Hatte in den 1970er Jahren die Arbeiterklasse – das war die Unterschicht – aufgrund der strategischen Bedeutung der Arbeiter_innen in der Produktion zumindest potenziell noch Machtinstrumente in der Hand, so kann davon in der postfordistischen Gesellschaft kaum noch die Rede sein. Jahrzehnte der Deindustrialisierung, Rationalisierung und Reorganisation der Arbeit, Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse und Internationalisierung der Produktion haben einen massiven Wandel der Arbeit und der sozialen Frage bewirkt. Die alte soziale Frage nach der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zwischen Kapital und Arbeit wird längst überlagert von der neuen sozialen Frage nach den Chancen auf Teilhabe. Den prekär Beschäftigten und erst recht den sozial Ausgegrenzten fehlen die kollektiven Machtmittel, um wirkungsvoll für eine Verbesserung ihrer Lage einzutreten. Für diese neue Unterschicht geht es, zugespitzt formuliert, nur noch um die Chance, überhaupt am Arbeitsmarkt berücksichtigt zu werden und am gesellschaftlichen Leben irgendwie teilnehmen zu können. Misslingt das, drohen Exklusion und verwaltete Marginalität in den benachteiligten Quartieren.

Im Jahr 1975 gab es zum ersten Mal in der BRD mehr als eine Million Arbeitslose. Die Arbeitslosigkeit war Ausdruck einer Strukturkrise des Fordismus, die die dominierenden Formen der Regulation in Frage stellte. Die Krise ist im Aufsatz präsent – wenn auch, wie zu erwarten, nicht in ihrer historischen Dimension. Für die Städte erwarteten Häußermann und Siebel einen Anstieg der sozio-ökonomischen Segregation, für die innerstädtischen Wohngebiete wurde sogar eine Verarmung nach amerikanischem Vorbild als Schreckensbild heraufbeschworen. Die bipolare Sicht der Autoren auf die Differenzierung der Gesellschaft – hier Arbeiter, dort das Bürgertum – findet ihren Niederschlag in den Vorstellungen der sozialräumlichen Strukturen der Städte, die noch dem fordistischen Muster entsprachen: Die Arbeiterhaushalte befinden sich in den Innenstädten, die bürgerlichen Haushalte überwiegend in den suburbanen Vororten. Eine Verschärfung der Segregation infolge wachsender Arbeitslosigkeit und Ungleichheit wird im Rahmen dieses Musters gedacht, denn ein Ende der Dynamik der Suburbanisierung der Mittelschichten, Prozesse der Gentrifizierung oder gar eine sogenannte Renaissance der Städte waren nicht absehbar.

Soziologische Begriffe sind historische Begriffe, die nur zu verstehen sind, setzt man sie in Bezug zu der Gesellschaft, in der sie entstanden sind und die zu beschreiben sie entwickelt wurden. Das gleiche gilt für theoretische Konzepte. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn mit dem gesellschaftlichen Wandel auch das Verständnis grundlegender gesellschaftlicher, aber auch städtischer Strukturen einer Veränderung bedarf. An welchen „Thesen“ also kann kritische Stadtsoziologie heute anknüpfen?

2.

Als erstes ist das grundsätzliche Verständnis der soziologischen Relevanz von „Stadt“ zu nennen. Die Stadtsoziologie – wie die Stadtforschung insgesamt – kann ihren Gegenstand nicht durch den Gegensatz von Stadt und Land bestimmen. Dies gilt aus dem einfachen Grund, weil dieser Gegensatz für alle soziologisch relevanten Fragen nicht mehr existiert und heute von einem Stadt-Land-Kontinuum auszugehen ist, das allenfalls durch ein Mehr oder Weniger gekennzeichnet ist, nicht aber durch irgendwelche Dichotomien. Räumliche Disparitäten im Sinne benachteiligter resp. privilegierter Lebenschancen aufgrund von Unterschieden der Arbeitsmärkte und der Ausstattung mit Infrastrukturen sind längst nicht mehr auf Stadt-Land-Unterschiede beschränkt, sondern liegen quer zu den Gebietstypen. Man denke nur an das Auseinanderfallen der Entwicklungsmuster von Großstädten oder an wachsende innerstädtische Disparitäten infolge der wachsenden sozioökonomischen Segregation und der Herausbildung von benachteiligten Quartieren.

Wenn es richtig ist, dass die Stadtsoziologie ihren Gegenstand somit nicht räumlich definieren kann, dann muss sie ihn „in seinen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang“ (487) stellen: „Verstädterung und städtische Strukturen zu untersuchen heißt, den gesellschaftlichen Prozeß als Einheit der dauernden Umwälzung ökonomischer, sozialer und räumlicher Strukturen zu untersuchen.“ (ebd.) Ambitionierter lassen sich die theoretischen Anforderungen an eine kritische Stadtsoziologie kaum formulieren, wird hier doch deutlich, dass sie nicht nur auf gesellschaftstheoretische Grundlagen angewiesen ist, sondern auch etwas von Ökonomie, Politik und nicht zuletzt von den Funktionen verstehen muss, die räumliche Arrangements für gesellschaftliche und ökonomische Prozesse spielen. Dieser theoretische Anspruch ist der Kern der Thesen zur Soziologie der Stadt, der Bestand hat und an dem festzuhalten sich lohnt. Häußermann und Siebel haben sich nicht auf eine Großtheorie festgelegt. Sie knüpfen zwar erkennbar an einen nicht-dogmatischen Marxismus an (siehe etwa Stadt als „Produktivkraft“), nennen allerdings als eine der wichtigsten Aufgaben der Stadtsoziologie – neben der Ideologiekritik und der Analyse der Stadtpolitik – die empirische Forschung über die Lebensverhältnisse „der verschiedenen Schichten der Lohnabhängigen“ (498). Kritische Stadtsoziologie wäre demnach nicht ausschließlich als Theorieprojekt zu denken. Sie ist so verstanden nicht nur den gesellschaftlichen Verhältnissen gegenüber kritisch, sondern auch skeptisch gegenüber Versuchen, die Welt – und sei es nur die der Städte – ausschließlich auf theoretischer Grundlage zu beschreiben und zu erklären.

Die Bedeutung empirischer Studien für das Verständnis städtischer Strukturen und Lebenschancen hervorzuheben ist die zweite – eher implizite – richtungsweisende These. Die Theorie kann uns sagen, wie und wohin wir schauen sollen. Wenn aber konkrete Lebensverhältnisse untersucht werden sollen, sind diese Fragestellungen nur durch empirische Untersuchungen sinnvoll zu beantworten.

Was lässt sich aus heutiger Sicht zur Kritik an der Stadtplanungssoziologie und an Bahrdts Theoretisierung der Großstadt – in Kurzfassung – sagen?

3.

Dass Häußermann und Siebel die Stadtplanungssoziologie als „Hilfswissenschaft der staatlichen Administration“ (485) kritisieren, ist angesichts der genannten Überlegungen nur folgerichtig. Es geht nicht um eine prinzipielle Verdammung von Auftragsforschung, sondern darum, Freiräume für Forschungsprojekte zu eröffnen, deren Fragestellungen und Gegenstände sich nicht den Informationsbedürfnissen staatlicher oder städtischer Institutionen fügen, sondern auf sozialwissenschaftlichem Erkenntnisinteresse basieren. In der Auftragsforschung und beim Engagement in der Praxis der Stadtpolitik waren die Autoren in den letzten Jahrzehnten selbst aktiv – Siebel etwa als Direktor der Internationalen Bauausstellung Emscher-Park, Häußermann beispielsweise in der Begleitforschung zum Programm „Soziale Stadt“. Es ist hier nicht der Ort, Überlegungen darüber anzustellen, wie diese Interventionen verlaufen sind. Mit den „Thesen zur Stadtsoziologie“ lässt sich aber festhalten, dass gerade Stadtforscher_innen, wenn sie den Schritt in die Praxis wagen, auf gesellschaftstheoretische Fundierungen angewiesen sind, die eine Grundlage bieten können für die Reflexion des eigenen Tuns, um zu vermeiden, dass sie sich in den Fallstricken einer Stadtplanungssoziologie verheddern.

Liest man aktuelle Studien, die sich kritisch mit dem Wandel des öffentlichen Raums befassen (Wehrheim 2009, um nur ein Beispiel zu nennen), so findet man vielfach Bezüge auf Hans-Paul Bahrdts Überlegungen zu Verhaltensweisen im öffentlichen Raum (auch von Siebel selbst, beispielsweise 2004). Die Kritik von Häußermann und Siebel an Hans-Paul Bahrdts (2006: 83f) Versuch einer soziologischen Definition von Stadt als Ort der Polarität von Privatheit und Öffentlichkeit ist deshalb aus heutiger Sicht überraschend. Einerseits ist die Kritik zwar angesichts der neo-marxistischen Ansätze der Autoren verständlich, andererseits aber irritierend, weil die Autoren offenbar das kritische Potenzial von Bahrdts Ausführungen nicht erkannt haben: Erstens schaffen die bürgerlichen Verhaltensstile, die Bahrdt tatsächlich zugrunde legt, Freiräume, innerhalb derer sich unterschiedliche – und eben auch vom Bürgerlichen abweichende – Lebensstile entfalten und nebeneinander existieren können. Das ist der Grund, weshalb sich Studien, die sich kritisch mit Überwachung und Ausgrenzung im öffentlichen Raum auseinandersetzen, auf Bahrdts Konzept von Urbanität beziehen. Zweitens haben Häußermann und Siebel völlig Recht, wenn sie anmerken, dass die von Bahrdt beschriebene Lebensform „[...] der Masse der abhängigen Lohnarbeiter in der Regel verwehrt ist“ (495). Aber daraus ließen sich ja auch Überlegungen darüber ableiten, wie es gelingen könnte, dass Urbanität nicht nur etwas ist für diejenigen, die sie sich aktuell schon leisten können, oder anders formuliert: wie eine gesellschaftlich Integration gelingen könnte, die auch denjenigen ein „Recht auf Stadt“ (Lefebvre 1996) ermöglicht, denen es bislang verwehrt war.

Autor_innen

Norbert Gestring, Stadtsoziologe, hat folgende Arbeitsschwerpunkte: Stadtentwicklung, Integration und Migration.

Kontakt: norbert.gestring@uni-oldenburg.de

Literatur

Bahrdt, Hans-Paul (2006 [1961]): Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Wiesbaden.

Bourdieu, Pierre (1998): Praktische Vernunft. Frankfurt a. M.

Häußermann, Hartmut / Kemper, Jan (2005): Die soziologische Theoretisierung der Stadt und die ‚New Urban Sociology‘. In: Berking Helmuth / Löw Martina (Hg.): Die Wirklichkeit der Städte. Soziale Welt, Sonderband 16. Baden Baden, 25–53.

Lefebvre, Henri (1998): Writings on Cities. Oxford, Malden, Victoria.

Siebel, Walter (2004): Einleitung: Die europäische Stadt. In: Walter Siebel (Hg.): Die europäische Stadt. Frankfurt a. M., 11–47.

Wehrheim, Jan (2009): Der Fremde und die Ordnung der Räume. Opladen, Farmington Hills.