Editorial

sub\urban Redaktion

Liebe Leser_innen,

es ist eine denkwürdige Zeit um das Erscheinen dieser Ausgabe von sub\urban, zum Jahresende 2020. Denkwürdig ist sie angesichts der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie, die uns, wenn auch ganz verschieden, so doch nachhaltig in unserem Tun und Sein beeinflussen. Gleichsam wird sowohl in Fragen der Vorsorge und der medizinischen Versorgung als auch bei der sozialen Einbettung und der ökonomischen Lage deutlich: Verschiedene Menschen und Gruppen sind unterschiedlich von der Situation betroffen. Deutlich ist dabei auch, dass der Umgang mit der Pandemie bisherige Ungleichheiten auf lokaler wie globaler Ebene verschärft.

Wir sehen die Notwendigkeit, das politische und gesellschaftliche Vorgehen in der Pandemie, ihre Ereignisse und Effekte auch aus der Perspektive der kritischen Stadtforschung differenziert zu begleiten und zu beforschen. Daher siedeln wir in sub\urban einen virtuellen Themenschwerpunkt zur Auseinandersetzung mit der Pandemie an und haben dazu bereits zwei Beiträge vorab veröffentlicht: Den Beitrag „Geographische Überlegungen in Zeiten der Pandemie“ von Rogério Haesbaert haben wir aus dem Portugiesischen ins Deutsche übersetzt und veröffentlichen ihn in beiden Sprachen. Haesbaert geht den Widersprüchen rund um die durch Corona bedingten Mobilitätseinschränkungen nach, die einerseits dem Mantra einer immer schnelleren Zirkulation von Menschen und Waren im Zeichen der Globalisierung zuwiderlaufen, sich jedoch andererseits je nach Subjekt und Kontext sehr unterschiedlich ausgestalten. Mit Blick auf soziale Differenzen in Rio de Janeiro zeigt er verschiedene Facetten von Deterritorialisierung „als eine Prekarisierung der unsere Lebensbedingung sichernden territorialen Kontrollen“ in Zeiten der Pandemie auf. Henning Füller und Iris Dzudzek plädieren für eine kritische Sozialepidemiologie und damit für eine Alternative zu vorherrschenden Formen der Krisenbewältigung. Das bedeutet, dass Gesundheit konsequent als soziale Frage diskutiert wird und weniger als Teil nationaler Sicherheitslogiken und martialischer Diskurse.

Ein weiterer Beitrag von Sanjana Krishnan und Rahul Jambhulkar diskutiert – aus dem Anlass der Corona-Pandemie und Nachrichten über Ströme von Migrant_innen, die indische Großstädte verlassen – die umstrittene historische urbane Entwicklung insbesondere von Mumbai. Der Text stellt heraus, dass es sich bei der gegenwärtigen Situation um einen zwar in seiner Art und Dramatik neuen Krisenzustand handelt, der allerdings stark in schon vorher entwickelte Krisenzustände in urbanen Kontexten Indiens eingebettet ist.

Dieses Heft ist während der Pandemie entstanden und zeugt – wenn auch möglicherweise unbemerkt – von den Bedingungen wissenschaftlicher Produktion in Pandemiezeiten. So mussten die Redaktionssitzungen komplett in den digitalen Raum verlagert werden und auch der sonst so alltägliche soziale Austausch fehlt uns allen. Als problematischer stellten sich allerdings die Mehrfachbelastungen durch Kinderbetreuung und Homeschooling, die Schwierigkeiten mit der digitalen Lehre, die ausfallenden Forschungsaufenthalte, der fehlende Zugang zu Bibliotheken (wie gut, dass sub\urban online und Open Access ist), die wachsende Verzweiflung über die Situation und das Erleben neuer Einsamkeit, die Angst um Angehörige und so weiter dar. Deshalb einen großen Dank an alle beteiligten Autor_innen, die in dieser Zeit ihre Beiträge trotz allem auf den Weg gebracht und fertiggestellt haben, aber auch an unsere Gutachter_innen, die diese Arbeit neben ihren sonstigen Aufgaben für uns und unsere Autor_innen übernommen haben. Unsere Anerkennung gilt auch denjenigen, die im Moment andere Prioritäten setzen (müssen) und mehr Zeit für die Arbeit an Texten benötigen, vielen Dank für euer Vertrauen. Wenn die Pandemie uns größere Rücksicht gelehrt hat, wünschen wir uns, dass das auch in der Wissenschaft zu einer solidarischen und (warum nicht?) entspannteren Forschung und Lehre führt.

Die Art, wie wir forschen und lehren, ist für sub\urban stark mit Zugängen zur Stadt verbunden. Mit der Frage: „Wie können wir die Stadt wissen?“ hatten wir im Februar 2019 um Beiträge zu Methoden in der kritischen Stadtforschung gebeten. Mit unserem Themenschwerpunkt verbinden wir die Hoffnung, einen fortlaufenden Methodenschwerpunkt entwickeln zu können. Die Debatten zu den entstehenden Beiträgen und nicht zuletzt unser eigenes Verständnis der Forschungspraxis verdeutlichen uns, wie stark die Art unseres Annäherns an Forschungsthemen und -gegenstände, die Perspektiven und Positionierungen, die wir dabei einnehmen, und die Interaktionen, die wir eingehen, letztendlich das bestimmen, was allgemein als Erkenntnis bezeichnet wird. Die momentanen Einschränkungen und Anpassungen zeigen, wie situativ und wenig planbar das Vorgehen ist und wie sich die eigene Forschungspraxis immer wieder an Bedingungen, Einflüsse und Veränderungen von Kontexten anpassen muss.

Unser Auftakt zum Methodenschwerpunkt beginnt mit drei Aufsätzen, denen gemein ist, dass sie einen besonderen Fokus auf die Hintergründe eines methodischen Ansatzes und Vorzüge wie auch Fallstricke dessen Umsetzung legen: Carolin Genz ermittelt in ihrem Aufsatz die Potenziale der Ethnografie für die kritische Stadtforschung. Dazu stellt sie die offene, reflexive Haltung ethnografischer Wissensproduktion und die damit für sie notwendigerweise verbundene politische Verantwortung in den Vordergrund ihrer Analyse. Sie plädiert für eine holistische Perspektive auf städtische Konfliktfelder und Aushandlungsprozesse, welche die Reflektion der Positionalität der Forschenden mit einbezieht. Dadurch können – so ihr Argument – Widersprüche und Machtverhältnisse im Miteinander städtischer Akteure und deren sozialräumlichen Praxen sichtbar und reflektierbar gemacht werden. Charlotte Räuchle und Antonie Schmiz gehen in ihrem Beitrag „Wissen Macht Stadt“ der Frage nach, welches Wissen in welchen Akteurskonstellationen und mit welchen Implikationen in Reallaboren produziert wird. Mit Einblicken in die eigene Forschung im Verbundprojekt KoopLab zeigen sie, dass Reallaboren zwar ein Dilemma zwischen Normativität und Transformation innewohnt, dass aber eine reflexive Methodologie nicht nur das darin generierte Wissen für die Stadtforschung fruchtbar machen, sondern auch Wege für eine gerechtere Stadtentwicklung aufzeigen könnte. Daniele Karasz widmet sich der methodisch geplanten Wiederholung narrativer Interviews – über Jahre hinweg mit den gleichen Personen – und beleuchtet die Eignung dieses Ansatzes, um konjunkturellen Veränderungen im Wohnalltag in einem Stadtteil Wiens nachzuspüren. In seinem Beitrag wird schrittweise gezeigt und reflektiert, welche Erkenntnisse durch die wiederholte Durchführung von Interviews und den damit verbundenen Interpretationen in sich verändernden gesellschaftlichen Kontexten entstehen können.

Darüber hinaus gehören vier Magazinbeiträge in den Methodenschwerpunkt des Heftes: Katja Thiele und Nils Grube tragen über mehrere Jahre im Kontext der Gruppe Kritische Geographie Berlin gesammelte Erfahrungen und Reflexionen einer kritischen Praxis von Stadtexkursionen zusammen. Angesichts einer langen Tradition monologischer ebenso wie verändernd-exotisierender Ansätze plädieren sie für eine Stärkung partizipativer ebenso wie experimenteller Zugänge, die sie facettenreich veranschaulichen. Im Beitrag „Wissen mal ganz konventionell unkonventionell: Stadt verstehen mit Lucius Burckhardt“ würdigt Reto Bürgin die Spaziergangswissenschaft als eine Disziplin, die der Schweizer Soziologe und Hochschullehrer in den 1980er Jahren mit dem Ziel gegründet hat, den kritischen Blick seiner Studierenden zu schärfen und ihre konventionelle Wahrnehmung von Landschaft zu hinterfragen. In „Urban Citizen Walkers“ berichten Katharina Rohde und Kathrin Wildner von ihren Erfahrungen mit dem kollaborativen Gehen als Methode der kritischen Stadtforschung. Der Beitrag präsentiert, kontextualisiert und reflektiert die Ergebnisse eines Spaziergangs, der im Sommer 2016 in Berlin stattfand und zu dem Menschen unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlich langen Wohnerfahrungen in Berlin eingeladen wurden. In der Arbeit von Katharina Schmidt und ihren Forschungsbeteiligten geht es darum, den gängigen Blick auf Obdach- und Wohnungslosigkeit zu irritieren. Anhand einer Reihe von Bildern, die in Rio de Janeiro und Hamburg produziert wurden, reflektiert die Autorin über die Art und Weise wie obdach- und wohnungslose Menschen auf ihre Städte schauen: Der Einblick in diese Bilder ermöglicht es den Leser_innen, klischeehafte Ideen über Wohnungslosigkeit in Frage zu stellen.

Auch eine Rezension gehört zum Methodenschwerpunkt: Rabea Berfelde rezensiert Neil Brenners im Jahr 2019 erschienenen Band New Urban Spaces. Urban Theory and the Scale Question. Aus Brenners Ausführungen zu dialektischen Konzeptionen leitet sie einen Aufruf zu neuen methodologischen Überlegungen der kritischen Stadtforschung ab.

Unsere Debatte widmen wir dem 30-jährigen Jahrestag der Deutschen Einheit, der in diesem Jahr vielleicht aufgrund der Pandemie etwas weniger Beachtung gefunden hat. Auch in der kritischen Stadtforschung gibt es dazu noch viel zu diskutieren, wie unsere Debatte zeigt. Es scheint, als bestünde in Deutschland große Einigkeit darüber, dass es an der Zeit ist, die Ereignisse dieses Prozesses klarer als zuvor zu diskutieren und kritischer zu hinterfragen. Vor diesem Hintergrund luden Matthias Bernt und Andrej Holm mit ihrem: „Plädoyer für eine neue politisch-institutionelle Perspektive auf ostdeutsche Städte“ zu einer Debatte ein. Anhand zweier politischer Entscheidungen, die zu einem Bruch in den ostdeutschen Wohnerfahrungen führten, zeigen die Autoren, wie aktuelle Debatten zu ostdeutschen Subjektivitäten durch eine Analyse konkreter Machtverhältnisse und institutioneller Rahmenbedingungen befruchtet werden könnten. Nur dadurch könne die Ostdeutschlandforschung, so die Autoren, Ostdeutschland weniger als „Sonderfall“, sondern vielmehr als Brennglas untersuchen lassen, in welchem sich gesamtdeutsche und sogar internationale Beziehungsgeflechte wiedererkennen lassen. Als Kommentator_innen konnten wir Barbara Schönig, Carsten Keller, Carmen Leidereiter, Dieter Rink und Felix Ringel gewinnen, die dazu aus ihren jeweils ganz eigenen Perspektiven und Forschungserfahrungen zu Ostdeutschland diskutieren. Matthias Bernt und Andrej Holm antworten darauf in einer Replik.

Passend zu unserer Debatte hat Annegret Haase für unser Heft den soeben erschienenen Sammelband Regionalentwicklung in Ostdeutschland. Dynamiken, Perspektiven und der Beitrag der Humangeographie rezensiert, der von Sören Becker und Matthias Naumann herausgegeben wurde. Sie schlussfolgert, dass das 500-Seiten-Werk „eine Fülle von Material und spannenden Einzelbeiträgen“ liefere und sich zwar vorrangig an Wissenschaftler_innen und Studierende richtet, aber auch für weitere Interessierte gut lesbar sei.

Neben diesen Themen veröffentlichen wir weitere Beiträge in unserem offenen Teil. Raffael Beier setzt sich in seinem Aufsatz mit informellen Siedlungen in Casablanca auseinander. Ihn interessiert, wie deren Stigmatisierung sich auf die Bewohner_innen auswirkt, aber auch, wie sie selbst das Wohnen in ihrer Siedlung bewerten. Er analysiert, wie Marokkos Regierung mit einer repressiven Wohnungspolitik versucht, die Bewohner_innen aus den innenstadtnahen Slums in Massenwohnungsbauprojekte zu verdrängen und an den Stadtrand umzusiedeln.

Hannes Strobel schreibt in seinem Text „Organisiert gegen einen profitorientierten Wohnungskonzern: Fünf Jahre berlinweite Vernetzung der Deutsche-Wohnen-Mieter*innen“ über die Initiativen, die sich in den letzten Jahren vor allem gegen das Geschäftsgebaren des Wohnungsunternehmens gegründet und organisiert haben. In seinem Beitrag berichtet Strobel – selbst engagiert im Widerstand der wohnungspolitischen Gruppen – von den Erfolgen, aber auch von den Schwierigkeiten, die die Arbeit der Aktivist_innen begleiten.

Sören Weißermel rezensiert die Monografie von Anke Schwarz Demanding Water: A Sociospatial Approach to Domestic Water Use in Mexico City. Nach Weißermel zeige das gelungene Buch am Beispiel des Wassermanagements, wie auf der Mikroebene des Haushalts und des Alltags Mechanismen neoliberaler Gouvernementalität das politische Mobilisierungspotenzial von Gesellschaften einschränken. Adrian Kreutz findet die Lektüre von Rowland Atkinsons Alpha City: How London Was Captured by the Super-Rich lohnenswert, um den Eskapismus der Eliten im ‚integrierten Chaos‘ der Metropole besser zu verstehen, auch wenn er sich eine etwas systematischere Untersuchung der gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse gewünscht hätte. Christian Sowa widmet sich in seiner Rezension „Der Jungle als Stadt“ der Studie von Michel Agier, Yasmine Bouagga, Maël Galisson, Cyrille Hanappe, Mathilde Pette und Philippe Wannesson, die 2020 im transcript Verlag übersetzt unter dem Titel Der Dschungel von Calais erschienen ist. Die Rezension zeigt lobend den Detailreichtum der Studie und diskutiert sie vor dem Hintergrund der Frage, was die jungles der Stadt sind und was die Stadt den jungles ist. Darin scheinen nicht nur begriffliche Leerstellen auf, sondern auch weitere Fragen für die Stadtforschung. Wir freuen uns über die Rezension zu Lisa Vollmers Buch Mieter_innenbewegungen in Berlin und New York. Die Formierung politischer Kollektivität (2019) von Sebastian Schipper. Die angespannte Lage am Wohnungsmarkt führt weltweit in vielen Städten zu Verdrängungsprozessen und hat besonders starke Auswirkungen für einkommensschwache Haushalte. Mietenpolitische Bewegungen setzen sich vielerorts für die Abkehr von einer neoliberalisierten, finanzialisierten Wohnungsversorgung ein. Die Studie untersucht die Formierung politischer Kollektivität in diesen Bewegungen, und die Rezension bescheinigt ihr, sowohl in theoretischer als auch bewegungspolitischer Hinsicht einen wichtigen Beitrag zu leisten.

In unserer Redaktion haben sich in den vergangenen Monaten ein paar Veränderungen ergeben. Wir möchten uns schweren Herzens von unserem langjährigen Redaktionsmitglied Antonio Carbone verabschieden. Er verlässt unsere Redaktion, weil er sich in neue wissenschaftliche Felder aufmachen möchte. Danke für die wunderbare Zusammenarbeit, Antonio. Du wirst uns fehlen.

Zugleich begrüßen wir unsere drei neuen Redaktionsmitglieder, die schon mit großer Tatkraft in unsere Redaktionsarbeit eingestiegen sind: Nihad El-Kayed, Lucas Pohl und Gala Nettelbladt. Schön, dass ihr dabei seid, Nihad, Lucas und Gala!

 

Wir wünschen Ihnen und euch eine anregende Lektüre.

 

Herzliche Grüße und alles Gute

die Redaktion von sub\urban

Kristine Beurskens, Laura Calbet i Elias, Antonio Carbone, Nihad El-Kayed, Nina Gribat, Stefan Höhne, Johanna Hoerning, Jan Hutta, Justin Kadi, Michael Keizers, Yuca Meubrink, Boris Michel, Gala Nettelbladt, Lucas Pohl, Nikolai Roskamm, Nina Schuster, Lisa Vollmer