Von der Stadtsoziologie des Bürgertums zur Stadtsoziologie der industriellen Moderne?

Kommentar zu Hartmut Häußermann & Walter Siebels „Thesen zur Soziologie der Stadt“

Johanna Hoerning

Der hier wieder veröffentlichte Artikel von Hartmut Häußermann und Walter Siebel aus dem Jahr 1978 ist beides, hoch aktuell – und ein Zeitzeuge. In jedem Fall aber ist er ein lehrreiches Traktat über die Frage nach dem Selbstverständnis einer gesellschaftstheoretischen und kritischen Soziologie, sowie über die methodologische Eruierung dessen, was im Rahmen einer so verstandenen (politischen) Soziologie Stadtforschung sein kann. Im Text lassen sich einerseits Perspektiven der Kritik ausmachen, die heute noch Gültigkeit beanspruchen können. Allerdings lösen die Autoren ihre gerechtfertigte Kritik an den Verkürzungen einer banalen und einer bürgerlichen Stadtsoziologie ein für eine raumtheoretische Vereinfachung sowie eine „modernistisch-industrielle“ Verallgemeinerung. Letztere verstehe ich dabei als die Verallgemeinerung von Erkenntnissen, welche aus der Auseinandersetzung mit der industriellen Stadt der Moderne gewonnen wurden. Sie gründet nicht zuletzt in einer zeit- und gesellschaftsspezifischen (historischen) Verengung des Blicks auf (europäische) Stadtentwicklung. Als raumtheoretische Vereinfachung bezeichne ich hinsichtlich des Aufsatzes, dass die Autoren eine Parallelität von Raum und Gesellschaft einführen. Auf beide Kritikpunkte will ich im Anschluss an einige generelle Bemerkungen kurz eingehen.

Häußermann und Siebel identifizieren drei Ansätze einer „älteren Soziologie der Stadt“ (484). Ihr prinzipielles Argument wendet sich dabei gegen die erste dieser drei Stadtsoziologien, welche auf einer sozialtheoretischen Konzeption von Stadt (respektive Gemeinde) als eigenständigem sozialem Tatbestand fußt. Ihr Argument besagt, dass „Stadt“ als eigenständiger Gegenstand nur noch in Form einer administrativen Einheit Bestand habe – also nicht mehr als sozialer Tatbestand. Eine Stadtsoziologie, die sich der Stadt als Gegenstand widmet, muss demnach per se soziologisch ungesättigt sein. Sie verkümmere den Autoren zufolge zu einer „Stadtplanungssoziologie“, die – „theorielos“ und „banal“ – als Auftragsforschung zu einem Bestandteil des „staatliche[n] Krisenmanagement[s]“ werde (485). Damit verkomme die soziologische Stadtforschung zur legitimierenden Hilfswissenschaft (491) und produziere ausschließlich über den bereits verwalteten Ausschnitt städtischer Wirklichkeit solche Ergebnisse, die für kommunale Politik und Planung auch verwendbar sind.

De facto ist die Stadtsoziologie auch im institutionellen Gefüge der bundesdeutschen Hochschullandschaft immer mehr zu einer Hilfswissenschaft geworden: Die Anzahl der Professuren für eine genuin gesellschaftstheoretische Stadtsoziologie an sozialwissenschaftlichen Fakultäten hat sich in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren auf eine überschaubare Anzahl reduziert.[1] Der heute größere Teil der Professuren sind solche, die vor allem die anwendungsbezogenen Planungs- und Architekturstudiengänge bedienen. Das muss nicht per se auch für die Forschung heißen, dass diese keine eigenständige, von den Restriktionen der Praxis losgelöste Themensetzung vornimmt. Aber bezeichnend für die gesellschaftstheoretische Banalisierung der Stadtsoziologie ist dieser institutionelle Trend dennoch.

Die Infragestellung des „Gegenstands“ der Stadtsoziologie allerdings, wie sie von Häußermann und Siebel vorgetragen wird, bringt meines Erachtens ihrerseits Probleme mit sich. Die Autoren verweisen darauf, dass Stadt kein politisch und ökonomisch spezifisches Gebilde mehr sei (485). Sie meinen damit, dass die Stadt, wenn überhaupt, nur noch ein administratives Gebilde ist und das Lokale keine Erklärungskraft für gesellschaftliche Verhältnisse mehr hat. Dagegen ist erstens einzuwenden, dass gesellschaftliche Konflikte nicht ohne ihre lokale Vermittlung, ihre Konkretisierung in verortbaren Auseinandersetzungen zu verstehen sind. Zweitens ist gerade die administrative Bestimmung von Stadt aus soziologischer Sicht fragwürdig, korrespondieren doch administrative Grenzen nicht bzw. immer weniger mit dem, was als Stadt im Alltag hergestellt wird. Ein „sozialer Tatbestand“ des Städtischen kann also in keinem Fall gleichzusetzen sein mit einem Territorium – weder auf nationaler noch auf kommunaler Ebene. Ich will daher zunächst auf die raumtheoretische Vereinfachung bei Häußermann und Siebel eingehen, um daran anschließend die Perspektive auf die „modernistisch-industrielle“ Verallgemeinerung zu skizzieren.

Insbesondere seit den 1990er Jahren ist in der stadtsoziologischen und stadtgeographischen Forschung eine theoretische Perspektive weiterentwickelt worden, die Häußermann und Siebel in ihren Thesen zwar aufwerfen, aber nicht konsequent weiterdenken. Gemeint ist ein raumtheoretisches Verständnis, welches die Vermittlung von Sozialität und Materialität in den Blick nimmt und so zwischen dem Problem der Gegenstandsbestimmung einerseits und der Relation von Lokalem und Gesellschaftlichem (die hier nicht als Gegensatz verstanden werden sollen) andererseits vermitteln kann. Häußermann und Siebel kritisieren zu Recht die in der sozialökologischen Tradition stehenden Ansätze dafür, dass Größe und Dichte als linear-kausale, physisch-räumliche Definitionsmerkmale herangezogen werden.[2] Obwohl sie diese lineare Kausalität zurückweisen, lösen die Autoren die ontologisierende Trennung zwischen Gesellschaft und Raum nicht auf, denn es gibt aus ihrer Sicht für eine Soziologie der Stadt „keinen gesellschaftlich, sondern nur einen räumlich ausdifferenzierten Gegenstand“ (487). Sie ersetzen damit die (falsche) Kausalität des Verhältnisses von räumlichen, ökonomischen und sozialen Strukturen durch eine (falsche) „Parallelität“ von Gesellschaft und Raum.

Angemessener erschiene aus heutiger Sicht eine Perspektive, welche die dialektische Vermittlung zwischen der räumlichen Materialität, der (politisch-planerischen wie wissenschaftlichen) Konzipierung der räumlichen Organisation gesellschaftlicher Verhältnisse einerseits sowie der konkreten und alltäglichen Praxis der Menschen andererseits in den Vordergrund rückt. Aktuelle Arbeiten, die an einer solchen Lefebvreschen Perspektive ansetzen, können nicht nur die Forderung von Häußermann und Siebel nach einer an den Reproduktionsbedingungen der Arbeiter_innen orientierten Perspektive der Forschung einlösen. Sie können auch das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Kräften und deren räumlicher Organisation besser erklären.

Dabei ist den Autoren gleichwohl uneingeschränkt zuzustimmen, dass weder lokale noch soziale Besonderheiten verallgemeinert werden dürfen. Die Kritik an der Verallgemeinerung sozialer Besonderheiten betrifft insbesondere die Perspektive einer verhaltensbezogenen Stadttheorie, welche die großstädtische Anonymität „glorifizier[t]“ (495). Häußermann und Siebel identifizieren diese bei Hans Paul Bahrdt in seiner Gegenposition zur „negativen“ Perspektive der konservativen Großstadtkritik. Bahrdt postuliert affirmativ-normativ eine „positive“ Stadttheorie, die aber „ganz auf Verhaltenstugenden des Bourgeois“ beruht (ebd.).[3] Dabei stellt sich die Frage, ob es etwas genuin Städtisches geben kann, das schicht- und klassenunspezifisch wäre. Die beiden Autoren verneinen dies mit ihrem Plädoyer für eine Stadtsoziologie, die als Verstädterungssoziologie konzipiert wird (496) und die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlicher Entwicklung des Klassenverhältnisses und Stadtentwicklung in den Blick nimmt. Angesichts der marxistischen Konzeption von Stadt als dem Ort der Arbeiterklasse „für sich“ – und damit des Klassenkampfes – fällt aus heutiger Sicht aber auf, dass Arbeiter_innen mit derart unterschiedlichen Realitäten zu kämpfen haben, dass es schwer fällt, diese Homogenisierung mitzugehen[4]. Aus diesem Blickwinkel heraus betrachtet und getreu der Verallgemeinerungskritik der beiden Autoren selbst, könnten so die „städtischen“ Arbeits- und Reproduktionsbedingungen einer polnischen Haushalts- und Pflegehilfe, eines Arbeiters der Opelwerke sowie eines türkischen Dönerladenbetreibers in Frankfurt am Main genauso wenig miteinander verglichen werden wie diejenigen der polnischen Haushalts- und Pflegehilfe in Frankfurt mit der einer ecuadorianischen Haushalts- und Pflegehilfe in Madrid.

Man könnte nun (Häußermann und Siebel entsprechend) sinngemäß argumentieren, dass angesichts dieser Verschiedenartigkeit an Erfahrungsbezügen eben eine zeit- und gesellschaftsspezifische Stadtsoziologie angebracht wäre, die auf jegliche Verallgemeinerung des Städtischen verzichtet. Damit trüge man zwar der Unmöglichkeit universeller Aussagen über die Inhalte gesellschaftlicher Verhältnisse Rechnung, verschlösse sich aber gegenüber Erkenntnisgewinnen aus dem Vergleich städtischer Phänomene, die nicht demselben „Entwicklungsniveau“ zuzuordnen sind (wie etwa von Robinson 2011 kritisch aus postkolonialer Perspektive eingefordert). Zudem würden damit kapitalistische Verhältnisse im Rahmen einer modernisierungstheoretischen Perspektive vereinfacht. Gleichzeitig ist es ein Trugschluss, dass über das vorgeschlagene linear-modernisierungstheoretische Entwicklungsmodell von Stadt und Land (so etwa im Konzept des „cultural lag“ zwischen Land und Stadt bei Häußermann und Siebel, 496) eine allgemeine Aussage über Verstädterungsdynamiken getroffen werden könnte: Diese binäre Opposition hat selbst für das westlich-europäische Modell der gesellschaftlichen Entwicklung der Produktionsverhältnisse nur zeitweise zugetroffen.

Während Häußermann und Siebel zwar konstatieren, dass diese Binarität nicht mehr gegeben sei, leiten sie daraus fälschlicherweise die allgemeine Aussage ab, dass Städte als gesellschaftlich-soziale Einheiten insgesamt nicht mehr bestünden. Denn tatsächlich traf die klare Opposition in dieser Form für einen großen Teil der Welt nie zu. Dementsprechend müssen auch Verstädterungsdynamiken als gesellschaftsspezifisch gesehen werden. Häußermann und Siebel kritisieren wohl die hegemoniale Homogenisierung im Rahmen der bürgerlichen Sichtweise auf Stadt, kommen aber zugleich nicht aus ihrem binären Oppositionsdenken zwischen Stadt und Land heraus. Wenn sich dieser Oppositionscharakter auflöst, dann muss sich aus ihrer Sicht dementsprechend auch die Stadt als gesellschaftliche Einheit auflösen. Dabei ist es gerade die gewählte Perspektive auf die Produktionsverhältnisse, die den Blick auf widersprüchliche Raumproduktionen ermöglicht. Der vergleichende Blick auf das Verhältnis von Stadtentwicklung und gesellschaftlicher Entwicklung, der prinzipiell von Häußermann und Siebel zu lernen ist, leidet aber unter der Verkürzung auf die spezifische Situation der europäischen industriellen (Spät-)Moderne im Übergang von fordistischen zu postfordistischen Produktionsverhältnissen.

Weder im Hinblick auf die Stadt / das Städtische noch auf die Verstädterungsdynamik ist also eine inhaltliche Verallgemeinerung gerechtfertigt. Andererseits muss es gerade die Aufgabe sein, das analytisch Allgemeine der Vermittlung zwischen Sozialität und Materialität zu untersuchen, die in gesellschaftlichen Verhältnissen und Entwicklungen zum Ausdruck kommt. Aus dieser Perspektive können Städte als spezifische Formen der räumlichen Organisation gesellschaftlicher Produktions- und Kräfteverhältnisse gesehen werden. Beide Kritikpunkte am Text von Häußermann und Siebel haben also Konsequenzen für das Verständnis einer gesellschaftstheoretischen Stadtforschung. Dabei ist die prinzipielle Kritik an sozialtheoretischer Verallgemeinerung von Häußermann und Siebel zu lernen, aber auf ihre eigene eurozentrische Verengung auszuweiten. Im Rahmen eines raumtheoretischen Verständnisses eröffnen sich uns damit zwei Perspektiven: Zum einen lässt uns das nach den jeweiligen Spezifika städtischer Ordnungen fragen, ohne dabei eine bestimmte Entwicklungsperspektive als allgemeingültigen Maßstab zu setzen. Zum anderen erlaubt es, sich dem Allgemeinen der gesellschaftlichen Produktion von städtischen Räumen vorsichtig anzunähern, ohne dabei in ein territoriales Verständnis verfallen zu müssen.

Endnoten

Autor_innen

Johanna Hoerning ist Soziologin und arbeitet zu stadt- und raumtheoretischen Fragen, auch im Kontext von Postkolonialität und sozialen Bewegungen

Kontakt: johanna.hoerning@tu-berlin.de

Literatur

Häußermann, Hartmut / Siebel, Walter (1978): Thesen zu Soziologie der Stadt. In: Leviathan 4, 484–500.

Robinson, Jennifer (2011): Cities in a World of Cities: The Comparative Gesture. In: International Journal of Urban and Regional Research 35/1, 1–23.

Hannemann, Christine (Hg.) (2005): Nachrichtenblatt zur Stadt- und Regionalsoziologie. Ausgabe Juli 2005. http://www.sektion-stadtsoziologie.de/downloads/Nachrichtenblatt-letztes-Finis.pdf (28.02.2013).

Harth, Annette / Scheller, Gitta (2010): Stadtsoziologie und Planungsbezogene Soziologie: Entwicklungen und Perspektiven. In: Harth, Annette / Scheller, Gitta (Hg.): Soziologie in der Stadt- und Freiraumplanung. Analysen, Bedeutung und Perspektiven. Wiesbaden, 25–50.