„Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“
Karl Valentin, Mark Twain oder Nils Bohr [1]
Spätestens ab April des Jahres 2020 häuften sich die Medienberichte und alarmistischen Studien über eine massive Krise, die infolge der Coronapandemie die Städte weltweit heimsuche – eine Pandemie, die in den ersten Wochen nicht zufällig häufig mit dem Namen einer chinesischen Metropole benannt wurde. Auch in den sozialen Netzwerken fanden sich rasch unzählige Bekenntnisse des einsetzenden Exodus aus den Städten und düstere Prognosen über ihre Zukunft. Oftmals wurden sie illustriert mit apokalyptisch anmutenden Bildern menschenleerer zentraler Plätze und Straßen in New York, Rio de Janeiro oder Delhi oder überlasteten Behandlungszentren und provisorischen Leichenhäusern. Sei es, wenn Arte in einer Dokumentation über „Das Ende der Megastädte“ (2020) spekuliert, oder davon berichtet wird, dass New Yorks Bürgermeister all jene Reichen, die der Stadt den Rücken gekehrt haben, anflehe, zurückzukommen,[2] oder aber ein neuer „Lockruf der Provinz“[3] gehört wird. Es mangelt, wie Bhan, Caldeira, Gillespie und Simone (2020) schreiben, nicht an monumentalen Begriffen und Beschreibungen zu gegenwärtigen Krisenerfahrungen, und zugleich suggeriert die Erzählung von Krise, dass die vorpandemische Normalität nicht ebenso von multiplen Krisen geprägt war (ebd.).
Zwar wurde der Ton dieser Debatten in den letzten Monaten etwas weniger hyperbolisch, zugleich mehren sich die Studien und Analysen über das tatsächliche Ausmaß der Krise der Städte (Siedentop/Zimmer-Hegmann 2020). Dabei zeigt sich, dass dies in zahlreichen Kontexten durchaus massiv ist und in vielerlei Hinsicht eine Zäsur in bisherigen Entwicklungstendenzen anzeigt. Wenn, wie Samantha Biglieri, Lorenzo de Vidovich und Roger Keil (2020) schreiben, dies die erste Pandemie einer „planetarischen Urbanisierung“ ist, eine Pandemie, die die Menschheit als eine urbanisierte trifft, dann drängt sich die Frage nach den Folgen für Stadt und Stadtforschung auf. Das Coronavirus und seine Bekämpfungsmaßnahmen wie auch die durch sie rasant beschleunigten Digitalisierungsprozesse haben zu Transformationen nahezu jeden Aspekts des urbanen Lebens geführt: von Wirtschaft und Sozialem bis zu Kultur und Alltag. Diese Prozesse, Orte und Erfahrungen werden nun nicht einfach ins Digitale verlagert, sondern adaptieren sich, konstituieren sich neu oder brechen zusammen – mit oftmals weitreichenden Folgen für die Städte und ihre Bewohner_innen.
Wir möchten diese Phänomene und Debatten zum Anlass nehmen, anhand einer Reihe von Symptomen urbaner Krisen einige Fragen zur Zukunft des Städtischen zu formulieren und zur Diskussion zu stellen. Sie betreffen sowohl das Verhältnis von pandemischem Regieren, Digitalisierung und dem Urbanen als auch die Formen von Zukunftserzählungen und -planbarkeiten über das Städtische. Dabei ist auch zu fragen, welche Konsequenzen die im Folgenden skizzierten Transformationen sowohl für die Städte selbst als auch für die Formen ihrer Beforschung und Konzeptionalisierung haben. Kurz gesagt, sie zielen auf nichts weniger als auf das Zentrum dessen, was wir unter Stadt und dem Urbanen verstehen.
Zunächst ist zu konstatieren: Im Zuge der Pandemie haben die klassischen Insignien des Urbanen – Dichte, Zentralität, Begegnungen zwischen Fremden – entweder an Bedeutung verloren oder gelten nun eher als bedrohlich denn erstrebenswert. Auch wenn die Infektionshotspots in Deutschland bis in den Herbst 2020 hinein gerade nicht die Großstädte waren, wandelte sich die räumliche und soziale Dichte in den Metropolen von begehrten Leitbildern wie der durchmischten und kompakten Stadt zu einem pandemischen Albtraumszenario. Eine Erzählung, die besonders laut wird, wenn sie an innerstädtische Quartiere angeschlossen werden kann, die mit Migration und jugendlicher Delinquenz assoziiert sind. Stattdessen gelten nun Distanz, Abschottung und Segregation als erstrebenswerte Formen zur Infektionsvermeidung und -bekämpfung. Hier aktualisieren sich auch Debatten über die hygienische Gefahr, die von den verdichteten „Ballungszentren“ ausgehe, die bereits die Klassiker der konservativen Großstadtkritik und -feindlichkeit des 19. Jahrhunderts umgetrieben haben und in denen vielfach Stadt, Medizin und Moral miteinander kurzgeschlossen wurden. Indes erlebt nicht nur die Zuschreibung der Stadt als krankmachender „Moloch“ eine Renaissance, sondern auch die Verheißung eines besseren und gesunderen Lebens in ruralen oder suburbanen Räumen.
Dieses Begehren der Stadtflucht zeigt sich in einem der sicherlich markantesten Themen im aktuellen medialen Diskurs: die massenhafte Abwanderung Wohlhabender aus den metropolitanen Zentren. In Metropolen wie New York oder London, Chennai oder Lagos lässt sich eine neue Form von white flight beobachten, in der insbesondere (weiße) Mittel- und Oberschichtsfamilien die Innenstädte verlassen. Für sie sind die nun weitestgehend weggebrochenen Vorteile des Stadtlebens wie kulturelle Angebote, kurze Pendeldauer zu Arbeitsplätzen etc. durch Lockdowns und Homeoffice obsolet geworden. Für viele rechtfertigt dies nicht mehr die immensen Lebenshaltungskosten und anderen Einschränkungen, die mit dem Leben und Wohnen in den urbanen Zentren einhergehen. Die Folge sind stagnierende (oder gar sinkende) Wohnungspreise, während der Immobilienmarkt in der Peripherie und dem Umland rasant an Dynamik gewinnt.
Eng mit diesen Entwicklungen verknüpft ist einerseits, dass die bereits vor der Pandemie fortschreitende Digitalisierung von Arbeit wie auch von Konsum und Freizeit enorm vorangetrieben und damit räumlich wie zeitlich flexibilisiert wird. Zudem haben mit der Pandemie und dem Primat des Homeoffice für bestimmte Formen von Arbeit und Bildung nun die zentralen Orte der Schulen, Büros etc. an Bedeutung verloren, was sich nicht zuletzt in dem Leerstand von Gewerbeflächen und Büros bekundet. Die ökonomischen und sozialen Folgen reichen dabei aber weit über den Leerstand dieser Flächen und die veränderte Arbeitswelt der nun im Homeoffice arbeitenden Angestellten hinaus.
Dadurch scheinen sich insbesondere die öffentlichen Räume zu Laboren und experimentellen Anwendungsfeldern von neuen Formen technologisch-autokratischer Kontrolle entwickelt zu haben, die teilweise orwellsche Züge tragen. Diese reichen von dystopischen Berichten über den Zugriff auf einzelne Menschen mittels Drohnen sowie skurril anmutender Roboterhunde, die Passant_innen in Singapur auf Abstandsgebote in öffentlichen Parks hinweisen, über klassische Instrumente repressiver Polizeiarbeit durch Ausgangssperren bis hin zu digital gestützten Bewegungs- und Kontaktprofilen sowie der Aufforderung an die pandemisch regierten Subjekte, sich in sozialer Distanz zu üben.
Um diese neuen Formen des Regierens zu legitimieren, zeigt man gern auf asiatische Städte wie Seoul, Songdo or Shenzhen, wo es trotz drastischer Infektionszahlen gelang, die Sterblichkeitsraten niedrig zu halten und das Virus weitestgehend einzudämmen. Zu verdanken sei dies vor allem dem ubiquitären Einsatz digitaler Überwachungstechniken wie Bewegungstracking oder Thermokameras. Ebenso wird betont, wie wirksam die lokal-staatliche Kooperation mit Technologiekonzernen wie Alibaba sei, deren Kapazitäten in der Analyse von großen Datenmengen die Kontrolle und Voraussage von – insbesondere urbanen – Infektionsclustern und -dynamiken ermöglicht habe.
Zugleich hat gerade eine zunehmende polizeiliche Präsenz und Intervention die Durchherrschung des öffentlichen Raums verstärkt, insbesondere für marginalisierte Bevölkerungsgruppen wie Wohnungslose. Während so zahlreiche urbane Orte als pandemisch umcodiert werden – und damit oft als noch gefährlicher gelten denn ohnehin schon –, versprechen die Räume der Peripherie und des Ruralen angstfreie Entfaltung und Erholung jenseits der Strapazen und Risiken der Stadt.
In all dem kann eine Krise dessen gesehen werden, was vielfach als „urbane Kultur“ beschrieben wird. Dies betrifft sowohl die Krise des Einzelhandels, von Bars und Restaurants wie auch von Theatern, Kinos, Konzerthallen oder Clubs. Während Erstere vor allem durch Außer-Haus-Verkauf und digital gestützte Lieferdienste versuchen, den Betrieb am Laufen zu halten, setzen Kultureinrichtungen auf die Verlagerung ihrer Angebote in den virtuellen Raum durch Livestreams und Pay-per-View-Services. Dabei zeigt sich jedoch, dass diese Strategien nur sehr begrenzt von Erfolg gekrönt sind. Viele dieser Institutionen stehen kurz vor dem wirtschaftlichen Ruin oder haben bereits aufgegeben.
Im Zuge dessen hat auch die in den letzten Dekaden rasant vorangeschrittene Festivalisierung bzw. Eventisierung von Stadtpolitik und städtischem Raum – zumindest vorläufig – ein abruptes Ende gefunden. Während Feste, Sportveranstaltungen, Märkte oder kulturelle Events abgesagt, verschoben oder ins Virtuelle verlagert werden, avancieren zumindest in den Medien die Biermeilen, Karnevalsumzüge, Weihnachtsmärkte oder das Public Viewing zu sehnsüchtig vermissten Insignien urbaner Kultur.
Zugleich lässt sich ein massiver Rückgang des Tourismus wie auch von Geschäftsreisen für Messen, Konferenzen etc. konstatieren, mit drastischen Folgen für die städtischen Ökonomien, vom Hotel- bis zum Taxigewerbe. So kamen 2020 so wenige Tourist_innen wie zuletzt 2004 nach Berlin: Reisebeschränkungen und die Sorge vor einer Coronainfektion haben die Besucherzahlen massiv einbrechen lassen.
Überhaupt wandeln sich Erfahrungen des Kontakts zu Fremden in „urban encounters“ (Amin 2002) von potenziell bereichernden Ereignissen des Alltags zu bedrohlichen und zu vermeidenden Interaktionen. Dies geht einher mit der Umcodierung des städtischen öffentlichen Raums wie Parks, Plätze und belebte Straßen – von attraktiven Orten einer „authentischen Metropolenerfahrung“ zu infektiösen und damit gefährlichen Räumen. Dies hat nicht zuletzt auch für das Kennenlern- und Datingverhalten der Großstadtbewohner_innen weitreichende Konsequenzen. War in den letzten Jahren die romantische Kontaktanbahnung bereits zu großen Teilen auf digitale Plattformen verlagert worden, finden nun oftmals auch die ersten Treffen auf den neu eingerichteten Videochatfunktionen dieser Anbieter statt oder erfordern vorherige kommunikationsintensive Absprachen der Kontakt- und Hygienelogistik.
Diese Krise des Urbanen führt jedoch nicht nur zu einer Entdichtung der Körper sowie einer Digitalisierung und Enturbanisierung des Freizeitsverhaltens. Sie evoziert auch veränderte Vergemeinschaftungsformen, die sich nicht zuletzt durch die Bekämpfungsregularien der Pandemie, wie die Kontaktbeschränkung auf ausgewählte Haushalte, wieder „refamilarisieren“. Angesichts der Renaissance der Familie durch verstärkte Heimarbeit und die Rückverlagerung von Sorgearbeit, Homeschooling etc. in die eigenen vier Wände lässt die Herausbildung einer verstärkten Ungleichheit eine Retraditionalisierung des Alltagslebens vermuten. Zugleich gilt zu fragen, ob man sich in dieser Betonung des Haushalts und des Familiären bei gleichzeitigem erhöhtem Misstrauen gegenüber dem städtischen Fremden als Hygienerisiko wieder an rurale Lebensentwürfe annähert.
Im Zuge dessen lassen sich in den pandemischen und digital hochgerüsteten Städten auch neue Dynamiken der Individualisierung beobachten. Diese sind jedoch anders gelagert als die Merkmale klassisch urbaner Individualisierung, die mit selbstgewählten Gruppenbildungen und öffentlichen Inszenierungsbegehren einhergehen. Stattdessen sieht sich eine Vielzahl der Großstadtbewohner_innen einer Form von Vereinzelung ausgesetzt, die interessen- oder sympathiebasierte Vergemeinschaftung erschwert und stattdessen eine quarantäneähnliche Isolation und Kontaktvermeidung als Idealmodell propagiert. Dass diese Modi atomarisierter Subjektivität mit der Zunahme psychischer Erkrankungen wie auch ansteigender Suizidgefahr einhergeht, haben Gesundheitsexpert_innen weltweit bereits früh erkannt (Ammerman et al. 2021; Bundespsychotherapeutenkammer 2020). Zugleich setzt man auch hier verstärkt auf die Digitalisierung von Angeboten via virtuellen Beratungen und Gruppentherapien. Erschwerend kommt hinzu, dass auch eher flüchtige alltägliche Sozialkontakte und schwache Bindungen stark reduziert sind und zu den möglichen Risikobegegnungen zählen, die es zu vermeiden gilt.
Zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 war die Herausbildung dieser gewissermaßen „anti-urbanen“ Individualisierung allerdings noch mit einer Betonung der Wichtigkeit sogenannter solidarischer Nachbarschaften verbunden. Sie bekundete sich etwa in der Unterstützung der Nachbar_innen aus sogenannten Risikogruppen durch Einkäufe sowie durch den Boom von „Gabenzäunen“ für Wohnungslose, Arme oder andere marginalisierte städtische Gruppen. Zwar gibt es diese Initiativen vereinzelt noch, allerdings hat die Intensität des nachbarschaftlichen Engagements spätestens im Herbst 2020 rapide abgenommen. Ersetzt wurde sie oftmals durch Desinteresse oder Erschöpfung sowie durch ein Denunziationsbegehren, bei dem unliebsame und als störend empfundene Versammlungen bei Nachbar_innen oder im öffentlichen Raum den Behörden gemeldet und ihre Disziplinierung und Bestrafung einfordert werden.
All die oben nur kurz skizzierten und zugespitzten Dynamiken von Stadtflucht, sozialer Entmischung, Umcodierung des urbanen Raums und der Verstärkung von Kontrollregimen, die Städte aktuell durchlaufen, sowie die fortschreitende Refamiliarisierung, Entsolidarisierung und Vereinzelung ihrer Bewohner_innen stehen in engen Wechselwirkungsprozessen. Zugleich werden sie durch fortschreitende Digitalisierung oftmals noch beschleunigt und verstärkt. Die Folge ist in der Tat eine weltweite massive ökonomische, soziale und kulturelle Krise der Städte, die sich in gewisser Weise als ein Prozess der Enturbanisierung beschreiben lässt. Womöglich finden sich hier Anzeichen einer Art Inversion jener „planetary urbanisation“, die Neil Brenner und Christian Schmid in Anlehnung an Henri Lefebvre als Merkmal der kapitalistischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte konstatieren (Brenner/Schmid 2012). Dies meint nicht nur eine Entdichtung der Bevölkerung und eine Transformation der Akkumulationsregime und Gouvernementalitätsformen, sondern auch eine tiefgreifende Transformation dessen, was man gemeinhin als urbane Lebensweise und Kultur bezeichnet.
Gegen all diese Punkte und Zuspitzungen können selbstverständlich Einwände formuliert werden. So scheinen die teils schrillen Diagnosen um das Ende der Städte, die gerade zu Beginn der Pandemie dominant waren, eine eher kurze Halbwertszeit zu haben. Bereits mit dem Ende des New Yorker Lockdowns im Sommer 2020 mischten sich in den medialen Diskurs von den Erzählungen des Aufbruchs ins Ländliche und die Vorstädte erste Stimmen der Reue. Als positive Nachrichten über die Impfstoffentwicklung bekanntgegeben wurden, schlugen die Aktienkurse von Lufthansa und Zoom rasch in Richtung vorpandemischer Normalität um. Ende Oktober 2020 lagen die Immobilienpreise in Manhattan, Brooklyn und Queens gut zwei Prozent über denen des Vorjahres. Die Rede vom Homeoffice ist zudem in weiten Teilen eine Rede eines privilegierten Teils der Wissensökonomie.
Hier zeigen sich bereits die Grenzen einer allein auf Stadt und Urbanität abhebenden Krisendiagnostik. Sie täte womöglich gut daran, etwas genauer auf Akteure und weniger auf räumliche Konfigurationen zu schauen. Doch auch wenn man der Rede um das „Ende der Städte“ skeptisch gegenüberstehen mag, ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass sich aktuell tiefgreifende Transformationen abzeichnen, die sie, wie die Gesellschaft insgesamt, über lange Zeit prägen und verändern werden.
Dies wäre im Übrigen nicht das erste Mal, dass Städte durch Pandemien in tiefe Krisen gestürzt und infolge an Bedeutung verlieren würden. Nicht nur hatten die wiederkehrenden Ausbrüche der Pest vom 14. bis ins 18. Jahrhundert zahlreiche Städte in Europa und Vorderasien stark entvölkert, ihre Ökonomien ruiniert und ihre Kultur- und Bildungseinrichtungen vertrieben oder zerschlagen. Auch die Choleraausbrüche des 19. Jahrhunderts forderten insbesondere in den urbanen Zentren wie London, Moskau oder Havanna unzählige Tote und ließen ihre Wirtschaft wie Sozialstruktur kollabieren. Zudem hatten diese Pandemien massiven Einfluss auf die Umgestaltung ihrer baulichen Gestalt und sozioökonomischen Ordnung. Zu den pandemischen Langzeitfolgen für die Städte zählten sowohl ein immenser Innovationshub im Hinblick auf die Implementierung neuer Infrastrukturen wie etwa Kanalisationssysteme, als auch die Umsetzung von Wohnreformen und Gesundheitsprogrammen.
Zudem lassen sich die spätestens seit dem 19. Jahrhundert regelmäßig wiederkehrenden Debatten und Prophezeiungen hinsichtlich der Krise oder gar des Endes der Städte rückblickend als Symptome tiefgreifender gesellschaftlicher Transformationen deuten. Während die Großstadtkritik des späten 19. Jahrhunderts auf die Industrialisierung und die Verelendung weiter Teile der Bevölkerung reagierte, bekundete sich in den Lamentos der 1970er Jahre über Suburbanisierung und Gettoisierung die Krise fordistischer Ökonomien und der durch neue Kommunikationstechnologien beförderte Aufstieg des tertiären Sektors. In ihrer Fokussierung auf die Stadt als Ort oder Ursprung der Krise haben diese Diagnosen zwar oft das Falsche adressiert, sich aber zuverlässig als wichtige Indikatoren für die Etablierung neuer kapitalistischer Akkumulations- und Regulationsweisen erwiesen. Zudem haben diese anti-urbanen Diskurse oftmals wichtige Impulse für die Herausbildung neuer Forschungsansätze und Theoriemodelle in der Stadtforschung gegeben, von der Chicago School bis zu Ansätzen des critical urbanism.
Und so bietet auch diese Krise der Städte womöglich die Chance, die Vorannahmen, Perspektiven und Methoden einer sich selbst als „kritisch“ verstehenden Stadtforschung auf den Prüfstand zu stellen und zu schärfen. Dabei ließen sich einerseits die Merkmale apokalyptischer Mediendiskurse in den Blick nehmen und auf ihre Funktionen und Wirkungsweisen hin befragen. Andererseits gilt es, die aktuell stattfindenden Transformationen urbaner Ökonomien, Kulturen und Alltagspraktiken durch Digitalisierung und Pandemie durchaus ernst zu nehmen und ihre Wirkungen, Akteurskonstellationen und Ungleichheitsdynamiken zu beleuchten.
Eine Debatte über die Transformation des Urbanen angesichts der weltweiten Pandemie und fortschreitender Digitalisierung ließe sich beispielsweise anhand der anschließend formulierten Fragen führen. Diese sind selbstverständlich nicht vollständig und können gern erweitert sowie hinsichtlich ihrer Formulierung und Perspektive selbst kritisch diskutiert werden.
Wir laden somit ausdrücklich zu Widerspruch und Dissens ein sowie dazu, die aktuellen urbanen Transformationen in alternativer Weise zu beschreiben, zu konzeptionalisieren und zu kritisieren. Allerdings besteht auch die Möglichkeit, dass wir es hier in der Tat mit einer fundamentalen Zäsur und den ersten Anzeichen einer planetarischen Enturbanisierung zu tun haben, die die Städte ähnlich tiefgreifend verändern werden wie andere globale Pandemien vor ihnen.
Dieser Artikel wurde durch Mittel des Open Access Publikationsfonds der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg gefördert.
Stefan Höhne ist Kulturwissenschaftler, Historiker und Teil der Redaktion von sub\urban. Er forscht zu Geschichte und Theorie des Städtischen sowie zu technischen Raumproduktionen und materieller Kultur.
stefan.hoehne@metropolitanstudies.de
Boris Michel ist Geograph und Teil der Redaktion von sub\urban. In der Stadtgeographie arbeitet er zur Zeit an einem Projekt zu urbanen Drogenkulturen sowie zu Geschichte der Stadtgeographie.
boris.michel@geo.uni-halle.de
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