Der Refugee District in Belgrad

Ein Raum der Nicht-Bewegung zwischen neoliberaler Stadtentwicklung, serbischem Migrationsmanagement und EU-Grenzregime

Cosima Zita Seichter, Miriam Neßler, Paul Knopf

Die Europäische Union schließt sukzessive und gezielt ihre Grenzen für Menschen auf der Flucht, anstatt sich mit den Ursachen dieser Flucht auseinanderzusetzen. Diese Politik wird insbesondere an den EU-Außengrenzen sichtbar. Sie ist verräumlicht im Meer, entlang der Landgrenzen, Eisenbahnlinien und Autobahnen – aber auch in den Städten. Die serbische Hauptstadt Belgrad hat sich insbesondere seit den größeren Fluchtbewegungen 2014/2015 zu einem der wichtigsten Transitpunkte auf der sogenannten Balkanroute entwickelt (Beznec/Speer/Mitrović 2016). In Serbien befinden sich Flüchtende in einer ausweglosen Situation des Wartens auf eine unbestimmte Weiterreise in die EU. Das Viertel Savamala im Zentrum Belgrads hat sich dabei als ein Knotenpunkt für den illegalisierten Transit Richtung EU herausgebildet. Den Versuch, die Grenze zum Schengenraum zu überqueren, nennen die Flüchtenden sarkastisch das game. Als hub für dieses game erlangte das Viertel 2014/2015 den Namen Refugee District. Diesen trägt es bis heute – nicht nur aufgrund der Flüchtenden, die sich noch immer dort aufhalten, sondern auch wegen der dort etablierten Fluchtinfrastruktur.

In diesem Beitrag wollen wir den Refugee District in Belgrad in den Blick nehmen und davon ausgehend ein differenziertes Bild von Migrationen im Kontext internationaler, nationaler und lokaler Migrations- und Stadtpolitiken zeichnen. Dabei gehen wir folgenden Fragen nach: Weshalb hat sich der Refugee District in Belgrad herausgebildet? Wie ist Flucht im Refugee District präsent? Welche Mechanismen von Verdrängung und Prekarisierung bestehen im Refugee District? Welche widerständigen Praktiken lassen sich hier beobachten?

Bei Aufenthalten in Belgrad im Dezember 2017[1] und Oktober 2019 führten wir Interviews mit Schlüsselakteur*innen (Mitarbeiter*innen von Nichtregierungsorganisationen (NGO) wie Infopark, Wissenschaftler*innen und einem Regierungsmitarbeiter) sowie Gespräche mit Passant*innen. Wir machten Raumbeobachtungen, erstellten Kartierungen und setzten künstlerisch-interventionistische Methoden ein. Es wurde deutlich, dass der Refugee District Teil eines komplexen Machtgefüges zwischen einer neoliberalen Belgrader Stadtpolitik, einem ambivalenten serbischen Migrationsmanagement sowie einer auf Abschottung setzenden EU ist. Gleichzeitig konstituiert der Ort in seiner Bedeutung und Nutzung als hub für Migrationen eine soziale Nicht-Bewegung (Bayat 2012) von Flüchtenden. Als diese fordern Flüchtende kollektiv – wenn auch nicht kollektiv organisiert – ihr Recht auf globale Bewegungsfreiheit ein.

1. Der Refugee District als hub auf dem Weg in die EU

„Everybody goes through Belgrade“[2], berichtete uns Danica Šantić, Geografin an der Universität Belgrad. Fluchtbewegungen aus Afrika und dem Nahen Osten führten in den letzten Jahren Menschen in die Türkei und weiter nach Europa (WBGU 2016: 49). Meist aus der Türkei und aus Griechenland kommen Flüchtende auf den Balkan, um in EU-Länder wie Kroatien oder Ungarn zu gelangen. Serbien liegt dabei als Transitland auf der sogenannten Balkanroute zwischen den Herkunftsländern und den Zielländern der Flüchtenden.

Die Lage vor den EU-Außengrenzen wird geopolitisch bedeutsam für die transnationalen und nationalen Migrationspolitiken, da die EU verstärkt versucht Einfluss auf die Migrationsprozesse auf dem Balkan zu nehmen. Dies geschieht durch Frontex-Kooperationen mit Staaten wie Albanien, durch den Ausbau von Grenzanlagen und illegale Pushbacks aus EU-Ländern, aber auch durch die direkte Einflussnahme auf Migrationspolitiken im Kontext von EU-Beitrittsverhandlungen. Auch Serbien kann sich der machtvollen Position der EU nur bedingt entziehen und richtet seine Migrationspolitik entsprechend dem Versicherheitlichungsdiskurs der EU aus, nachdem das Thema Migration vermehrt in einen Zusammenhang mit Sicherheit gebracht, als Risiko für diese ausgemacht wird und zu restriktiveren Grenzmaßnahmen führt (Leese 2020). Serbiens Interesse, sich als organisierter Staat zu präsentieren, der die Migrationsbewegungen unter Kontrolle behält (Beznec/Speer/Mitrović 2016: 47), kann somit im Zusammenhang mit Serbiens angestrebtem EU-Beitritt gelesen werden. Zugleich gilt Serbiens Umgang mit Flüchtenden im Vergleich zu dem anderer Länder des Balkans oder anderer an die EU angrenzenden Staaten als verhältnismäßig „refugee-friendly“ (Bobić/Šantić 2019: 9). Die von Krieg geprägte jüngere Vergangenheit des Landes und die eigene Fluchterfahrung vieler heute in Serbien lebender Menschen können Gründe dafür darstellen (Bopp/Zimmermann 2019: 112 f.). Gespräche mit Flüchtenden sowie die vergleichsweise geringen Zahlen von Pushbacks durch serbische Grenzinstitutionen (Border Violence Monitoring Network 2019) bestätigen diesen Eindruck.

Vor diesem Hintergrund hat sich ein serbisches Migrationsmanagement entwickelt, das sowohl den Interessen der EU als auch nationalen Interessen gerecht werden möchte: Serbien versucht, den Flüchtenden Aufenthaltsmöglichkeiten zu bieten und die Verhältnisse in den Unterkünften zu verbessern (finanziert durch die EU). Gleichzeitig zielt das Land innenpolitisch darauf ab, dem Narrativ des Transitlandes gerecht zu werden, womit den Menschen wirkliche Bleibeperspektiven versagt werden. Im Zentrum des Migrationsmanagements steht ein stark reglementiertes Unterbringungssystem von knapp 20 Aufnahme- und Asylzentren fernab städtischer Infrastruktur (UNHCR 2020). Aufgrund der restriktiven und zum Teil undurchsichtigen Regelung der Einwanderung in den Schengenraum gibt es sehr lange Wartezeiten für die reguläre Einreise in die EU. So wird beispielsweise nur etwa fünf bis zehn Menschen pro Woche die Einreise aus Serbien nach Ungarn erlaubt. Die Wartedauer und die Vulnerabilität einer Person bestimmen hauptsächlich ihre Chance auf eine reguläre Weiterreise. Dennoch gibt es „andere entscheidende Faktoren für die Einreise, die nicht so klar sind und diese fehlende Klarheit frustriert diejenigen, die warten, zusätzlich“ (Hungarian Helsinki Committee 2020). Sofern es ihr gesundheitlicher und finanzieller Zustand zulässt, stehen Flüchtende in Serbien vor der Entscheidung, entweder auf unbestimmte Zeit in den Unterkünften, oft fernab von Städten, auf eine staatlich regulierte Einreise in die EU zu warten oder eine illegalisierte Flucht zu versuchen.

In dieser Situation bildete sich der Refugee District als hub der Balkanroute heraus: In der Hoffnung auf einen schnelleren und im Vergleich zu anderen Transitländern der Balkanroute weniger gewaltvollen Weg entschieden und entscheiden sich viele Flüchtende für Serbien. Der Refugee District liegt im Belgrader Stadtzentrum in direkter Nähe des Busbahnhofs und des (ehemaligen) Bahnhofs. Er ist gut erreichbar und verfügt über die typischerweise auf Reisen nachgefragten Dienstleistungen und Geschäfte (insbesondere Apotheken, Wechselstuben, Bäckereien, Imbisse und Hostels), die auch auf der Flucht unerlässlich sind. Zudem liegen in der näheren Umgebung zwei öffentliche Parks bzw. Plätze. Dort hält sich eine wechselnde, aber beständig große Anzahl von Flüchtenden auf. Zeitweise zelteten hier mehrere hundert Menschen, vor allem aus Afghanistan. Bewohner*innen Belgrads aber auch Flüchtende, NGOs und Medien bezeichnen die Parks daher informell als Afghan Parks.

Der Belgrader Refugee District nimmt innerhalb der Migrationsrouten über den Balkan eine besondere Rolle ein. Er hat sich zu einem wichtigen Ankunfts-, Aufenthalts- und Abreiseort entwickelt sowie zu einem Dreh- und Angelpunkt von Fluchtbewegungen über die Balkanroute nach Mittel-, West- und Nordeuropa.

2. Raumnahme: Herausbildung und Nutzung des Refugee Districts

Im Refugee District konnten wir zahlreiche Praktiken beobachten, die in direktem Zusammenhang mit der Ankunft von Flüchtenden in Serbien und ihrer Organisation des games stehen. Hier – obwohl noch ca. 200 Kilometer von der EU-Grenze entfernt – wurden der Grenzübertritt und seine Konditionen sichtbar.

Das Viertel dient der Vernetzung mit anderen Flüchtenden und Fluchthelfenden. Treffen finden in einem der beiden Afghan Parks oder in einem der zahlreichen Cafés und Imbisse in der Innenstadt statt. Flüchtende kaufen im Refugee District Nahrung und Ausrüstung. Hier finden sie Angebote für medizinische Versorgung. Diese nehmen sie insbesondere bei einem erfolglosen game in Anspruch, meist nach einem gewaltvollen Pushback durch kroatische, ungarische oder rumänische Grenzbeamt*innen. Vor allem aber dient der Refugee District dem kollektiven Warten. Wie in anderen Bahnhofsvierteln kommen auch hier Geschäftigkeit und längerer Aufenthalt zusammen. Bis zum Frühjahr 2017 dienten alte Lagerhallen auf dem Gelände des Bahnhofs zeitweise bis zu tausend Flüchtenden als barackenartige Unterkunft. Die Bedingungen waren prekär und menschenunwürdig, aber zugleich selbstorganisiert. Diese Zustände beförderten wesentlich die Herausbildung des Refugee Districts. Gleichzeitig erregten sie ein breites mediales Interesse, was zu internationalem Aufsehen führte. Serbien reagierte mit staatlicher Kontrolle auf dem Gelände des Bahnhofs, räumte die Lagerhallen und verdrängte Flüchtende unter dem Vorwand der humanitären Hilfe. Wenig später wurden die (sogenannten) Barracken abgerissen. Daraufhin kam es zu einer Dezentralisierung informeller Unterkünfte. Neben der Unterbringung innerhalb des staatlichen Unterbringungssystems wurden bei unserem letzten Aufenthalt vor allem Parks und leerstehende Häuser zu Aufenthalts- und Schlaforten für Flüchtende. Viele Menschen nutzten trotz Verbotsschildern öffentliche Rasenflächen und saßen auf den vorhandenen Bänken, einige nutzten diese auch zum Beten. Ein Brunnen wurde für rituelle Waschungen genutzt, aber auch um Wasserflaschen aufzufüllen. Die Präsenz von Rucksäcken und Schlafsäcken war einerseits Zeichen für das Schlafen an informellen Orten und deutete andererseits auf das bevorstehende game hin, wofür sich die Menschen meist in Gruppen auf den Weg zur Grenze machen würden. Für viele alteingesessene Belgrader*innen ist der Anblick von Flüchtenden mittlerweile zum Normalzustand geworden. Diese Normalisierung sowie die zahlreichen Nutzungen des öffentlichen Raums zeugen von einer wirksamen Raumnahme im Zentrum Belgrads.

Dabei ist es nicht nur die Sichtbarkeit von Flüchtenden, die den Refugee District ausmacht. Flüchtende und ihre Bedürfnisse haben sich räumlich und sozial in ihn eingeschrieben. In den Straßen des Viertels entstand eine spezifische gewerbliche und soziale Infrastruktur. Geschäfte werben auf Englisch, Französisch, Arabisch, Pashtu und Farsi. Sie haben sich auf den Verkauf von SIM-Karten, Geldwechsel und -versand spezialisiert sowie auf ein vielfältiges Angebot von Gegenständen des täglichen Bedarfs, aber auch des „Fluchtbedarfs“ (wie u. a. Rucksäcke, Schlafsäcke, Powerbanks, robuste (Tarn-)Kleidung). Nicht-staatliche lokale und internationale Hilfsorganisationen sowie eine staatliche Hilfsorganisation bieten Informationen über das serbische Asyl- und Migrationssystem, Rechtsberatung, Gesundheitsversorgung, Aufenthaltsmöglichkeiten und Bildungsangebote an (Seichter/Neßler/Knopf 2020). Das Ergebnis ist eine räumliche und soziale Situation, die wir in Anlehnung an „Arrival Infrastructures“ (Meeus/Arnaut/van Heur 2019) als Fluchtinfrastruktur bezeichnen – doch diese Infrastruktur ist umkämpft.

3. Verdrängung: Unsichtbarmachung und Prekarisierung von Flucht in der Stadt

Der Refugee District ist ein Kristallisationspunkt internationaler, nationaler und lokaler Migrations- und Stadtpolitiken. Durch die Beeinflussung und Verdrängung der räumlichen und sozialen Fluchtinfrastruktur wird Migration jedoch zunehmend erschwert.

Dabei ist der Einfluss internationaler Organisationen und EU-Mitgliedsstaaten im Refugee District auf eine Weise omnipräsent, die paradox erscheinen mag: Eine Vielzahl der von den Flüchtenden genutzten Einrichtungen der Fluchtinfrastruktur werden durch EU-Gelder finanziert. Plakate von #rumoursaboutgermany, einer Kampagne des Auswärtigen Amtes, sowie von EU-finanzierten Rückkehrer*innenprogrammen der International Organisation of Migration (IOM) zeugen von den Versuchen, Flüchtende zur Rückkehr zu überreden. Sie machen die Intention der Finanzierung deutlich: Flucht zu verhindern. Laut einer NGO, die im Viertel tätig ist, gab es im Zeitraum unseres letzten Besuches im Herbst 2019 kaum noch eine Beratung für Flüchtende, die unabhängig von internationalen und nationalen Interessen war.

Auch die Entwicklung des serbischen Migrationsmanagements zielt zunehmend auf Kontrolle und Regularisierung der Migration ab: Die Arbeit von NGO wurde sukzessive eingeschränkt. Unterstützung ist offiziell nur noch in Innenräumen gestattet und nur für Menschen, die sich in Serbien registrieren lassen. Das verringert die Sichtbarkeit der NGO im öffentlichen Raum und damit ihre Zugänglichkeit. Refugee Aid Miksalište, eine zentrale NGO, die gleichzeitig als Informations- und Aufenthaltsort fungierte, wurde sogar von der serbischen Regierung übernommen. Diese hat inzwischen die Bedeutung des Viertels als hub erkannt. Durch diese Übernahme ist die serbische Regierung in Form des Commissariat for Refugees and Migration erstmals physisch im Refugee District präsent. Dies ermöglicht eine bessere Kontrolle, etwa der Verteilung auf die Unterkünfte, aber auch der übriggebliebenen Akteur*innen (wie NGO) sowie der Flüchtenden selbst. Bei uns verfestigte sich der Eindruck – auch nach unserem Besuch einer Unterkunft in der unweit von Belgrad gelegenen Kleinstadt Obrenovac –, dass Flüchtende im Refugee District zum Spielball internationaler Politiken werden: Einerseits wird ihr Aufenthalt in Serbien zunehmend durch das serbische Migrationsmanagement reguliert, andererseits ist die zeitliche Eingrenzung ihres Aufenthalt für Serbien notwendig, um dessen Position als Transitland (und das dazugehörige innenpolitische Narrativ) aufrechtzuerhalten. Dadurch entsteht eine zunehmend prekäre Situation: Viele Flüchtende lehnen aufgrund der geringen Aussichten auf eine reguläre Einreise in die EU eine Unterbringung in den offiziellen Unterkünften ab.

Außerdem ist Belgrad nicht nur hinsichtlich der Migrationsbewegungen gen Europa ein umkämpfter Raum. Wie viele andere Städte weltweit ist auch Belgrad in hegemonial kapitalistische globale Prozesse eingebunden, die den urbanen Raum als Kapitalanlage für krisenhafte Verwertungsprozesse nutzbar machen. So ist die Belgrader Stadtentwicklung von Logiken der „unternehmerischen Stadt“ (Schipper 2018; Heeg/Rosol 2007: 492 f.) geprägt. Der Refugee District ist ein Austragungsort dieser Logiken. Denn auf dem ehemaligen Bahnhofsgelände, am Ufer des Flusses Save und in den Gebieten rund um die Afghan Parks entsteht derzeit das Stadterneuerungsprojekt Belgrade Waterfront. 2014 wurde es von der serbischen Regierung gemeinsam mit der in den Vereinigten Arabischen Emiraten ansässigen privaten Immobilienanlagegesellschaft Eagle Hills initiiert. Seitdem schreitet dessen Entwicklung rasant voran, diese wird jedoch auch von Protesten begleitet (vgl. Ne da(vi)mo Beograd – Don’t let Belgrade d(r)own Initiative 2018). Brokow-Loga et al. (2019) zufolge betreibt Belgrade Waterfront auf drei Ebenen Verdrängung: Erstens werden auf der räumlichen Ebene Orte der Flüchtenden beseitigt, insbesondere solche, die dem Schlafen und dem Aufenthalt dienten, wie die Barracken. Zweitens erfolgt eine gesellschaftliche Verdrängung der Flüchtenden selbst sowie ihrer Art der informellen Selbstorganisierung. Drittens vollzieht sich eine Verdrängung auf diskursiver Ebene – vom Refugee District als Ort sozialer Prekarität und Informalität zu Belgrade Waterfront, einem Hochglanz-Stadtentwicklungsprojekt, das zur kapitalorientierten Aufwertung der Stadt beiträgt, reicht die Diskursverschiebung. Ziel ist es, dem Bild einer sauberen, geordneten und für das globale Kapital attraktiven (Innen-)Stadt näher zu kommen.

Der Refugee District ist somit Ziel und Schauplatz von Politiken geworden, die auf die Unsichtbarmachung und Verdrängung von Flüchtenden hinwirken. Dies führt zu einer zunehmenden Prekarisierung und Individualisierung von Flüchtenden.

4. Bewegung in der Nicht-Bewegung?

Aller Abschottungs- und Verdrängungstendenzen zum Trotz existiert der Refugee District nun schon über fünf Jahre. Er zeugt damit sowohl lokal als auch international von einer wirkmächtigen Raumnahme. Entgegen internationalen und nationalen Politiken der Einschränkung und Kontrolle materialisieren sich im Refugee District widerständige acts of citizenship (Isin/Nielsen 2008) von Flüchtenden, die kontinuierlich ihr Recht auf Bewegungsfreiheit einfordern und ausüben. Durch ihre Präsenz im öffentlichen Raum Belgrads und auch durch das – mitunter erfolgreiche – game konstituieren Flüchtende eine soziale Nicht-Bewegung (Bayat 2012) für internationale Bewegungsfreiheit. Dabei handeln sie kollektiv, ohne kollektiv organisiert zu sein. In einer „Logik der Praxis“ (ebd.: 38) formen sie durch ihre Alltagspraktiken den städtischen Raum.

Abb. 1 Im Refugee District vor dem Stadtentwicklungsprojekt Belgrade Waterfront (Zeichnung von Paul Knopf, 2019)
Abb. 1 Im Refugee District vor dem Stadtentwicklungsprojekt Belgrade Waterfront (Zeichnung von Paul Knopf, 2019)

Einen Höhepunkt erreichte diese Nicht-Bewegung von Menschen auf der Balkanroute mit der Einführung des sogenannten „formalisierten Korridors“ (Beznec/Speer/Mitrović 2016: 36): Als Reaktion auf Tausende von Menschen, die durch Serbien reisen wollten, führte Serbien ein 72-Stunden-Visum ein, das als eine Art Transitvisum fungierte. Andere Balkanländer implementierten ähnliche Regularien, die Flüchtenden eine legale und zügige Durchquerung des Balkans sowie die Einreise in einen EU-Staat ermöglichten. Dem daraus resultierenden Druck konnten auch Österreich und Deutschland nicht standhalten und erklärten ihre Grenzen als geöffnet (Kasparek 2016: 5). Auf diesen „langen Sommer der Migration“ (ebd.) folgten ab November 2015 Einreisebeschränkungen und Grenzschließungen. Im März 2016 wurde der „formalisierte Korridor“ wieder aufgehoben (Beznec et al. 2016: 49). „Rückblickend und im derzeitigen Kontext des ‚Festsitzens‘ mag der Korridor geradezu als ein Fenster der Freiheit erscheinen.“ (Santer/Wriedt 2017: 148 f.) Auch wenn die Zahl der Flüchtenden aufgrund des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei zunächst erheblich sank, steigt sie seit 2018 wieder. Die Balkanroute existiert dabei weiterhin, jedoch inzwischen als „invisible route“ (Hameršak et al. 2020), die sich an die jeweilige Situation an den Grenzen anpasst. Sie ist geprägt von Grenzaufrüstungen, illegalen Pushbacks aus EU-Ländern, neuen Wegen und „zirkulärem Transit mit vielen Schleifen, zu denen Fort- und Rückschritte gehören“ (ebd.). Belgrad ist dabei weiterhin ein wichtiger hub – ob auf der direkten Weiterreise in die EU (aktuell verstärkt über Bosnien und Herzegowina) oder unter (temporärer) Inanspruchnahme der Unterbringung durch das serbische Migrationsmanagement.

Dabei suchen und finden Flüchtende im Belgrader Refugee District trotz aller Kontrollen und Abrisse neue Wege der Organisierung und des Aufenthalts. Aufgrund der in naher Zukunft geplanten Erneuerung im Zuge von Belgrade Waterfront werden die öffentlichen Parks und Flächen, die Flüchtende nutzen, nicht mehr gepflegt. Das Bahnhofsgelände glich bei unserem letzten Aufenthalt einer Wüste aus Bauschutt, Ruinen der ehemaligen Barracken, Abfällen und verwildertem Grün. Dadurch bot der vernachlässigte öffentliche Raum in der Gegend um den Bahnhof neue, aber weiterhin prekäre Möglichkeitsräume und Nischen. So entstanden in Gebäuderesten und aus Baustellenmaterialen neue temporäre Unterschlüpfe auf dem Gelände, das später ohnehin Teil der offiziellen Umgestaltungsmaßnahmen werden soll. Flüchtende eignen sich diese Räume an. Ohne die Prekarität romantisieren zu wollen, zeugt diese Aneignung in besonderem Maße von ihrem Willen und ihrer Notwendigkeit zur Migration.

Gleichzeitig multiplizieren sich die Migrationsbewegungen aufgrund der anhaltenden Abschottung der EU-Außengrenzen. Migrationen müssen zunehmend unsichtbarer werden, um erfolgreich zu sein: „Die Topografie hat sich gewandelt, von einem geradlinigen Verlauf hin zu einem Netzwerk aus hubs, Unterkünften und Sozialisierungspunkten. In dieser Landschaft bleiben einige Bewegungen noch unsichtbar – unerkannt von Akteur*innen, die Migration unterstützen, eindämmen und sogar verhindern wollen.“ (Hameršak et al. 2020) Diese Unsichtbarmachung kann dementsprechend nicht nur als Prozess der Verdrängung, sondern auch als Unsichtbarwerdung, als Teil der Praktiken der Nicht-Bewegung interpretiert werden. Flüchtende sind aus dieser Perspektive nicht nur Objekte von Verdrängungs- und Abschottungspolitiken, sondern agieren als Subjekte der Nicht-Bewegung.

Der Refugee District in Belgrad verdeutlicht die Spannungsfelder und Ambivalenzen, in denen Migrationen auf dem Balkan im Kontext internationaler, nationaler und städtischer Politiken stattfinden. Hier ist das Machtungleichgewicht verräumlicht, in dem Flüchtende Verdrängungs- und Regulierungspolitiken zum Trotz kollektiv und individuell Handlungsmacht entfalten. Unser Beitrag ist ein Versuch, diese Prozesse sicht- und greifbarer zu machen sowie durch die Benennung unterschiedlicher räumlicher und politischer Ebenen mögliche neue Handlungsfelder und Allianzen aufzuzeigen. Schließlich ist die Situation im Refugee District nicht lediglich das Produkt von EU-Interessen, sondern zugleich geprägt von nationalen und lokalen Migrations- und Stadtpolitiken. Auf der lokalen Ebene bieten sich die Recht-auf-Stadt-Bewegung oder – translokal – die hiesige Debatte über Sichere Häfen als mögliche Anknüpfungspunkte an. Der Einfluss der EU-Interessen (und somit auch der Interessen Deutschlands) auf dem Balkan sowie deren Auswirkungen auf Flüchtende und die Stadt müssen stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken. Dafür erscheint uns eine Sichtbarmachung der doppelten Nicht-Bewegung essenziell. Denn die Situation im Refugee District ist sowohl aufgrund der Ausweglosigkeit nicht-bewegt als auch umkämpft von einer Nicht-Bewegung der Migration.

 

Die Bauhaus-Universität Weimar unterstützt die Publikation dieses Beitrags durch eine institutionelle Vereinbarung zur Finanzierung von Publikationsgebühren.

Endnoten

Autor_innen

Zita Seichter verortet sich disziplinär zwischen Urbanistik, Regionalentwicklung und Humangeographie und geht Fragen rund um Grenzregime, Transformationen aus postkolonialer Perspektive und kritischer Regionalentwicklung studierend, forschend und aktivistisch nach.

cosima.zita.seichter@hu-berlin.de

 

Miriam Neßler beschäftigt sich aktivistisch und forschend mit Migrations- und Grenzregimen, Freiräumen und dem Recht auf Stadt.

miriam.nessler@uni-weimar.de

 

Paul Knopf forscht mit künstlerischen und architektonischen Methoden zur Ökologie von menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen im Kontext offener Systeme. Er ordnet sich selbst keiner Disziplin zu.

paul.knopf@uni-weimar.de

Literatur

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