Zur Zukunft der Ostdeutschlandforschung

Kommentar zu Matthias Bernt und Andrej Holm „Die Ostdeutschlandforschung muss das Wohnen in den Blick nehmen“

Felix Ringel

Bevor ich genauer auf die anregenden, relevanten und leider höchst aktuellen Ideen und Forderungen von Matthias Bernt und Andrej Holm (2020) eingehe, beginne ich meinen Kommentar in anthropologischer Manier mit ein paar Eindrücken aus meinem eigenen ostdeutschen Forschungsfeld. Auf Grundlage dieser kurzen ethnographischen Einblicke möchte ich zwei Fragen nachgehen: erstens, warum ist die Ostdeutschlandforschung in den vergangenen drei Jahrzehnten gescheitert; und zweitens, kann ein Ausweg aus diesem Scheitern durch eine bewusst ‚ostdeutsche‘ Ostdeutschlandforschung bewältigt werden? Eine derartige Zukunft der Ostdeutschlandforschung bedarf jedoch einer anderen Wissenschafts- und Identitätspolitik – nicht nur, wie von Bernt und Holm eindrücklich und überzeugend gefordert, anderer konzeptioneller Zugänge.

Meine empirischen Kontakte zu Westdeutschen hielten sich während meiner Feldforschung in Hoyerswerda in den Jahren 2008 und 2009 in Grenzen. Zwar gab es den einen oder die andere abenteuerlustige Westdeutsche, die es nach der Wiedervereinigung in die Lausitz verschlagen hatte. Doch im Großen und Ganzen blieb man in Deutschlands damals am schnellsten schrumpfender Stadt unter sich. Westdeutsche kamen knapp zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall eher in Erzählungen vor, wie in der vom ersten Oberbürgermeister nach der Wende. Der kam aus dem Westen und brachte auch gleich seinen eigenen Baubürgermeister nebst Planungsbüro mit. Seine postmodernen Interventionen im Stadtraum (Spaßbad, Shoppingcenter, einheitlich pastellfarbene Fassaden an den eigentlich modernen Wohnblöcken) werden noch heute kaum hinterfragt – und wenn, dann nur von alteingesessenen, resolut-modernistischen Architekt*innen im gleichen Maße belächelt wie bedauert. Als beide Bürgermeister längst wieder weg waren, gab es auch bei den Wohnungsgesellschaften und -genossenschaften kaum öffentlichen Widerstand gegen westdeutsche Ideen, Konzepte und Forderungen, vor allem was die unverständlicherweise retrospektiv verordneten Altschulden anging. Man versuchte lediglich, mit Stadtumbau-Ost-Mitteln den voranschreitenden Leerstand und Verfall des Wohnungsbestandes in Zaum zu halten. Eine dezidiert ostdeutsche Antwort auf die auch bundesweit als ostdeutsch verstandenen Probleme gab es vor Ort lange Zeit nicht.

Nur der ehemalige Direktor des Braunkohlekombinates Schwarze Pumpe, für das die Neustadt Hoyerswerdas seit Mitte der 1950er Jahre gebaut wurde, hatte sich mit der westdeutschen Machtübernahme nicht abgefunden. Er konnte noch immer kein gutes Haar an der ‚Modernisierung‘ seines Betriebes finden. Er meinte, die westdeutschen Treuhändler*innen konnten oder wollten das Potential der Pumpe nicht erkennen. Eine meiner wöchentlichen Kolumnen in den Jahren 2008/2009 in der Lokalzeitung, dem Hoyerswerdaer Tageblatt, spiegelte diese Kritik. Sie führte zu einem Gespräch mit dem einst für die Abwicklung zuständigen (westdeutschen) Staatssekretär. Eine Frage, die mir auch dieser ansonsten nette ältere Herr nicht beantworten konnte, war die, ob man nicht damals schon hätte absehen können, was mit der einstigen sozialistischen Modellstadt durch den drastischen Umbau, inklusive weitläufiger Stilllegung, des Kohlekombinats passieren würde. Die Zahl der in Schwarze Pumpe Beschäftigten sank in wenigen Jahren von über 30.000 auf knapp 3.000 Mitarbeiter*innen. Auch das wurde weitgehend stillschweigend als ökonomisch notwendig hingenommen.

Was für einen Unterschied knapp zehn Jahre machen. Während meiner Feldforschung zur Hochzeit der globalen Finanzkrise 2008/2009 war mir noch kaum Kritik an der Ausgestaltung der Wiedervereinigung begegnet. Heute, fast drei Jahrzehnte nach dieser historischen Zeitenwende, werden von vielen in Hoyerswerda und anderswo nicht nur das Agieren der Treuhand, sondern auch andere Facetten der Nachwendezeit leidenschaftlich und oft auch erstmalig hinterfragt. Die Thesen, die Bernt und Holm zum Kommentar vorlegen, fallen auch in dieses neu geöffnete kritische Zeitfenster. Sie sind begrüßenswert und längst überfällig. Sie bedürfen weiterer Klärung, denn sie beziehen sich gleich auf mehrere Probleme, die ich aus Argumentationsgründen in wissenschaftliche und politische unterteile. Da diese einzelnen Probleme jedoch bei der Analyse Ostdeutschlands zusammentreffen und sich ihre beeinträchtigenden Effekte in der Wissensproduktion über Ostdeutschland sowie im Alltag der Ostdeutschen summieren, ist Bernt und Holms geforderte Neuausrichtung der Ostdeutschlandforschung umso notwendiger.

Doch die damit verbundene Aufarbeitung dieser vergangenen Fehler hat auch ihre Grenzen. Eine kritische, politisch-institutionelle Perspektive wird zwar zum Verständnis vergangener und gegenwärtiger Ungerechtigkeiten beitragen und viele Ostdeutsche werden den Fokus dieser Perspektive auf die vergangenen 30 Jahre und nicht mehr nur auf die diesen vorangegangenen 40 Jahre begrüßen. Was sie aber zudem fordern werden, ist ein Weg aus dieser Misere. Wie eine stets kritische Gesprächspartnerin aus Hoyerswerda kürzlich zum Strukturstärkungsgesetz infolge des Kohleausstiegs bemerkte: „Strukturwandel?! Den hatten wir hier schon seit 30 Jahren!“ Dass die Bundesregierung jetzt endlich ‚postindustriell‘ und mit der Hoffnung auf Wissenschaft und nachhaltige Technologien nachsteuert, kommt für sie mehrere Jahrzehnte zu spät. Die sozialen Herausforderungen der Inklusion der ostdeutschen Wirtschaft in globale Wirtschaftszusammenhänge sind damals völlig unterschätzt worden und die Leidtragenden waren die Ostdeutschen. Deren jetzige Zukünfte gilt es eben auch wissenschaftlich und politisch in den Fokus zu nehmen.

Wenn also endlich der Kampf gegen die Reduzierung Ostdeutschlands auf seine DDR-Vergangenheit gewonnen wurde und wir uns der jüngeren Vergangenheit mit einer gesamtdeutschen, ja: globalen Perspektive widmen können, dann müssen wir eben auch die Zukunft in den Blick nehmen. Dann gilt es weniger die Gegenwart durch die zweifelsohne einflussreichen Fehler der Transformationszeit nach der Wende zu erklären (was, wie gesagt, schon einen großen Fortschritt darstellen würde), sondern zu untersuchen, wie sich das neue System trotz kontinuierlichen Scheiterns so lange reproduzieren konnte und weiterhin reproduziert. Zur Zeit meiner Feldforschung zum Beispiel fühlten sich die Hoyerswerdaer*innen sowohl konzeptionell (eigentlich der Beitrag der kritischen Sozialwissenschaften!) als auch finanziell alleingelassen. Konkrete Strategien und Ideen zur Bekämpfung der Schrumpfung fehlten auf nationaler Ebene. Doch wie lange kann sich eine Nation derart drastische sozioökonomische Verwerfungen leisten, bevor das System selbst in Frage gestellt wird?

Auch vor diesem Hintergrund sind Bernt und Holms Vorwürfe gerechtfertigt hart und grundsätzlich. Ohne dass sie das dezidiert so formulieren, könnte man sie doch zugespitzt so paraphrasieren: Die deutschen Forschungseinrichtungen und Medien sind in den letzten drei Jahrzehnten inhaltlich – und damit auch politisch – in ihrer Analyse und Repräsentation ostdeutscher Realität gescheitert. Im Grunde hat ihnen eine ostdeutsche Stimme gefehlt. Die Folge war eben auch eine unterhinterfragte Hinnahme der Deindustrialisierung der ostdeutschen Wirtschaft. Inwiefern diese nun generell globalen Entwicklungen des neoliberalen Finanzkapitalismus geschuldet ist oder der billigenden Inkaufnahme absehbarer Fehlentwicklungen durch oft west-, aber eben auch ostdeutsche Eliten, ist gerade ein zentraler Punkt, der weiterer Klärung bedarf. Denn nur so lässt sich eine andere Zukunft denken. Die Betrachtung der (nicht nur urbanen) ostdeutschen Gegenwart muss auch von der Zukunft bestimmt sein und kritisch hinterfragen, welche Weichenstellungen in den vergangenen Jahren fahrlässigerweise (nicht) getätigt wurden und welche Entscheidungen gerade jetzt (anders) getroffen werden müssten. Denn auch Ostdeutschland muss in der postindustriellen Moderne ankommen – und die Wissenschaft muss eine kritische Analyse des in Ostdeutschland eben anders wütenden Kapitalismus, wie von Bernt und Holm in Bezug auf den ostdeutschen Wohnungsmarkt so beeindruckend analysiert, bieten können.

Wissenschaftsversagen

Beim Scheitern der Ostdeutschlandforschung kann es dabei nebensächlich sein, ob es eher aus konzeptionellen oder politischen Gründen passierte. In beiden Fällen fehlt das nicht produzierte Wissen allen beteiligten Akteuren und verhindert nicht nur in Ostdeutschland eine bessere Zukunft. Folgt man Bernt und Holms Ausführungen, sieht man schnell, dass die lange unhinterfragten Umverteilungsprozesse in Ostdeutschland einerseits in kürzerer Zeit intensiver als anderswo ihre Effekte zeitigten, andererseits aber genauso in Westdeutschland wüteten. Doch welche Konzepte haben denn nun bei der Analyse ostdeutscher Städte genau versagt?

Ein Argument der beiden Autoren spiegelt eine generelle (post-)marxistische, linke Wissenschaftskritik wider: Anstelle von Fragestellungen nach kulturellem Eigensinn und alltäglichem Detail (eigentlich die Domäne meiner Disziplin, der Sozialanthropologie) sollten wir die politische Ökonomie sowie die institutionelle Verankerung der dominierenden Machtverhältnisse in den Blick nehmen. Diese mir persönlich sympathische Erinnerung an die Berechtigung historisch-materialistischer Herangehensweisen ist natürlich nicht neu. In vielen Disziplinen wird sie schon seit Jahrzehnten in verschiedenen historischen Kontexten neu ausgehandelt. Die ökonomische Anthropologie (z. B. Müller 2007; Büchner/Büchner 2002) ist meist in Krisenzeiten in Mode. Mit Blick auf die Ostdeutschlandforschung lässt sich jedoch fragen, warum genau diese wissenschaftliche Perspektive in den vergangenen 30 Jahren so wenig Geltung erfahren hat. Zum Vergleich: In der internationalen Postsozialismusforschung war sie durchweg etablierter, obwohl sie auch dort einer eigenen Konjunktur unterlag (vgl. Morris 2017), die sich zurzeit mit der Etablierung osteuropäischer Illiberalismen wieder im Aufwind befindet.

Die Gründe, warum die politische Ökonomie, verbunden mit einer angemessenen Institutionenkritik in Bezug auf Ostdeutschland, kaum Anwendung fand, sind vielfältig. Bernt und Holm benennen die Ausrichtung der deutschen Förderlandschaft und die Herabwertung Ostdeutschlands als Forschungsobjekt zu einem Nischenthema mit exotischem Charakter. In meiner Zeit als ostdeutscher Studierender an einer ostdeutschen Universität in den frühen 2000er Jahren kam es mir bei einem Überangebot an fraglos interessanten westdeutschen Professoren (tatsächlich auch kaum Professorinnen und wenn, dann in Doppelquote: ostdeutsch und Frau) wirklich so vor, als ob Ostdeutschland für diese Professoren einfach kein Thema war. Das trifft auf andere postsozialistische Staaten sicher weniger zu, da diese im eigenen nationalen Kontext auf detaillierte Forschungen angewiesen waren. Auch die mit dem Untergang des Staatssozialismus verbundene generelle Diskreditierung marxistischer Ansätze können eine Rolle gespielt haben.

Ich selbst habe meine Doktorarbeit über die Schrumpfung Hoyerswerdas im Ausland geschrieben, in einem Kontext, in dem meine eigene Herkunft als Ostdeutscher kaum eine Rolle spielte. Ostdeutschland galt dort als Spezialfall des Postsozialismus. Vor allem amerikanische Kulturanthropolog*innen (Berdahl 1999, 2009; Boyer 2006) haben die geläufigen kulturellen Phänomene (Ostalgie, Identität, Erinnerung) erforscht, sich jedoch oft vehement für die Probleme der Ostdeutschen eingesetzt, obwohl sie nicht einem klassisch politisch-ökonomischen Ansatz folgten. Vor allem Dominic Boyer unterstrich dabei, dass den Ostdeutschen, als kontinuierlich konstruierte und problematisierte Minderheit in Deutschland, die Fähigkeit genommen wurde, selbstbestimmt über ihre eigene Zukunft zu entscheiden (Boyer 2006, 2010; siehe auch Gallinat 2016). In diesen Arbeiten wird Ostdeutschland jedoch als eigenständiges Thema gedacht und als Inspiration für weitere konzeptionelle Innovation angeführt.

Als Sozialanthropologe war ich in meiner eigenen Arbeit (Ringel 2018) weniger an den gängigen Themen der Kulturanthropologie interessiert. Ferner wollte ich meine Gesprächspartner*innen in Hoyerswerda (nebst ihren Ideen und Lebenswelten) weder auf ihr kulturelles ‚Ostdeutsch-Sein‘ noch auf ihre sozialistische Vergangenheit reduzieren. Ich versuchte deshalb, ihre gegenwärtigen Probleme nicht als Ergebnis vergangener Fehler zu verstehen, sondern als Ausdruck lokaler Konflikte um die Zukunft Hoyerswerdas, die fortwährend neu ausgehandelt werden mussten. Tatsächlich war in Hoyerswerda nicht die Vergangenheit, ob sozialistisch oder postsozialistisch, sondern die Zukunft das bestimmende Thema. Meine Analyse der lokalen Wissensökonomie mit ihren eigenen politischen Verwerfungen war deswegen weniger historisch orientiert und nahm doch die spezifischen Belange einer schrumpfenden Kleinstadt ernst.

Der Kontext, in dem diese Aushandlungen vor Ort stattfanden, war im Hinblick auf Globalisierung, Neoliberalismus, die Ausbreitung des auch von Bernt und Holm benannten Finanzkapitalismus, Postsozialismus und Postindustrialismus global. Doch schreckte auch ich davor zurück, mich in meiner Arbeit an den Fehlern der Wiedervereinigung und der von Ostdeutschen gegenwärtig wieder verstärkt empfundenen Ungerechtigkeit abzuarbeiten. Lokal spielten diese Themen kaum eine Rolle. Im Rückblick scheint mir die Abwesenheit der Westdeutschen in meiner Arbeit (abgesehen vom oben erwähnten Staatssekretär und ein paar ehrenamtlichen Akteur*innen) verdächtig. Hätte sich für meine Analyse doch – entgegen meiner eigenen konzeptionellen Abneigung gegen Identitätszuschreibungen – eine Form des strategischen Essentialismus (vgl. Müller 2018) gelohnt? Hätte eine Schuldzuweisung entlang innerdeutscher Identitätskonstruktionen meiner Interpretation geholfen? Oder genügte eine subtile Kapitalismuskritik, auch ohne sie nochmals in ihre spezifischen postsozialistischen Machtverhältnisse einzubetten? Um diese Fragen zu beantworten, will ich zum Abschluss kurz einen eher politischen Interventionsversuch wagen, wider besseres Wissen.

Politiken der Ostdeutschlandforschung

Als Anthropologe fällt es mir schwer, mich auch nur aus argumentativen Gründen des strategischen Essentialismus zu bedienen. Trotzdem muss der politische Kontext der Ostdeutschlandforschung im Sinne von Bernt und Holm nach 30 Jahren noch einmal neu hinterfragt werden. Fakt ist: Ostdeutsche Forschungsfragen sind unterrepräsentiert, dabei, wenn überhaupt, oft konzeptionell oberflächlich formuliert und, wie in meinem Fall, tendenziell unpolitisch gehalten. Wie können wir also die Forschungsagenden neu aufstellen und wer kann dafür verantwortlich zeichnen? Bernt und Holm scheinen vorzuschlagen, dass westdeutsche Forscher*innen dies seit 30 Jahren nicht für wichtig erachtet haben, während ostdeutsche Forscher*innen für derartige Versuche eher abgestraft wurden. Sollten ostdeutsche Forscher*innen also als Ostdeutsche ihren eigenen Agenden mehr Bedeutung zuschreiben? Sollten wir kulturell aufgeladene Distinktionen wie ‚westdeutsch‘ und ‚ostdeutsch‘ forciert in unsere analytischen Werkzeugkästen einbauen? Sollten wir vermehrt politische und ökonomische Akteure zur Verantwortung ziehen – nicht nur im Rückblick auf die vergangenen 30 Jahre, sondern auch mit dem Blick auf die Zukunft?

Wenn Politik, Macht und Wissenschaft wie im Fall der deutschen Ostdeutschlandforschung so verzahnt sind, muss auch die Wissenschaft einen politischen Standpunkt haben. Das soll natürlich die eigentliche Analyse nicht vordeterminieren – wie langweilig wäre es, stets wieder aufs Neue herauszufinden, dass die Westdeutschen oder der Neoliberalismus an allem schuld sind. Doch müssen, wie Bernt und Holm so überzeugend darlegen, erst einmal Themenschwerpunkte, analytische Konzepte und die richtigen Fragestellungen gesetzt werden. Das ist in den vergangenen drei Jahrzehnten nur ungenügend gelungen. Das Wohnen scheint mir dafür ein wichtiger, wenn auch auf den ersten Blick medial nicht besonders aufregender Anfang. Andere Institutionen des Wohlfahrtsstaates sowie politische Aushandlungsprozesse, Demokratie und Repräsentationsfragen, aber auch Ideen von Bürgerlichkeit, Solidarität, Armut und Zeitlichkeit bieten sich an.

Eine bewusst ostdeutsche Ostdeutschlandforschung, sofern sie genug finanzielle und politische Unterstützung erhielte, muss dann auch den nächsten Schritt gehen: Wenn eine politische sowie konzeptionelle Aneignung des ‚Ostdeutschen‘ als epistemologische und wissenschaftspolitische Strategie geholfen hat, die Wissenschaftslandschaft neu aufzustellen, muss der Essentialismus dann auch wieder überkommen werden. Denn 30 Jahre nach der Wiedervereinigung verbinden zwar viele strukturell ähnliche Probleme die Städte und Regionen Ostdeutschlands, doch das heißt nicht, dass dieser Umstand nicht mehr Differenzierung und internationalen Vergleich zulassen sollte. Denn auch in Zukunft müssen wir uns fragen, wann (bzw. inwieweit und mit welchen konzeptionellen Konsequenzen) Konzepte wie ‚ostdeutsch‘ und ‚Postsozialismus‘ aufhören werden, produktiv und deskriptiv akkurat zu sein.

Autor_innen

Felix Ringel arbeitet als Sozialanthropologe zur Zukunft postindustrieller Städte, mit einem Fokus auf Schrumpfung und urbane Nachhaltigkeit.

felix.ringel@durham.ac.uk

Literatur

Berdahl, Daphne (1999): Where the World Ended: Re-Unification and Identities in the German Borderland. Berkeley: University of California Press.

Berdahl, Daphne (2009): The Social Life of Postsocialism: Memory, Consumption, Germany.Bloomington: University of Indiana Press.

Bernt, Matthias / Holm, Andrej (2020): Die Ostdeutschlandforschung muss das Wohnen in den Blick nehmen. Plädoyer für eine neue politisch-institutionelle Perspektive auf ostdeutsche Städte. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 8/3, 97-114.

Boyer, Dominic (2006): Ostalgie and the politics of the future in Eastern Germany. In: Public Culture 18/2, 361-381.

Boyer, Dominic (2010): From algos to autonomos: Nostalgic Eastern Europe as postimperial Mania. In: Maria Todorova / Zsuzsa Gille (Hg.), Postcommunist Nostalgia. Oxford/ New York: Berghahn, 17-28.

Büchner, Hans C. / Büchner, Judith-Maria (2002): Contesting Agriculture: Cooperativism and Privatization in the New Eastern Germany. Albany: State University of New York Press.

Gallinat, Anselma (2016): Narratives in the Making: Writing the East German Past in the Democratic Present. Oxford/New York: Berghahn.

Morris, Jeremy (2017): An Agenda for Research on Work and Class in the Postsocialist World. In: Sociology Compass 11/5, 1-12.

Müller, Birgit (2007 [2001]): Disenchantments with Market Economics. East Germans and Western Capitalism. Oxford/New York: Berghahn.

Müller, Martin (2018): In Search of the Global East: Thinking between North and South. In: Geopolitics 25/3, 734-755.

Ringel, Felix (2018): Back to the Postindustrial Future: An Ethnography of Germany‘s Fastest Shrinking City. Oxford/New York: Berghahn.