Urbanistische Heimsuchungen

Kommentar zu Stefan Höhne und Boris Michel „Das Ende des Städtischen? Pandemie, Digitalisierung und planetarische Enturbanisierung“

Nikolai Roskamm

In den 1950er-Jahren entwarf der russisch-amerikanische Autor Isaac Asimov (1993 [1952], 1982 [1952]) in seinen Romanen die Zukunft einer vollkommen verstädterten Gesellschaft. In seiner Foundation-Trilogie berichtet er von dem Planeten Trantor, der aus einer einzigen Stadt mit 40 Milliarden Einwohner*innen besteht. In dieser Stadt wird das menschliche Verhalten mit der sogenannten „Psychohistorie“ auf mathematische Gleichungen reduziert und damit vorhersagbar. Die Bevölkerung wird durch quantitative Analyse einer Steuerung zugänglich gemacht. In Asimovs Vision ist die „Psychohistorie“ die Voraussetzung für die Verwaltung des urbanisierten Planeten: Statistik und Technik ermöglichen es, den planetarischen Moloch zu regieren. Einige Jahre später inspirierte Asimovs Science-Fiction Henri Lefebvre zu seiner Theorie einer planetarisch verstädterten Gesellschaft. In The Urban Revolution zeichnet Lefebvre (2003 [1970]) ein einfaches Diagramm einer Linie, die bei 0 % beginnt und bei 100 % endet. Ausgehend von dem empirischen Befund einer weltweit zunehmenden Verstädterung entwirft er ein gesellschaftstheoretisches Panoramabild. Sein Ausdruck einer komplett verstädterten Gesellschaft entspringt dabei vor allem einem „theoretischen Bedürfnis“ und ist zugleich Hypothese und Definition (Lefebvre 2003 [1970]: 5). Für Lefebvre geht es darum, Stadt und das Städtische als etwas zu verstehen, was nur jenseits einer Fragmentierung in verschiedene Partikularitäten zugänglich ist und das allein als totales Phänomen (als Phänomen der Totalität) begriffen werden kann. Seit einigen Jahren wird in der kritischen Stadtforschung unter dem Schlagwort der „planetarischen Urbanisierung“ (Brenner/Schmid 2014; Ruddick et al. 2018) eine Diskussion geführt, die sich direkt auf Lefebvres Stadttheorie bezieht und versucht, eine Alternative zum neoliberalen und positivistischen Mainstream technokratischer, marktorientierter Stadtdiskurse zu entwickeln.

In ihrem Aufschlag zur s u b \ u r b a n-Debatte betrachten Stefan Höhne und Boris Michel (2021) die aktuelle globale Pandemiekrise und rufen dazu auf, über deren Auswirkungen auf die Stadt und das Städtische nachzudenken. Dabei beziehen sie sich explizit auf die Debatte zur planetarischen Urbanisierung und kehren die These probehalber in die Anti-These von der planetarischen Enturbanisierung um. Sie schlagen vor, einen doppelten urbanen Niedergang zu denken, nämlich den Niedergang der Städte und den Niedergang des Städtischen. Um ihre Thesen zu belegen, benennen sie neun durch die Covid-Krise hervorgerufene Niedergangssymptome: Dichte als Gefahr, Exodus der Stadtbewohner*innen, zunehmende Digitalisierung, zunehmende Überwachung, abnehmende urbane Kultur, Gefahr von Begegnungen, zunehmende Ruralisierung, zunehmende Individualisierung sowie Zerfall von Nachbarschaften.

Mit meinem Kommentar möchte ich zu dieser Debatte beitragen, indem ich zum einen die Referenz zum Diskursraum der planetarischen Urbanisierung etwas expliziter mache und zum anderen die Punkte von Höhne und Michel um zwei eher historisch angelegte Überlegungen erweitere. Zunächst bemühe ich mich dabei, den Punkt zu präzisieren, den Höhne und Michel (2021) an den Anfang ihrer Liste gestellt haben und beschäftige mich mit der Konzeption von „Dichte als Gefahr“. Anschließend ergänze ich die Aufzählung im Debattenaufschlag um einen Aspekt und berichte vom Wiedererstarken des Biopolitischen in Zeiten der Pandemie. Beide Themen – Dichte und Biopolitik – sind Kernbereiche der klassischen Stadtplanung und suchen in der aktuellen Pandemiekrise den gesellschaftlichen und politischen Diskurs heim. Dabei werden sie zu zentralen Denkfiguren einer den urbanistischen Bereich überschreitenden generellen Regierungstechnik. Vor diesem Hintergrund diskutiere ich am Ende meines Textes die Thesen vom Niedergang der Städte und des Städtischen sowie die Rede von der planetarischen Enturbanisierung. Beim letztgenannten Punkt schlage ich vor, die von Höhne und Michel angeregte Umkehr wiederum umzukehren: Die durch die aktuelle Krise hervorgerufene (oder zumindest beschleunigte) geisterhafte Wiederkehr klassischer urbanistischer Motive kann aus dieser Perspektive gerade als Anzeichen einer weiter voranschreitenden planetarischen Urbanisierung gewertet werden.

1. Das Gespenst der Dichte

Die Geschichte der Dichte ist lang und sie ist eng verknüpft mit der Entwicklung der Moderne. Im Grunde sind in den letzten 250 Jahren vor allem zwei Erzählungen über die Dichte verbreitet gewesen: zum einen die Erzählung von der ‚schlechten‘ Dichte, in der Dichte synonym ist mit ‚zu viel‘, mit Überfüllung, Enge, Chaos und Krankheit; zum anderen das Narrativ von der ‚guten‘ Dichte, dem zufolge Gesellschaft, Kultur oder Zivilisation immer Verdichtungen benötigen, um sich weiterentwickeln zu können. Besonders hartnäckig verbreitete sich die negativ aufgeladene Beschreibung der Dichte in konservativen Zusammenhängen, während die Erzählung von der guten Dichte eher Vertreter*innen der Moderne für sich einnehmen konnte. In der Geografie und in der Nationalökonomie des späten 19. Jahrhunderts wurde die Dichte meist als etwas Schlechtes und Schmerzhaftes dargestellt. Die frühe Soziologie sowie die reformerischen Zweige der Volkswirtschaftslehre verteidigten die Dichte hingegen zur gleichen Zeit, indem sie sie zum Nährboden jeder gesellschaftlichen Erneuerung erklärten (vgl. Roskamm 2011).

Der größte Resonanzraum für die Dichte ist vermutlich der Urbanismus (Städtebau, Stadtplanung, Stadtforschung etc.). Im modernen Städtebau war die Ablehnung der Dichte seit Mitte des 19. Jahrhunderts (also seit der Gründung der Disziplin) das bestimmende Grundmotiv – und blieb es ein Jahrhundert lang. Diese Ablehnung wurde zu einem zusammenhaltenden Band, auf das sich Linke und Rechte, Moderne und Konservative, Künstler*innen und Techniker*innen lange Zeit einigen konnten. So diagnostizierte etwa der völkisch-nationale Publizist Theodor Fritsch (1912 [1896]: 28) Anfang des 20. Jahrhunderts, dass die „Dichtheit der Bevölkerung in unmittelbarem Verhältnis zur Sterblichkeits-Ziffer und auch zu gewissen sittlichen Zuständen steht“. Diese Bemerkung ist in eine Analyse eingebunden, in der Fritsch die bestehenden Großstädte als „abstoßend häßliche Häuserwüste“, bestehend aus „ein[em] widerwärtige[n] Netz krummer Gassen“ beschreibt, deren „schlimme[r] Charakter […] einen schädigenden Einfluß auf Geist und Sittlichkeit ihrer Bewohner“ ausübe (Fritsch 1912 [1896]: 4). Der junge Le Corbusier, bis heute hoch verehrte Ikone auf dem Gebiet der Architektur, formuliert ähnlich, Städte seien „tödlich erkrankt“ und ihre Umfriedungen „wie von einem Ungeziefer zerfressen“ (Le Corbusier 1929 [1925]: 83). Für Le Corbusier sind die dichten Großstädte „fruchtlose Gebilde: sie verbrauchen den Körper, sie arbeiten dem Geiste entgegen, die Unordnung, die sich in ihnen vervielfältigt, wirkt verletzend: ihre Entartung verwundet unsere Eigenliebe unsere Würde.“ (Le Corbusier 1929 [1925]: VII)

Erst ab den 1960er-Jahren hat sich diese negative Bewertung der Dichte gewandelt. Seit den 1980er-Jahren wurde sie in Form einer städtebaulichen Zielstellung kanonisiert: Eine hohe Dichte galt nun in ökologischer, sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht als tendenziell wünschenswerter Zustand.

Nach dieser aus historischer Sicht eher kurzen Phase, in der die ‚gute‘ Dichte zum guten Ton in Stadtplanung und Städtebau gehört, erlebt die Erzählung von der ‚schlechten‘ Dichte heute eine Renaissance. Im Frühjahr 2020 wurde – vor allem im Rahmen der Berichterstattung über die Covid-19-Krise in New York City – immer wieder der Zusammenhang zwischen der Ausbreitung der Pandemie und der dichten Stadt betont. Auch an anderen Orten gerät das verdichtete Städtische überall unter Verdacht, die Infektion der Gesellschaft voranzutreiben. Die Angst vor der Dichte ist zurück. Sie sucht die Coronadebatten heim und ist Wegbereiterin einer neu aufgelegten Großstadtfeindschaft. Die Angst vor der Ansteckung durch Zustände des dichten Beisammenseins ist die bestimmende Denkfigur. Abstand wahren, Entballung, Distanzierung – diese Gebote laufen in der Dauerschleife der pandemischen Politik. Das Dichtegespenst der alten Tage mutiert zum Geist der neuen Zeit und verdichtet sich zum wiedergekehrten anti-städtischen Generalbass.

2. Biopolitik und Urbanismus

Der Begriff Biopolitik umschreibt nach Michel Foucault (2006, 2003) eine Regierungstechnik, die nicht mehr auf den Körper des Individuums zielt, sondern die Bevölkerung zum eigentlichen Gegenstand ihrer Steuerungsversuche bestimmt. Damit ähnelt Biopolitik der „Psychohistorie“ auf dem Planeten Trantor, von der ich eingangs berichtet habe – beide rücken die große Zahl in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen. Die Bevölkerung ist der multiple Körper, der mit empirischen Erhebungen, Sozialstatistiken, Prognosen und Durchschnittswerten produziert und am Leben gehalten wird. Biopolitik erschafft die Bevölkerung als biologisiertes Objekt und setzt sie als politisches und biologisches Problem. Es gibt fortan eine gesunde Bevölkerung und eine kranke Bevölkerung. Gesundheit und Krankheit werden zu den naturalisierenden Elementen, die über das Wohlergehen der Bevölkerung bestimmen. Dadurch entsteht ein veränderter politischer Handlungsraum. Das Transkribieren des politischen Diskurses in biologische Begriffe, so Foucaults These, produziert die konzeptionellen Voraussetzungen für die Begründungszusammenhänge von Bereichen wie der Gesundheitsfürsorge und der Sozialhygiene.

Auch hier besteht ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem klassischen Urbanismus. Als den wesentlichen Bereich bei der Ausgestaltung der Biopolitik zur Macht- und Wissenstechnik hebt Foucault (2003: 245) das „urbane Problem“ hervor. Stadtplanung und Städtebau sind aus dieser Perspektive biopolitische Projekte der ersten Stunde. Entstanden aus den Polizeywissenschaften (von Mohl 1866 [1833]) des 19. Jahrhunderts entwickelten sich die urbanistischen Steuerungsbemühungen zu den zentralen Regierungstechniken ihrer Zeit. Das wird auch deutlich, wenn Foucault (1994 [1975]: 255) herausarbeitet, wie die „verpestete Stadt“ zum Idealtypus der biopolitischen Regierungskunst wurde. Die Stadt im Zustand der Pest, „die im allgemeinen Funktionieren einer besonderen Macht über alle individuellen Körper erstarrt […] ist die Utopie der vollkommen regierten Stadt/Gesellschaft“ und der Probefall für „die ideale Ausübung des Disziplinarstaats“. Foucault (1994 [1975]: 255) schreibt, dass sich die Urbanist*innen – ähnlich wie die Jurist*innen, wenn sie sich in den Naturzustand versetzen, „um die Rechte und Gesetze in der reinen Theorie funktionieren zu lassen“ – die Stadt im Pestzustand träumen, um im Planspiel „die perfekte Disziplin funktionieren zu lassen“. Die Stadt der Pest ist der Ausnahmezustand, der den absoluten Zugriff der Stadtplanung möglich oder zumindest denkbar macht.

Auch die aktuelle Krise ist zweifelsohne ein biopolitisches Ereignis.[1] Die vom Virus infizierte Bevölkerung wird zum Grund, zum Gegenstand und zum Ziel aller Politik. Öffentliche Diskussion und politische Entscheidungen sind unmittelbar mit Bevölkerungsstatistiken verbunden. Die täglich aktualisierten Diagramme der Johns-Hopkins-Universität zeigen die weltweite Entwicklung der positiv Getesteten. Überall (planetarisch!) geht es um die Anzahl positiver PCR-Tests, um R-Werte, Inzidenzen, die Auslastung von Intensivbetten, um Todeszahlen. Der Bevölkerungskörper ist erkrankt und darauf folgen die biopolitischen Versuche, zu seiner Gesundung beizutragen. Die Blaupause solcher Steuerungsbemühungen ist der biopolitische Urbanismus. Das Bios der Disziplin, mit dem die Stadt als Stadtkörper gedacht und eine Pathologie der Stadt betrieben wird, findet in den Körperbildern der Pandemiesituation einen direkten Widerhall. Wie zu Zeiten der klassischen Moderne geht es wieder um Volksgesundheit, Hygiene und Infektion. Statistiker*innen berechnen Modelle von möglichen Virus-Mutationen und deren Auswirkungen auf den Bevölkerungskörper. Das globale politische Handeln ist in den weltumspannenden Modus der verpesteten Stadt versetzt. Die biopolitische Pathologisierung ist der urbanistischen Sphäre entrückt und zum bestimmenden Denkstil des aktuellen Regierens geworden.

3. Krisen des Städtischen

In ihrem Debattenaufschlag setzen Höhne und Michel (2021) ein so wichtiges wie naheliegendes Thema, nämlich die Diskussion über die Auswirkungen der Covid-19-Krise auf die Formen des Urbanen. In ihrer leicht provokant gestalteten Intervention entwerfen sie ein eher pessimistisches Bild und werfen verschieden konzipierte Untergangsüberlegungen in den Ring. Genau genommen stellen sie dabei drei thesenartige Konzepte zur Diskussion: das Ende der Städte (1), das Ende des Städtischen (2) und die planetarische Enturbanisierung (3). Aus meiner Sicht ist keines dieser drei Modelle besonders plausibel, und zwar aus recht unterschiedlichen Gründen.

Im Teil (1) ihrer Tripelthese imaginieren Höhne und Michel „die Städte“ als selbstständige Einheiten. Im proklamierten Niedergang werden Städte als geografisch-verwaltungstechnisch definierte Akteurinnen gedacht, die durch die Covid-Ereignisse in eine Krise geraten sind, in deren Folge sie (die Städte) an Einwohner*innen verlieren oder sogar ganz von der geografischen Landkarte verschwinden. Eine solche Konzeption gerät nun allerdings gleich zu Beginn in Widerspruch zum anfangs skizzierten Ansatz von Lefebvre. Jede einzelne dieser Städte, so lautet das Argument von Lefebvre, ist immer total komplex. Der Stadtbegriff definiert sich gerade durch die ihm eigene infinite Komplexität und Totalität. Dadurch wird Stadt im Lefebvre’schen Sinne der einfachen empirischen Bestimmung kategorisch entzogen und nur in ihrer Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit sinnhaft diskutierbar. Die These vom „Niedergang der Städte“ ist meines Erachtens daher schon deshalb nicht überzeugend, weil sie diesen – aus meiner Sicht zentralen – Gedanken einer kritischen Stadtforschung nicht beachtet und darauf beruht, Städte als einheitlich handelnde Akteurinnen zu denken und eine quantitativ-empirische Zugänglichkeit dieser Stadtgegenstände behauptet.

Komplexer ist die Problematik von Teil (2) der Niedergangsthese, in dem Höhne und Michel vorschlagen, das Ende des Städtischen zu denken. Aus meiner Sicht ist es ein notwendiges Unterfangen jeder kritischen Stadtforschung, immer wieder zu umkreisen, worin dieses Städtische besteht und ob es so etwas überhaupt gibt oder geben kann. Die im Debattenaufschlag gewählte Referenz auf Lefebvre ist hier vielleicht weiterführend. In The Right to the City schlägt Lefebvre (1996 [1968]: 142) eine „spektrale Analyse der Stadt“ vor und rückt die „Gespenster der Stadt“ ins Visier, die vor unseren Augen spuken. Lefebvre schreibt, dass nicht mehr das Gespenst des Kommunismus umgehe, sondern dass dieses durch einen anderen Geist ersetzt worden sei, nämlich durch die „Schatten der Stadt“. Die Gespenster hausen in den unzählbaren Residuen des Urbanen, in den materiellen und in den diskursiven Versatzstücken, in denen die Bedeutungen vergangener Zeiten aufgehoben sind. Aus diesen Residuen und Geistern besteht das Städtische. Die Stadt ist eine Verdichtungsform, eine Verdichtung von Konflikten, Gegensätzen und Antagonismen, die sich in den Dingen und Gespenstern als den konzentrierten Heimsuchungen des Städtischen materialisieren. Ein so gedachtes Städtisches kann in eine Krise geraten – aber zu Ende gehen kann es wohl eher nicht. Die neun Punkte, die Höhne und Michel in ihrem Debattenaufschlag nennen, sind daher weniger Symptome eines Niedergangs, als vielmehr Symptome einer Krise. Historisch betrachtet ist das Städtische allerdings etwas, was immer im Krisenmodus funktioniert hat und was vermutlich genauso auch weiter funktionieren wird. Die Entwicklung des Städtischen ist ein stets krisenhafter Prozess – die Krisenhaftigkeit ist das konstitutive Element urbaner Entwicklung. Städte sind die Orte von Krisen und Konflikten und die aktuelle Krise ist ebenfalls (auch) eine städtische Krise, die sich in solchen Symptomen zu erkennen gibt.

Teil (3) der verdichteten These von Höhne und Michel ist die Rede von der planetarischen Enturbanisierung, also der Umkehrung dessen, was in der kritischen Stadtforschung als planetarische Urbanisierung gehandelt wird. Die von mir anfangs skizzierte geschichtliche Einordnung sollte darauf aufmerksam machen, dass es sich beim Ausdruck „planetarische Urbanisierung“ nicht um eine empirisch bestimmbare Entwicklungslinie handelt, sondern um den Versuch, ein über die empirische Beobachtung hinausgehendes Theoriemodell zu generieren. In diesem Sinne verstanden ist es wenig plausibel, von einer durch die Pandemie hervorgerufenen Umkehrung zu sprechen. Eine Umkehrung des theoretischen Modells müsste nämlich behaupten, dass Stadt besser als Partikularität zu denken sei oder dass die Betrachtung ihrer verschlungenen Beziehungen zum Totalen in die falsche Richtung führe. Das aber behauptet – soweit ich die Diskussion überblicke – niemand und die pandemische Situation bietet dafür auch keinen Anlass. Hinzu kommt, dass eine These von der multiplen Krise des Städtischen dem Empirie-Theorie-Modell der planetarischen Urbanisierung keineswegs widerspricht. Wenn Krisen das Städtische konstituieren, dann ist eine Zunahme von Krisensymptomen kein Anzeichen für einen Niedergang der Urbanisierung, sondern eher ein Zeichen für deren Verstärkung.

Vielleicht beobachten wir daher aktuell auch genau das Gegenteil einer planetarischen Enturbanisierung. In der aktuellen globalen Krise kehren die klassischen Grundprinzipien des modernen Urbanismus wieder und suchen die pandemische Situation heim. Das Gespenst der Dichte ist zurück, die biopolitisch verfasste Regierungskunst ist auf dem Vormarsch. Was wir feststellen können ist, dass der Urbanismus sich in der pandemischen Moderne verallgemeinert, dass er sich sequenziert und dass er als Grundprinzip des pandemischen Regierens hegemonial wird. Das führt aus meiner Sicht schließlich noch zu einer weiteren These: Analyse und Kritik des Städtischen bleiben in der Pandemie überaus aktuell und relevant.

 

Die Publikation dieses Beitrags wurde durch den Open-Access-Fonds der Fachhochschule Erfurt ermöglicht.

Endnoten

Autor_innen

Nikolai Roskamm beschäftigt sich mit Stadt- und Raumkonzepten, Theorien des Politischen und der Wissenschaftsgeschichte des Urbanismus.

nikolai.roskamm@fh-erfurt.de

Literatur

Asimov, Isaac (1982 [1952]): The Foundation novels. Foundation. New York: Bantam Books.

Asimov, Isaac (1993 [1952]): Alle Wege führen nach Trantor. Die Foundation-Trilogie, Band 3. München: Heyne.

Brenner, Neil / Schmid, Christian (2014): The „urban age“ in question. In: International Journal of Urban and Regional Research 38/3, 731-755.

Foucault, Michel (1994 [1975]): Überwachen und Strafen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Foucault, Michel (2003): „Society must be defended“. Lectures at the Collège de France, 1975-1976. New York: Picador.

Foucault, Michel (2006): Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II – Vorlesungen am Collège de France 1978/1979. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Fritsch, Theodor (1912 [1896]): Die Stadt der Zukunft. Leipzig: Verlag von Theodor Fritsch.

Höhne, Stefan / Michel, Boris (2021): Das Ende des Städtischen? Pandemie, Digitalisierung und planetarische Enturbanisierung. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 9/1-2, 141-149.

Le Corbusier (1929 [1925]): Städtebau. Berlin/Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart.

Lefebvre, Henri (1996 [1968]): The right to the city. In: Elenore Kofmann / Elizabeth Lebas (Hg.), Writings on cities. Oxford: Blackwell, 61-181.

Lefebvre, Henri (2003 [1970]): The urban revolution. University of Minnesota Press.

Mohl, Robert von (1866 [1833]): Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates. Erster Band. Tübingen: Laupp’sche Buchhandlung.

Roskamm, Nikolai (2011): Dichte. Eine transdisziplinäre Dekonstruktion. Bielefeld: Transcript.

Ruddick, Sue / Peake, Linda / Tanyildiz, Gölbörü S. / Patrick, Darren (2018): Planetary urbanization: An urban theory for our time? In: Environment and Planning D: Society and Space 36/3, 387-404.