Alte Thesen neu gelesen: Perspektiven kritischer Stadtforschung

Kommentar zu Hartmut Häußermann & Walter Siebels „Thesen zur Soziologie der Stadt“

Carsten Keller

Der Text „Thesen zur Soziologie der Stadt“ scheint mir besonders in den abschließend formulierten Perspektiven, die Hartmut Häußermann und Walter Siebel unter der Überschrift „Aufgaben einer kritischen Soziologie der Stadt“ formulieren, nach wie vor lesenswert und aktuell zu sein. Drei Perspektiven werden hier aufgezeigt: erstens eine Wissenschafts- und Ideologiekritik, zweitens eine empirisch orientierte Zustandsbeschreibung städtischer Strukturen und von Stadtentwicklung sowie drittens eine Analyse der staatlichen Stadtpolitik. Diese drei abschließenden Perspektiven möchte ich im Folgenden kommentieren. Es wird mithin keine immanente Auseinandersetzung mit dem gesamten Text und weiteren Arbeiten der beiden Autoren angestrebt. Es hätte mich zwar durchaus gereizt, die Entwicklung der Arbeiten von Häußermann und Siebel vor dem Hintergrund dieses frühen, emphatisch formulierten Textes zu reflektieren. Vielleicht auch wegen der persönlichen Bekanntschaft mit Häußermann, den ich als Projekt- und Dissertationsbetreuer an der Humboldt-Universität kennenlernte, erschien mir eine solche Zugangsweise zu den „Thesen“ durchaus naheliegend.

Im Jahr 1978 wechselte der 35-jährige Häußermann von der Universität Kassel, an der er gut zwei Jahre lehrte, an die Universität Bremen. Was ist dann in der Spanne bis hin zu seinem überraschenden Tod geschehen, der ihn nicht lange nach seiner Emeritierung in Berlin ereilte? Inwieweit konnte er dem in den „Thesen“ formulierten Programm gerecht werden? Warum hat er sich von den (neo-)marxistischen Begrifflichkeiten distanziert? Konnte er dem Anspruch entsprechen, der Auftragsforschung gegenüber stets kritisch zu sein, theoretische Perspektiven zu entwickeln und den Raum nicht als kausalen Faktor von Sozialem zu untersuchen? Beim Erwägen solcher Fragen wurde mir klar, dass eine solche Auseinandersetzung leicht drohte, von persönlichen Erfahrungen überfärbt zu werden, aber auch den anderen der beiden Autoren der „Thesen“ einfach zu übergehen. Deshalb suchte ich nach einer einfacher zu lösenden Variante: Lässt sich an die von Häußermann und Siebel geforderten drei Aufgaben einer kritischen Stadtforschung anknüpfen? Welche Bedeutung könnten diese heute haben? Wahrscheinlich immer noch eine Spur von persönlichen und nicht lange zurückliegenden Erfahrungen in Beschlag genommen, habe ich meinen Suchscheinwerfer jedenfalls so ausgerichtet, dass ich nach möglichen Kontinuitäten eher als nach Diskontinuitäten Ausschau gehalten habe.

1.) Mit der geforderten Wissenschafts- und Ideologiekritik sowohl gegenüber einer anwendungsorientierten wie einer universitären Stadtforschung wollen Häußermann und Siebel eine Stoßrichtung markieren, die sensibel ist für ein Dilemma, das ein zentrales Thema ihres gesamten Artikels darstellt. Den Autoren zufolge sieht die soziologische Stadtforschung sich folgendem Dilemma – oder besser vielleicht folgender Gefahr – gegenüber: Entweder sie macht sich in der Themenstellung und Diagnostik von einer anwendungsorientierten Auftragsforschung abhängig; auf diese Weise droht die Stadtforschung zu einer bloßen „Stadtplanungssoziologie“ zu werden, die als Werkzeug und Legitimationsbeschafferin der Politik dient. Oder sie bleibt autonom, jedoch abgekapselt – eingeschlossen in den berüchtigten Elfenbeinturm der Universität (die heute allerdings gar nicht mehr so edel und rein erscheint, wie es das Material Elfenbein einmal nahe gelegt hat). Als rein akademische Veranstaltung formuliert die Stadtforschung Theorien, die sich für drängende Probleme und Entwicklungen kaum interessieren. Sie atmet einen bourgeoisen Geist, wie Häußermann und Siebel ihn in den „Thesen“ bei Bahrdt (1961) identifizieren, oder sie verfehlt sogar ganz ihren Gegenstand, indem sie wie bei Wirth (1938) schon mit den Grundbegriffen physische und nicht soziale Phänomene beschreibt.

Das Dilemma zwischen bloßer Auftragsforschung und einer im schlechten Sinne akademischen Wissenschaft bzw. die Gefahr für die Stadtforschung, in diese zwei Pole zu zerfallen, besteht zweifellos auch 35 Jahre nach dem Erscheinen der „Thesen zur Soziologie der Stadt“ im Leviathan. Die Relektüre der „Thesen“ könnte deshalb dazu ermuntern, den Impetus der Kritik im Sinne einer Kritik an vorliegenden Ansätzen und Studien der interdisziplinären Stadtforschung wieder zu beleben. Um die Voraussetzungen dafür mag es heute zwar schlechter bestellt sein als damals, denn angesichts der Prekarität im Bereich der Wissenschaft ist es scheinbar nur jenen wenigen Erlesenen vorbehalten, sich kritisch aus dem Fenster zu lehnen, die eine feste Stelle haben. Zugleich trägt aber der Glaube, dass man erst mit der Kritik beginnen kann, wenn man auf dem langen Weg von Disziplin und Anpassung schließlich auf einer festen Stelle ankommt, wesentlich zum Austrocknen kritischer Diskurse bei, welche die Wissenschaft doch eigentlich erst interessant machen.

Allerdings schrecken bei dem Wort „Ideologiekritik“ wohl nicht zu Unrecht auch einige zusammen. Man assoziiert etwa den mahnenden Duktus und die durchdringende Sprachartikulation eines Theodor W. Adorno, der mit säuregetränkten Polemiken mehreren wissenschaftlichen Ansätzen ebenso wie kulturellen Trends seiner Zeit scheinbar das intellektuelle Existenzrecht absprach, indem er sie als „Ideologien“ dechiffrierte. So wünschenswert einerseits die Belebung kritischer Auseinandersetzungen ist, so birgt sie gewiss auch die Gefahr von unproduktiven Distinktionskämpfen. So könnten bestimmte Parteien primär als narzisstisch wahrgenommen werden, wenn sie andere Positionen als ideologisch oder unwahr deklarieren, und andere in Reaktion darauf sich nur noch weiter in ihr „Geschäft“ zurückziehen – sei es in die Auftragsforschung oder den Elfenbeinturm. Ein nicht lange zurückliegendes Beispiel für wenig produktive Ideologiekritik hat in der Stadtforschung das von Wacquant initiierte Review Symposium geliefert, das im Jahr 2002 im „American Journal for Sociology“ abgedruckt wurde. Zwar durchaus im Geist einer kritischen Auseinandersetzung hat Wacquant (2002) aber derart vernichtende Urteile über die von ihm rezensierten Studien von Anderson (1999), Duneier (1999) und Newman (1999) zu benachteiligten Wohnquartieren in den Vereinigten Staaten verfasst, dass am Ende deutlich mehr Porzellan zerschlagen wurde als kritische Perspektiven gewonnen waren.[1] Es ist sicherlich schwierig, verbindliche Regeln zu formulieren, ab wann Wissenschafts- und Ideologiekritik in unproduktive Distinktionskämpfe abgleitet. Eine Relektüre jenes Review Symposiums mag einige Anhaltspunkte dafür geben. So versuchen etwa Anderson (2002) und Newman (2002) in ihren Entgegnungen auf Wacquants Vorwurf, mit ihren Studien dem neoliberalen Staatsregime zuzuarbeiten, die dahinter stehende Haltung politisch und in ihren Konsequenzen für empirische Forschung zu dechiffrieren.

2.) An die Art der Zustandsbeschreibung städtischer Strukturen und Entwicklungen, die Häußermann und Siebel als zweite Aufgabe einer kritischen Stadtforschung fordern, lässt sich heute ebenfalls gut anknüpfen. Die in dem Text verwendeten, später von den Autoren abgelegten (neo-)marxistischen Begrifflichkeiten, mit denen sie diese Aufgabe präzisieren, sollten nicht zu Irritationen darüber veranlassen, dass sie über eine für soziale Ungleichheiten und die Lebensbedingungen unterschiedlicher sozialer Schichten sensible Stadtforschung sprechen. Zwar sind die Themen der sozialen Segregation, der Suburbanisierung versus Gentrifizierung, der städtischen und regionalen Milieubildung, Lebensweisen und sozialen Konflikte durchaus auch heute auf der Agenda der Stadtforschung gut vertreten. Allerdings stellen Studien, die dazu solide empirische Ergebnisse produzieren, leider – und im Moment eher zunehmend – Mangelware dar. Die damit einhergehende Abhängigkeit der Forschung von amtlichen Statistiken und Daten befestigt ein Machtgefälle zwischen politischen und wissenschaftlichen Akteuren, in dem die letzteren nur in Ausnahmefällen eine Deutungshoheit erlangen. Außerdem erlauben die amtlichen Daten in der Regel nicht annähernd, soziologischen Definitionen wie beispielsweise von einem Wohnquartier und seinen Grenzen empirisch gerecht zu werden.

Aber nicht nur zwecks einer größeren Deutungshoheit stellt eine empirisch fundierte, an Ungleichheiten, Macht und Lebensweisen interessierte Stadt- und Regionalforschung nach wie vor eine wichtige Aufgabe dar. Auch im Sinne eines wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts ist es unerlässlich, den Stand der Produktivkräfte, der sich u. a. in den technischen Möglichkeiten spiegelt, in die Forschungen eingehen zu lassen. Zwar werden sehr interessante Diagnosen zur Entwicklung von Städten in Deutschland formuliert und diskutiert, wie beispielsweise die These einer „inneren Suburbanisierung“ durch die Mittelschichten im Rahmen der sogenannten Renaissance der Städte (Frank 2011). Allerdings müssen soziologische Diagnosen auch präzise und ausreichend empirisch fundiert werden, um nicht später als singulärer Fall einfach wieder zu verpuffen.

Denkt man beispielsweise an die seit langem so zentrale Diagnose einer sozialen Polarisierung und wachsenden Segregation in deutschen Städten, so steht diese noch heute auf eher wackligen Füßen, wenn man die empirischen Studien dazu gegeneinanderhält. In einer der umfangreichsten Studien zu dem Thema werten Friedrichs und Triemer (2009) amtliche Daten zu Transferempfänger_innen und Nicht-Deutschen in 15 Großstädten aus, um zu dem auch international oft diagnostizierten Ergebnis zu gelangen, dass die soziale Segregation in den Städten zu-, die ethnische Segregation dagegen tendenziell abnimmt. So wertvoll und wichtig diese Studie ist, so lassen sich dennoch Fragezeichen anbringen, was die Stichhaltigkeit der Diagnose betrifft. Fragen ließe sich beispielsweise, ob wirklich „die ethnische Segregation“ in deutschen Städten abnimmt, nur weil sich „Nicht-Deutsche“ entlang der statistischen Gebietseinheiten auf gesamtstädtischer Ebene desegregieren. Die Suburbanisierung, die mittlerweile von sozial aufgestiegenen Teilen und Kindern der Gastarbeiter-Zuwanderer nachgeholt wird, erscheint z. B. statistisch als Desegregation auf der Ebene der Gesamtstadt, da zugleich die Migrant_innen in den Innenstädten verbleiben, die sich die Randwanderung nicht leisten können. Diese sozial-räumliche Ausdifferenzierung führt aber de facto zu einer schärferen Separation sozial etablierter und marginalisierter Migrant_innen in der Stadt. Wie stark ist nun dieser Prozess für die bei Friedrichs und Triemer gemessene ethnische Desegregation in Städten verantwortlich, und wie treffgenau wäre es, diesen Prozess als eine abnehmende ethnische Segregation zu bezeichnen?

Es sollte betont werden, dass das Plädoyer für eine empirische, ungleichheits- und machtsensible Analyse von Stadt bei Häußermann und Siebel nicht als ein Plädoyer für die Vernachlässigung von Theorie gemeint ist. Im Gegenteil schreiben sie: „Eine Soziologie der Stadt heute hätte anzuknüpfen an den gesellschaftstheoretischen Ansätzen, die den Zusammenhängen zwischen politischen, ökonomischen, sozialen und räumlichen Entwicklungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene mit denen auf lokaler Ebene nachgehen.“ (485) Mit anderen Worten sollte die empirische Analyse von Stadt und Raum theoretisch informiert sein über die gesamtgesellschaftlichen Verflechtungen auf der lokalen Ebene. Spiegelt sich beispielsweise im gegenwärtigen Anstieg der Wohnungsmieten in den Städten ein Versäumnis der politischen Regulation, wie Oppositionspolitiker in Deutschland vor kurzem behaupteten? Oder stellt dieser Anstieg eine immanente Folge des wirtschaftlichen Strukturwandels hin zur Dienstleistungsgesellschaft dar? Oder sind der Mietenanstieg und der parallele Wandel der Wohneigentumsstrukturen Ausdruck eines Klassenkampfes von oben – ausgefochten von dem „Pseudosubjekt“ des international agierenden Immobilienkapitals?

3.) Diese Fragen leiten über zum letzten Punkt des Textes, nämlich der von den Autoren geforderten Analyse staatlicher Stadtpolitik als einem zentralen Element der Stadtforschung. Diese Aufgabe wirkt vielleicht schon vor dem Hintergrund einer ganz selektiven Liste von Forschungsdesideraten plausibel, die staatlich moderierte Stadt- und Regionalentwicklung betreffen: Welche Studien beschäftigen sich heute mit der Entwicklung und politischen Umsetzung des sozialen Wohnungsbaus, der doch die sozialräumliche Segregation in den Städten maßgeblich moderiert? Seit Jahrzehnten werden in Deutschland quasi die gleichen Zahlen eines Rückgangs und Diagnosen einer Deregulierung zitiert, ohne dass das Thema eingehend weiterverfolgt würde. Dabei müssten einmal die Auswirkungen des im Jahr 2002 auf Bundesebene verabschiedeten Gesetzes zur Wohnraumförderung untersucht werden, das die neoliberale Sozialstaatslogik der Förderung ausschließlich „Bedürftiger“ festschreibt. Ein damit verwandtes Desiderat markieren die Tendenzen der Privatisierung kommunaler Wohnungs-, Grundstücks- und Infrastrukturbestände sowie die Entstehung neuer Eigentümer- und Verwaltungsstrukturen. In welchem Ausmaß sind in Großstädten Wohnungsbestände mittlerweile in die Hand von internationalen Eigentümerfonds gewandert? Als Geldanlage für anonyme Anleger_innen delegieren die Fonds ihre Weisungsbefugnisse an Immobilienverwalter_innen, die in den betroffenen Häusern profitorientierte Strategien mit teilweise mafiösen Methoden umsetzen. Ein etwas besser erforschtes Thema stellt die staatliche Förderung der sogenannten Kreativwirtschaft in den Städten dar. Hier wäre aber zu fragen, in welchem Ausmaß dabei Umverteilungs- zugunsten von Angebotspolitiken umgeschichtet werden. Last but not least: Welches Gesicht nimmt die Ausgestaltung von Kontroll- und Überwachungspolitiken in (unterschiedlichen) Städten an, gerade vor dem Hintergrund sich revitalisierender Konflikte und Proteste?

Die drei Forderungen einer Wissenschafts- und Ideologiekritik, einer empirisch orientierten Analyse von Stadtentwicklung und staatlicher Stadtpolitik klingen auch heute ausgesprochen plausibel. Sie beschreiben Perspektiven, die die Stadtforschung unabhängiger und zugleich politisch relevanter machen würden in einem Augenblick, in dem die kapitalistische und neokonservative Landnahme der Städte und die Vernichtung alternativer Lebensräume einen markanten weiteren Schub erfahren. Nicht nur für politische Profis, sondern auch für soziale Bewegungen sollte eine kritische Stadtforschung Orientierungspunkte liefern, die einzig und allein in der Lage sind, Visionen einer gerechteren, liberaleren und vielfältigeren Stadt maßgeblich umzusetzen.

Endnoten

Autor_innen

Carsten Keller ist Soziologe und forscht zur Migrations- und Ungleichheitsforschung, Interkulturelle Bildung, Stadt- und Regionalsoziologie

Kontakt: carsten.keller@uni-due.de

Literatur

Anderson, Elijah (1999): Code of the Street: Decency, Violence, and the Moral Life of the Inner City. New York.

Anderson, Elijah (2002): The Ideologically Driven Critique. In: American Journal of Sociology 107/6, 1533–1550.

Bahrdt, Hans-Paul (1961): Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Reinbek bei Hamburg.

Duneier, Mitchell (1999): Sidewalk. New York.

Frank, Susanne (2011): Je näher man hinschaut, desto fremder schaut es zurück. Aktuelle Diskussionen um Suburbanisierung und Gentrifizierung. In: Heike Herrmann et al. (Hg.): Die Besonderheit des Städtischen. Wiesbaden, 285–300.

Friedrichs, Jürgen / Triemer, Sascha (2009): Gespaltene Städte? Soziale und ethnische Segregation in deutschen Großstädten. Wiesbaden.

Newman, Katherine S. (1999): No shame in my game: The working poor in the inner city. New York.

Newman, Katherine (2002): No Shame: The View from the Left Bank. American Journal of Sociology 107/6, 1577–1599.

Wacquant, Loïc (2002): Scrutinizing the Street: Poverty, Morality, and the Pitfalls of Urban Ethnography. In: American Journal of Sociology 107/6, 1468–1532.

Wirth, Louis (1938): Urbanism as a Way of Life. In: American Journal of Sociology 44, 1–24.