Mini-München findet Stadt

Aushandlung von urbanem Raum im Kontext generationaler Ordnungen

Laura Lefevre

Die Spielstadt Mini-München feiert 2020 ihr 40-jähriges Jubiläum. Im mini-städtischen Alltag verhandeln dort Kinder und Jugendliche Fragen des Zusammenlebens, der Stadtgestaltung und ihres Ortes im öffentlichen Raum. Ob selbstorganisierte und -geführte Betriebe, Gerichtsverhandlungen oder geplante Bankraube: Die Kinder und Jugendlichen probieren aus, verändern und formen ihre Stadt nach eigenen Vorstellungen und Möglichkeiten. Dieses Spiel wirft auch Fragen auf: Wem ist es möglich und erlaubt, diskursiv wie physisch in die Stadt einzugreifen? Dieser Beitrag zeigt anhand eines Ereignisses aus dem Spielstadt-Projekt, dass Kinder bei der spielerischen Planung einer mini-städtischen Infrastruktur ethische Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und Naturschutz reflektieren. Damit greifen sie in ihrer fiktiven Aushandlung auch auf gesellschaftliche Diskurse urbaner Ethiken zurück. Gleichzeitig fällt es ihnen schwer, diese Ideen in den tatsächlichen städtischen Raum zurückzutragen; denn dieser bleibt ein Raum generationaler Ordnung und Machthierarchien, dessen Aneignung oftmals der Anwesenheit Erwachsener bedarf.

Dieser Beitrag basiert auf einer dreiwöchigen Feldforschung während Mini-München im August 2020. Meine Quellen sind ein begleitend geführtes Feldtagebuch, sechs qualitative Interviews mit acht Kindern und den Organisator_innen sowie Materialien aus der Spielstadt 2020. Mein Zugang ergibt sich aus meiner langjährigen Mitarbeit als Werkstudentin beim veranstaltenden Verein Kultur & Spielraum e. V. Somit bewege ich mich nicht nur als Forscherin, sondern auch als kulturpädagogische Mitarbeiterin im Feld und analysiere Mini-München in ebendieser Doppelfunktion. Darin sehe ich vor allem die Chance einer „kritischen Bildungs- und Kulturarbeit“ (Huber 2018: 63), die einerseits die machtkritische Wissensproduktion über eine gesellschaftliche Problematik umfasst, andererseits aber auch das praktische Zurückgeben an das Feld während der Forschung einschließt (Huber 2018: 66). Meine Involviertheit ergibt sich auch aus einem grundlegenden Prinzip Mini-Münchens, das ich im Folgenden noch weiter erläutere: der Rolle der Erwachsenen als Mitspielenden.

1. Geschichte und Spiellogik der Spielstadt Mini-München

Die Spielstadt entstand aus den spiel- und kulturpädagogischen Aktionen des Vereins Pädagogische Aktion e. V. Im Rahmen eines vom Verein initiierten Bauspiels entwickelten Kinder und Jugendliche eine Stadt aus Pappe, Holz und weiteren Materialien und bespielten diese – ein erster spielstädtischer Ansatz war gesetzt. 1979 wurde diese Stadt-Thematik im Rahmen des UN-Projektes „Jahr des Kindes“ aufgegriffen und in ein eigenes, deutlich größeres Projekt überführt, das mehrere Wochen lang im Olympiapark stattfand: Dabei sollte sich die Spielstadt an den Grundbedingungen einer realen Stadt mit ihrer Vielfalt, Komplexität und Dichte orientieren. Der besondere pädagogische Reiz des Konzepts Stadt als Spielort liege darin, dass dabei „das ‚Leben‘ als komplexe Wirklichkeit zum Medium und Stoff des handelnden Lernens“ gemacht werde (Grüneisl/Zacharias 1989: 14 f.). Ansatz der Spielstadt war und ist es, gesellschaftliche Zusammenhänge aufzugreifen und im Spiel neu zu denken oder umzuinterpretieren: Die Spielstadt ist demokratisch aufgebaut, alle Kinder verdienen gleich viel Geld, auch ein Studium wird wie Arbeit bezahlt (Grüneisl/Thiele 2020: 20).

Die Spielstadt fand zunächst unregelmäßig statt, nach Protesten und Forderungen von Kindern und Jugendlichen schließlich alle zwei Jahre als städtisch gefördertes Projekt. Inzwischen koordiniert der Verein Kultur & Spielraum e. V. das kostenlose Aktionsprogramm für Kinder und Jugendliche zwischen 7 und 15 Jahren, dass jeweils in den ersten drei Wochen der Sommerferien stattfindet. Das Konzept der Spielstadt fand auch international großen Anklang. Es entwickelte sich ein weltweites Spielstadt-Netzwerk, an dem neben vielen Weiteren Mini-Kairo und Mini-Osaka teilnehmen (Grüneisl/Thiele 2020: 22 f.).

2020 feierte Mini-München mit seiner 20. Spielstadt 40-jähriges Jubiläum. Aber auch aus anderen Gründen war dieses Jahr besonders: Das pandemiebedingte Verbot von Großveranstaltungen im Frühjahr 2020 stellte Mini-München als zentral organisiertes Ereignis mit üblicherweise über 2.000 Kindern pro Tag vor ein Dilemma. Wenige Monate vor Beginn der Spielstadt musste ein neues Konzept gefunden werden, das den bestehenden Hygiene- und Abstandsbestimmungen gerecht wird. Anstatt der sonst üblichen räumlichen Dichte wurde das Spielgeschehen unter dem Motto „Mini-München findet Stadt“ auf über 40 Spielorte verteilt. Im Vergleich zu den über 2.000 Kindern pro Tag (2018) nahmen 2020 lediglich etwas mehr als 1.000 Kinder an der Spielstadt teil, von denen sich mit elterlicher Erlaubnis 80 Prozent im jeweiligen Stadtteil und 57 Prozent in der gesamten Stadt frei bewegen durften (Kultur & Spielraum e. V. 2020a: 10).

Abb. 1 Mini-München Stadtrat im Schulzentrum an der Quiddestraße. (Quelle: Kultur & Spielraum e. V.)
Abb. 1 Mini-München Stadtrat im Schulzentrum an der Quiddestraße. (Quelle: Kultur & Spielraum e. V.)

Mini-München verfügt über einen eigenen Stadtplan, der am realen Stadtplan orientiert ist: Es gibt die Mini-München-Stadtteile Nord, Mitte, Ost und West, die insgesamt 40 Spielorte umfassen. Hinzu kommen die zum Stadt-Konzept gehörenden übergeordneten Betriebsbereiche Verwaltung, Politik und Internationales, Bildung und Kultur, Medien, Dienstleistungen, Produktion, Gastronomie, Freizeit und Organisation. In vorherigen Spielstädten lagen diese räumlich dicht beieinander, 2020 wurden sie dezentral durch Holzhütten, Messewände oder Zelte dargestellt.

Abb. 2 Mini-München Stadtplan 2020. (Quelle: Kultur & Spielraum e. V.)
Abb. 2 Mini-München Stadtplan 2020. (Quelle: Kultur & Spielraum e. V.)

Um dem Wunsch nach einem gemeinsamen Spielstadt-Bewusstsein und nach einer kollektiven Identität als Mini-Münchner_innen nachzukommen, bemühten sich die Organisator_innen, durch regelmäßige Kreisläufe (Zeitungen, produzierte Waren, Briefe, Essen etc.) einen dauerhaften Austausch zwischen den einzelnen Stadtteilen herzustellen.

Die übliche dreiwöchige Dauer der Spielstadt (27. Juli bis 24. August 2020) und die üblichen Öffnungszeiten (montags bis freitags von 10 bis 17 Uhr) mussten aufgrund der Hygienebestimmungen nur geringfügig angepasst werden.

Bei genauerer Betrachtung wirft das Spielstadt-Konzept allerdings einige Fragen auf. Ziel des Projektes ist es, eine Stadt der Kinder zu sein und zu zeigen, dass in dieser Stadt „alles auch anders sein könnte“ (Grüneisl/Thiele 2020: 20). Dabei orientieren sich die Strukturen der Spielstadt an einem bestimmten Ideal von Stadt: Die Auswahl der mini-städtischen Betriebe basiert auf dem Verständnis der Organisator_innen von einer „richtigen“ Stadt. Dieses Ideal wird infrage gestellt , wenn Kinder einen eigenen Betrieb eröffnen wollen, den sie als essenziell und städtisch erachten, der in der Konzeption aber nicht vorgesehen ist. Beispielsweise gründete eine Gruppe von Kindern das Mini-München-Casino. Dieses war nie geplant, wurde aber aufgrund des Engagements und der Bürgschaft einer der Organisator_innen dann doch (temporär) in die Spielstadt aufgenommen. Ein weiteres Beispiel ist die Polizei. Diese war auf Wunsch der Organisator_innen seit 2016 nicht mehr in Mini-München vertreten. Die von Kindern im Spiel selbst gegründete „Demokratische Sicherheitspartei“ forderte diese nun allerdings wieder ein, da die Polizei aus ihrer Sicht zu einer realen Stadt dazugehöre. Die Spielstadt entstand im Nachgang der reformerischen 1960er und 1970er Jahre. Dementsprechend finden sich in der Konzeption auch gesellschaftliche Ideale, die beispielsweise Demokratie als zu erstrebende und im Handeln zu erlernende Gesellschaftsform fördern. Damit nimmt die Inszenierung von Stadt in Mini-München einen spezifischen Blick auf Stadt ein. Dieser fokussiert gleichzeitig ein privilegiertes und idealisiertes Erleben von Stadt und ist kaum in der Lage, marginalisierte Positionen (zum Beispiel Differenzierungen nach class, gender oder race) einzufangen. Es ist insofern eine erwachsene Konzeption, die aus einem spezifischen pädagogischen Kontext stammt, der sich auch gegen autoritäre (schulische) Erziehung stellt. Die Mitarbeitenden der Spielstadt sind gleichzeitig Mitspielende. Das bedeutet auch, dass sie in das Spielgeschehen eingreifen, etwa indem sie Kinder zu bestimmten Handlungen ermutigen – beispielsweise, sich an Abstimmungen zu beteiligen oder sich in einem kriminellen Spiel wie einem Bankraub auszuprobieren, ohne dabei die Spielregeln oder andere Mitspielende zu verletzen. Aber auch Kinder sind keine homogene Gruppe. Eine offene Frage bleibt letztlich, welche Kinder sich überhaupt mit Fragen des Städtischen beschäftigen und was Kinder jeweils motiviert, an dem Projekt teilzunehmen. Wenn ein Kind drei Wochen lang Hygienebeauftragte_r bleiben will, kann es das tun, so der pädagogische Ansatz von Mini-München. Es geht um das Spielen von Stadt, aber Konflikte können innerhalb dieses Spiels nur bedingt ausgetragen werden und vor allem nur mit Kindern, die sich dafür begeistern lassen oder sich dazu berufen fühlen – vermutlich, weil sie bereits mit politischer Bildung in Berührung gekommen sind. Etwas weiter gedacht ist auch der Zugang zur Spielstadt von Hürden geprägt, die die Organisator_innen zwar versuchen zu umgehen, die aber nie gänzlich aufgelöst werden können: Familien brauchen Zeit und Geld, um ihre Kinder zum Spielort zu bringen und von dort wieder abzuholen, sofern diese nicht selbstständig dorthin finden (dürfen). Dieses Defizit ungleicher Zugänge zum Stadt-Erleben sollte innerhalb des pädagogischen Konzepts und der Organisation verstärkt reflektiert werden.

Abb. 3 Spielregeln von Mini-München. (Quelle: Kultur & Spielraum e. V. 2020b)
Abb. 3 Spielregeln von Mini-München. (Quelle: Kultur & Spielraum e. V. 2020b)

Letztlich bleibt die Frage, wer die Möglichkeit hat, Raum zu imaginieren und zu gestalten. Diese sehr komplexe Frage muss für diesen Beitrag auf ein Fallbeispiel mit Fokus auf die generationale Ordnung reduziert werden. Durch die Aufteilung auf 40 Spielorte und die Besetzung realer städtischer Räume wie Rathaus, Schulen, Kulturzentren oder Stadtmuseum überlagern sich Spielorte und reale Orte. Das forciert ein doppeltes Nachdenken über und Handeln mit Raum. Durch diese Spielstruktur werden die Kinder gezwungen, sich mehr und anders im städtischen Raum zu bewegen. Das provoziert Konflikte mit Stadt sowie eine intensive Be- und Verhandlung von Stadt, die ich im Folgenden beispielhaft anhand eines Ereignisses aus der Spielstadt nachzeichnen werde. Die Frage dazu lautet: Inwiefern ermächtigt dieses Spiel die Kinder wirklich, sich Raum anzueignen?

2. Das „Flufo“ – Vorstellungen und Wahrnehmungen von Stadträumen

Den größten Teil der Feldforschung verbringe ich in der Stadtplanung von Mini-München, die sich als Betrieb im Münchner Stadtmuseum befindet. Die Mini-München-Stadtplanung beschäftigt sich damit, Visionen von Stadt und Verbesserungsvorschläge für München zu modellieren, Infrastrukturen für die Spielstadt zu planen sowie die (Holz-)Bauten der Spielstadt zu verwalten. An einem Nachmittag in der letzten Woche der Spielstadt 2020 erreicht ein Kind, das die Aufgabe des Sekretärs der Mini-München-Stadtplanung angenommen hat, ein Anruf: Der Stadtrat des Stadtteils Nord habe die Mini-München-Stadtplanung damit beauftragt, eine U-Bahn zwischen den Spielorten Seidlvilla und Olympiapark zu bauen, um die beiden Orte für Kinder besser erreichbar zu machen. Trotz anfänglicher Skepsis greifen die Kinder in der Mini-München-Stadtplanung die Idee rasch auf. Obwohl ihnen bewusst ist, dass es sich beim Bau einer realen U-Bahn in den drei verbleibenden Tagen der Spielstadt um ein unmögliches Vorhaben handelt, diskutieren sie zunächst mit Ernsthaftigkeit die Möglichkeiten. Nachdem das Plenum der Mini-München-Stadtplanung beschlossen hat, dass es keine U-Bahn geben soll, überlegen die Kinder weiter, welche alternativen Fortbewegungsmittel ihnen einfallen. Die Vorschläge orientieren sich an viel genutzten Fortbewegungsmitteln in Mini-München, wie „Schiebe-Taxis“ oder „Schiebe-Bussen“ (meist aus Schubkarren, Rikschas oder Bollerwagen gebaut), schließen aber auch fantastischere Überlegungen wie eine Seilbahn oder Kamele mit ein.

Abb. 4 Zwei Taxifahrer in Mini-München mit „Schiebe-Taxis“. (Quelle: Kultur & Spielraum e. V.)
Abb. 4 Zwei Taxifahrer in Mini-München mit „Schiebe-Taxis“. (Quelle: Kultur & Spielraum e. V.)

Auch wenn die Vorschläge der Kinder zwischen Utopien und Realismus changieren, erwähnen sie immer wieder Aspekte, die eine Verkehrsplanung beachten müsse:

Der Vorschlag der Mini-München-Taxis wird kritisiert, da diese kostenpflichtig seien, die Kinder der Stadtplanung jedoch den Anspruch haben, die Fortbewegung kostenlos zu ermöglichen. Außerdem wird mehrmals angemerkt, dass nicht alle Kinder mobil genug seien, sprich Fahrräder oder sonstige Fortbewegungsmittel besäßen, um die Strecke selbstständig zurückzulegen. Daher solle auf jeden Fall eine Transportmöglichkeit durch die Mini-München-Stadtplanung gestellt werden. Dabei sind sich die Kinder darin einig, welche Transportmittel überhaupt von Kindern nutzbar sein sollen. Autos beispielsweise verstehen sie dezidiert als Fortbewegungsart für Erwachsene, als einzige Ausnahme benennen sie autonom fahrende Autos. Diese wiederum werden jedoch mit dem Argument ausgeschlossen, dass diese primär für Menschen mit Behinderung gedacht seien und sie man ihnen nicht wegnehmen wolle. Zudem wirft das Thema Auto stets die Frage nach Umweltmaßnahmen auf. Fahrräder sind aus Sicht der Kinder prinzipiell die bessere Wahl. Sollte es doch Autos geben, so sollten als Konsequenz mehr Bäume gepflanzt werden, um die Abgase zu reduzieren. Autos, so ein weiteres Argument, seien außerdem schlechter für das Stadtbild. Am Vorschlag einer Brücke über die Straße, auf der Kinder fahren könnten, wird kritisiert, der Schatten, den diese werfen würde, verringere die Wohnqualität an diesen Orten.

Was diese Beispiele klar erkennen lassen, sind die ethischen Kriterien, die die Kinder in ihre Vorstellungen von einer guten Stadt und deren Infrastruktur einfließen lassen. Ethik basiert auf „Fragen der Moral, hier verstanden als Wert- und Normensysteme des richtigen Handelns, und ist untrennbar mit der politischen Auseinandersetzung im Sinne des Streits um die Verteilung von Ressourcen und deren Legitimierung verbunden“ (Ege/Moser 2017: 238). In diesem Fall sind es Fragen des kostenlosen Zugangs und der Verteilung von natürlichen Umweltressourcen einerseits und Fortbewegungsmittels als Mobilitätsressourcen für bestimmte Personengruppen andererseits. Die spezifische Art und Weise, in der die Kinder ihre Vorstellungen diskutierten, stützt sich stark auf Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit und des Umweltschutzes – sie entspringt also nicht allein ihrer Fantasie. Die Kinder greifen Diskurse urbaner Ethiken auf und reproduzieren diese in ihren eigenen Diskursen. Urbane Ethiken beschreiben „einen in spezifischer Weise normativen Umgang mit Charakteristika des Städtischen, der sich an der ‚guten Stadt‘ und der guten und richtigen städtischen Lebensführung orientiert“ (Ege/Moser 2017: 241). Der diskursive Raum „Stadt“ ist einer, in den sie intervenieren können und dürfen, indem sie Diskurse darüber (re-)produzieren. Die Kinder fühlen sich beteiligt und sind beteiligt an urbanen Problemen und damit berechtigt, über Raum zu sprechen.

Das Sprechen über Raum stößt jedoch schnell an eine Grenze, wenn es um den materiellen „erwachsenen“ Stadtraum geht. Das zeigt sich nicht nur an der Verwirrung, die der Wunsch, eine U-Bahn zu bauen, zunächst auslöst, weil ein Junge einen U-Bahn-Bau eindeutig als etwas begreift, das außerhalb seiner Zugriffsmöglichkeiten als Kind liegt. Es zeigt sich aber auch an der Reaktion einer Betreuerin auf diesen Wunsch. Sie schlägt während der Diskussion vor, die Straßen in einer performativen Aktion temporär umzudeuten und beispielsweise aus Fahrradstraßen sogenannte Kinderstraßen zu machen, auf denen die Kinder Vorrang hätten. Doch die Kinder zweifeln: Dürfen sie als Mini-München überhaupt solche Veränderungen im „echten“ München vornehmen? Bei bisherigen Spielstädten, deren Spielorte nicht direkt innerhalb städtischer Strukturen lagen, kamen solche Zweifel nicht auf. Da Mini-München 2020 aber zum Großteil Gebäude und Räume in der realen Stadt nutzt, ergibt sich für die Kinder ein Konflikt. Die Diskussion wirft die grundsätzliche Frage auf, wer überhaupt die Möglichkeit hat, den materiellen Raum zu gestalten und zu verändern. Dabei zweifeln die Kinder selbst ihr Recht an, im Stadtraum in die bestehende Ordnung zu intervenieren und alternative Vorstellungen umzusetzen. Das zeigt sich auf besondere Weise an der Lösung, die letztlich für den Bau der U-Bahn gefunden wurde: das sogenannte „Flufo“. Dabei handelt es sich um eine während Mini-München gebaute Konstruktion aus zwei zusammengeschweißten Fahrrädern, die mit ihrer rot angemalten Holzverkleidung an ein Ufo erinnern soll. Das Mini-München-Reisebüro stellte das Gefährt der Mini-München-Stadtplanung für eine einmalige Fahrt. Zwei Kinder von der Stadtplanung sowie drei Betreuer_innen begleiteten die „Flufonaut_innen“ auf ihrem Weg über eine Fahrradstraße vom Olympiapark zur Seidlvilla.

Abb. 5 Das „Flufo“. Quelle: Kultur & Spielraum e. V.
Abb. 5 Das „Flufo“. Quelle: Kultur & Spielraum e. V.
Abb. 6 Das „Flufo“ auf seiner Fahrt vom Olympiapark zur Seidlvilla. (Quelle: Laura Lefevre)
Abb. 6 Das „Flufo“ auf seiner Fahrt vom Olympiapark zur Seidlvilla. (Quelle: Laura Lefevre)

Zu Beginn der Fahrt sind bei Kindern und Erwachsenen Unsicherheiten zu spüren, sicherlich auch aufgrund der Gefahr für den eigenen Körper, die der Eingriff in den Verkehr mit sich bringt. Dennoch gibt die Begleitung durch Erwachsene den Kindern ein Gefühl der Sicherheit. Sie umfahren zunächst die Sperren am Ausgang des Olympiaparks und zeigen dann zunehmend Selbstbewusstsein, indem sie rhythmisch trommelnd die Parolen „Mini-München findet Stadt“ rufen und auf dem letzten Stück ihren eigenen Weg mit Kreide markieren. Sichtlich bestärkt werden die Kinder dadurch, dass sie auf der gesamten Fahrt kaum negative Reaktionen von Erwachsenen erhalten. Autos und Fahrräder fahren geduldig hinter ihnen her, Passant_innen lachen und fragen neugierig nach, selbst Cafébesucher_innen helfen, das „Flufo“ durch die enge Gasse zwischen den Tischen zu führen. Ein „Flufonaut“ erklärt nach der Fahrt, er habe damit gerechnet, die Autofahrer würden „voll ausrasten“. Er sei sehr erstaunt, dass sich niemand beschwert habe.

Dieses Ereignis macht für die Kinder erfahrbar, dass urbaner Raum generational geordnet ist. Diese Ordnung setzt Akteur_innen in Machtbeziehungen und gewichtet ihren Einfluss auf Raum. Es gibt Orte, an denen Kinder nichts zu sagen haben, weil sie ihm in seiner Grundfunktion nicht zugewiesen sind. Stattdessen werden die Kinder bestimmten kindlichen Räumen zugeordnet, in denen sie eine begrenzte Macht haben – beispielsweise Mini-München als Spielstadt.

Diese stetige Differenzierung zwischen Kindern und Erwachsenen – und zwar als Selbst- und Fremdpositionierung – ist ein notwendiger und zwingender Aspekt generationaler Ordnung (vgl. Kelle 2005: 91). Generation ist Leena Alanen zufolge eine Struktur, die Bezug auf „ein System von Beziehungen zwischen sozialen Positionen“ (Alanen 2005: 75) nimmt. Diese Positionen werden stets wechselseitig (mit-)konstruiert – auch Kinder sind am „generationing“ (dies.: 79) oder „doing generation“ (Kelle 2005: 103) aktiv beteiligt. Dieser Prozess vollzieht sich nicht nur mental, sondern auch materiell: Gefestigt im gebauten Raum, strukturiert die generationale Ordnung auch das eigene Handeln und Machtgefälle. Diese räumliche Ordnung dient mit Michel Foucault gesprochen dazu, Machtverhältnisse zu zementieren: Die Aufteilung des Raumes wird genutzt, um Ordnung zu schaffen – von Menschen, Praxen und Materialitäten. Räume werden damit zu „‚lebenden Tableaus‘, die aus den unübersichtlichen, unnützen und gefährlichen Mengen geordnete Vielheiten machen“ (Foucault 1977: 190). Die Rangfolge ist klar geregelt – beispielsweise im Verkehr: Kinder stehen (außer in ausgewiesenen Spielstraßen) an letzter Stelle. Allein die Vorstellung, in diese Straßenordnung zu intervenieren, ist – wie das Beispiel „Flufo“ zeigt – mit der Erwartung von Strafen und mit dem eigenen Zögern verbunden. Einigen erscheint schon allein das Nachdenken darüber unmöglich. Dieses Wissen um Grenzen haben die Kinder inkorporiert: Bereits in der Diskussion zögern sie, allzu stark einzugreifen, scheuen sich zunächst vor einer Störung des öffentlichen Raumes. Es bedarf einer bewussten Bestätigung der Kinder durch Erwachsene, damit sie genügend Selbstbewusstsein entwickeln, um in den Raum einzugreifen – sei es durch die Spielstadt selbst, durch erwachsene Verantwortungsträger_innen oder durch den Zuspruch Unbeteiligter.

Dieser Beitrag hatte das Ziel, das pädagogische Projekt Mini-München vorzustellen und anhand eines Ereignisses beispielhaft aufzuzeigen, wie Kinder den städtischen Raum im Kontext generationaler Ordnungen imaginieren und verhandeln. Für diese Forschung stand speziell das generationale Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen im Fokus. Andere Differenzsysteme wie race, class oder gender wurden nicht aufgegriffen, müssen bei einer umfassenden Betrachtung aber berücksichtigt werden. Die eigene Position im Raum ist nicht nur durch generationale Verhältnisse bedingt – auch viele Erwachsene sind in öffentlichen Räumen marginalisiert. Zudem besitzen auch Kinder und Jugendliche je nach ihrer sozialen Position unterschiedliche Möglichkeiten der Partizipation. Die Spielstadt erhebt den Anspruch, städtische Realitäten abzubilden und im Spiel mit den Kindern utopische Gesellschaftsvorstellungen zu verhandeln. Dabei bleibt immer zu bedenken, dass die Konzeption von Mini-München bereits normative Vorstellungen von gutem (demokratisch organisiertem) Leben und guter (diverser, friedfertiger) Stadt enthält, die auf eine spezifisch erwachsene, pädagogische Perspektive zurückgehen. Zudem sind die Hürden des Zugangs zur Spielstadt zu beachten, die strukturelle Barrieren und Privilegien aufgrund der sozialen Herkunft reproduzieren oder nur in Teilen aufheben können.

Anhand des Beispiels wurde gezeigt, dass die Kinder sich den städtischen Raum zwar im Gespräch aneignen. Gleichzeitig verdeutlicht es jedoch auch die eingeschränkte Handlungsmacht bei der konkreten Umsetzung dieser Visionen: Die Kinder stoßen auf Hindernisse im gebauten Raum, die mit einer generationalen Hierarchisierung und Kompetenzzuschreibung zusammenhängen. Dennoch erhalten die Kinder durch das Spiel – aber auch durch die Betreuer_innen – temporär die Möglichkeit, sich diesen Raum anzueignen und sich mit ihren Vorstellungen zumindest im Rahmen der Spielstadt Gehör zu verschaffen.

Autor_innen

Laura Lefevre studiert Europäische Ethnologie. Sie arbeitet für ihre Masterarbeit zu den Themen kritische Stadtforschung, Stadtehtnographie und Kindheitsforschung.

laura.lefevre@outlook.de

Literatur

Alanen, Leena (2005): Kindheit als generationales Konzept. In: Heinz Hengst / Helga Zeiher (Hg.), Kindheit soziologisch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 65-82.

Ege, Moritz / Moser, Johannes (2017): Urbane Ethiken: Debatten und Konflikte um das gute und richtige Leben in Städten. Projektvorstellung. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXXI/120 3+4, 237-249.

Foucault, Michel (1997): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Grüneisl, Gerd / Zacharias, Wolfgang (Hg.) (1989): Die Kinderstadt. Eine Schule des Lebens. Handbuch für Spiel, Kultur, Umwelt. Hamburg: Rowohlt.

Grüneisl, Gerd / Thiele, Joscha (2020): Die ersten 40 Jahre. Zur Einführung in die Spielstadt. In: Kultur & Spielraum e. V. (Hg.), Die Spielstadt. Perspektiven auf ein pädagogisches Phänomen. München: kopaed, 15-36.

Huber, Laila (2018): Kritische Kulturarbeit und Kunstvermittlung als Praxisfeld einer eingreifenden Kulturanthropologie. In: Johanna Rolshoven / Ingo Schneider (Hg.), Dimensionen des Politischen. Ansprüche und Herausforderungen der Empirischen Kulturwissenschaft. Berlin: Neofelis, 63-79.

Kelle, Helga (2005): Kinder und Erwachsene. Die Differenzierung von Generationen als kulturelle Praxis. In: Heinz Hengst / Helga Zeiher (Hg.), Kindheit soziologisch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 83-108.

Kultur & Spielraum e. V. (2020a): Mini-München findet Stadt! Dokumentation 2020. München.

Kultur & Spielraum e. V. (2020b): Mini-München Spielregeln 2020. https://www.mini-muenchen.info/spielregeln/ (letzter Zugriff am 9.3.2021).