Die Krise verstehen

Rezension zu: Felix Wiegand „David Harveys urbane politische Ökonomie“

Matthias Naumann

Abb. 1 Titel des Buches (Quelle: Verlag Barbara Budrich)

Mietsteigerungen, Zwangsräumungen, gewalttätige Auseinandersetzungen in den Peripherien europäischer Großstädte – die aktuelle Krise des Finanzkapitalismus wird vor allem in Städten sichtbar. Damit stellen sich nicht nur Fragen nach politischen Strategien für den Umgang mit den vielfältigen Widersprüchen und Konflikten, sondern auch nach einem theoretischen Rahmen, der in der Lage ist, zum Verständnis der derzeitigen Krise und ihrer städtischen Ausprägungen beizutragen. David Harveys Theorie kapitalistischer Urbanisierung ist hierfür ein zentraler Bezugspunkt.

Mit einigen Jahrzehnten Verspätung hat inzwischen auch im deutschsprachigen Raum eine breitere Harvey-Rezeption begonnen und es liegen Übersetzungen seiner aktuellen Bücher vor (Belina 2013; 2006; Wissen 2011; Belina/Michel 2007; Harvey 2013; 2012; 2011; 2007a; 2007b; 2005). Während es mit „David Harvey: A Critical Reader“ (Castree/Gregory 2006) ein englischsprachiges Kompendium zur Einführung in Harveys umfangreiche und komplexe Arbeiten gibt, fehlte bisher eine systematische Heranführung an David Harveys Werk für den deutschsprachigen Raum. Diese Lücke schließt Felix Wiegand mit seinem Band „David Harveys urbane Politische Ökonomie. Ausgrabungen der Zukunft marxistischer Stadtforschung“.

Um es gleich vorwegzunehmen: Das Verdienst Wiegands akribischer und umfassender Erschließung zentraler Schriften von Harvey ist von unschätzbarem Wert nicht nur für die Stadtforschung, sondern für die kritischen Sozialwissenschaften insgesamt. Erstens liefert Felix Wiegand eine Kontextualisierung von Harveys Arbeiten, indem er dessen persönlichen und beruflichen Weg nachzeichnet. Dabei weist er auf die Bedeutung hin, die Harveys Erfahrungen in Baltimore und Paris für die Entwicklung seines Verständnisses von kapitalistischer Urbanisierung hatten. Gegenstand von Harveys Arbeiten ist nicht die „Stadt an sich“, sondern sind die Prozesse kapitalistischer Urbanisierung. Seine Grundannahme ist dabei: „Capital accumulation and the production of urbanization go hand in hand.“ (Harvey 1989 zit. n. Wiegand 2013: 116) Weiterhin ordnet Wiegand David Harveys Arbeit in den Kanon kritischer Stadtforschung anderer Autoren wie z. B. Manuel Castells, Henri Lefebvre und Edward Soja ein.

Zweitens gelingt es Wiegand, zentrale theoretische Konzepte von Harvey nicht nur darzustellen, sondern auch kritisch zu reflektieren, indem er die – sehr unterschiedliche – Rezeption von Harveys Arbeiten in seine Ausführungen einfließen lässt. So widmet sich Felix Wiegand ausführlich der Kritik an Harvey, etwa hinsichtlich einer Vernachlässigung der gesellschaftlichen Bereiche, die nicht direkt und allein durch Klassenverhältnisse bestimmt werden, oder bzgl. des Fehlens eines kohärenten Verständnisses vom Staat und dessen Rolle bei der Akkumulation von Kapital. Der vorliegende Band ist damit keine Überblicksdarstellung von Harveys umfangreichen Schriften zur kapitalistischen Urbanisierung, sondern ein Diskussionsbeitrag zu Harveys urbaner Politischer Ökonomie. Die Einbettung der Kritik an Harveys Ansätzen macht auch die „(Post-)Modernisierung“ von Harveys Ansätzen nachvollziehbar. Für Wiegand liegt die Qualität von Harvey gerade darin, neue Begriffe und Konzepte – beispielsweise als Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit feministischen oder post-strukturalistischen Autor_innen – zu integrieren, ohne dabei den marxistischen Kern seiner Arbeit aufzugeben. Entgegen der Kritik an Harveys Konzepten als „dogmatisch“ ist Marx für Harvey eben kein „unfehlbarer Meister, sondern Ausgangspunkt für weiterführende Überlegungen“ (Wiegand 2013: 84).

Drittens stellt Wiegands Band eine insbesondere für die Lehre unverzichtbare Hinführung zu Harveys Ansätzen wie zur marxistisch orientierten Stadtforschung insgesamt dar. Die Kapitel des Buches behandeln unterschiedliche theoretische Aspekte, wie z. B. zu Harveys Verständnis von Raum, kapitalistischer Urbanisierung und seiner Akkumulations- und Krisentheorie und stützen sich dabei jeweils auf ausgewählte Schriften von David Harvey. Die sehr genaue Begriffsarbeit von Wiegand und die Ergänzung des Textes um zahlreiche Fußnoten statten gerade Leser_innen, die noch nicht mit Harveys Werk vertraut sind, für die Lektüre der Primärtexte aus.

Der Band „The Limits to Capital“ als zentrales, stark werttheoretisch geprägtes, aber auch nicht leicht zugängliches Buch Harveys bildet für Felix Wiegand die wichtigste Grundlage für die Erklärung von Begriffen wie „spatial-temporal fix“, „strukturierte Kohärenz“, „gebaute Umwelt“ sowie für die Einführung der verschiedenen Kapitalkreisläufe und der Grundzüge marxistischer Rententheorie. Die Fokussierung auf „The Limits to Capital“ ist angesichts der großen Bandbreite von Harveys Publikationen sinnvoll. In diesem Band arbeitet Harvey die theoretischen Grundlagen eines historisch-geographischen Materialismus aus, der nach der historischen Geographie des Kapitalismus fragt und versucht, Erklärungen für die vielfältigen Formen ungleicher Entwicklung zu liefern. Zentral ist dabei die Annahme, dass auf die im Kapitalismus zwangsläufigen Krisen der Überakkumulation von Kapital mit räumlichen und zeitlichen Verschiebungen („spatial-temporal fixes“) reagiert wird. Dabei werden Krisen jedoch nicht gelöst, sondern bereits die Voraussetzungen für künftige Krisen geschaffen. Aktuelle Beispiele wie die Entwertung von Wohneigentum in den Vereinigten Staaten oder in Spanien zeigen den fast schon prophetischen Charakter von Harveys krisentheoretischen Überlegungen zur Entwicklung städtischer Immobilienmärkte.

Felix Wiegand endet mit einem Bezug auf die aktuellen Bewegungen zum „Recht auf Stadt“. Für Harvey, der Wissenschaft als eingreifende Praxis (Wiegand 2013: 41ff.) versteht, sind Städte nicht nur untrennbar mit dem krisenhaften Charakter des Kapitalismus verbunden; sie sind für ihn auch Schauplätze antikapitalistischer Politik. Leider bricht Wiegands Buch an dieser Stelle ab. Offen bleibt die Frage nach einer zusammenfassenden Position des Autors hinsichtlich möglicher Felder einer Weiterentwicklung von Harveys Ansätzen. Weitere Anregungen für eine mögliche zweite Auflage des Buches wären die Einführung eines Indexes, der die Orientierung im außerordentlich dichten Text erleichtern würde, wie auch die Kürzung einiger sehr ausführlicher englischsprachiger Zitate, die den Textfluss mitunter stören.

Insgesamt belegt Felix Wiegand mit seinem eindrucksvollen Band die weit über die Geographie hinausgehende und nicht zu überschätzende Bedeutung von Harveys Arbeit und deren Potenzial, aktuelle Krisen des Kapitalismus zu verstehen. Angesichts des enzyklopädischen Gehalts und des hohen Maßes an kritischer Reflexion in Felix Wiegands Ausgrabungen ist eine deutschsprachige Rezeption von David Harvey ohne Rückgriff auf diesen Band von nun an undenkbar.

Autor_innen

Matthias Naumann ist Geograph und arbeitet zu Stadt- und Regionalentwicklung, Infrastruktur und kritischer Geographie.

Kontakt: naumann@irs-net.de

Literatur

Belina, Bernd (2006): Raum, Überwachung, Kontrolle. Vom staatlichen Zugriff auf städtische Bevölkerung. Münster.

Belina, Bernd (2013): Raum. Münster.

Belina, Bernd / Michel, Boris (Hg.) (2007): Raumproduktionen. Beiträge der Radical Geography – eine Zwischenbilanz. Münster.

Castree, Noel / Gregory, Derek (Hg.) (2006): David Harvey: A Critical Reader. Oxford.

Harvey, David (2005): Der neue Imperialismus. Hamburg.

Harvey, David (2007a): Kleine Geschichte des Neoliberalismus. Zürich.

Harvey, David (2007b): Räume der Neoliberalisierung: Zur Theorie der ungleichen Entwicklung. Hamburg.

Harvey, David (2011): Marx „Kapital“ lesen: Ein Begleiter für Fortgeschrittene und Einsteiger. Hamburg.

Harvey, David (2012): Kapitalismuskritik: Die urbanen Wurzeln der Finanzkrise. Den antikapitalistischen Übergang organisieren. Hamburg.

Harvey, David (2013): Rebellische Städte. Berlin.

Wiegand, Felix (2013): David Harveys urbane Politische Ökonomie. Ausgrabungen der Zukunft marxistischer Stadtforschung. Münster.

Wissen, Markus (2011): Gesellschaftliche Naturverhältnisse in der Internationalisierung des Staates. Konflikte um die Räumlichkeit staatlicher Politik und die Kontrolle natürlicher Ressourcen. Münster.