Androzentrische Leerstellen der Stadtforschung. Geschlechtliche Arbeitsteilung, heteronormative Geschlechterkonstruktion und deren sozialräumliche Organisation

Kommentar zu Hartmut Häußermann & Walter Siebels „Thesen zur Soziologie der Stadt“

Sybille Bauriedl

Perspektiven auf politische und soziale Verhältnisse der Stadt

Das Grundanliegen des Textes von Häußermann und Siebel (1978) ist nach wie vor aktuell. Sie fordern eine Stadtsoziologie, die die Zusammenhänge zwischen politischen, ökonomischen, sozialen und räumlichen Entwicklungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene betrachtet, um die Aufmerksamkeit weg von Randgruppenthemen lokaler städtischer Konflikte hin zu den stadträumlichen Konsequenzen kapitalistisch organisierter Industrialisierung zu lenken (Häußermann/Siebel 1978: 487). Und sie kritisieren die bis Ende der 1970er Jahre leitenden Stadttheorien, die eine angemessene Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Klassenverhältnissen für die Stadtentwicklung ausblenden.

Andere soziale Verhältnisse städtischer Bevölkerung geraten überraschenderweise nicht in den Blick der beiden Autoren. Obwohl sie sich mit der Stadt als Ort der Produktion und Reproduktion beschäftigen, fällt ihnen nicht auf, dass geschlechtliche Arbeitsteilung räumlich manifestiert ist und die Nutzung städtischer Räume ganz offensichtlich entlang von Geschlechtergrenzen normiert ist – in den 1970er Jahren noch sehr viel deutlicher als heute. Mein Kommentar konzentriert sich daher auf eine feministische Perspektive der Stadtforschungsdebatte. Diese verfolgt die These, dass Geschlecht und geschlechtliche und sexuelle Identität in Städten räumlich organisiert und in diese eingeschrieben sind. Stadtstruktur bietet und begrenzt Möglichkeiten der vergeschlechtlichten Aneignung von Stadtraum, der Gestaltung von Geschlechterverhältnissen und der Repräsentation geschlechtlicher und sexueller Identität. Eine Stadtsoziologie im Sinne einer Gesellschaftsanalyse hat daher ohne die Thematisierung von Geschlechterverhältnissen nur begrenzten Erkenntniswert, bzw. ist – in der Wortwahl von Häußermann/Siebel – „banal“. Die Perspektive auf Differenzstrukturen entlang von Rasse und Sexualität werde ich in diesem Kommentar nicht vertiefen, da diese Kategorien zum Zeitpunkt des verfassten Beitrags die deutschsprachige soziologische Debatte im Vergleich zur Kategorie Geschlecht noch kaum berührt haben.

Koproduktion von Stadt- und Geschlechterstrukturen

Häußermann und Siebel kritisieren, dass die Stadtsoziologie „räumliche Strukturen und ihre Veränderungen als eigenständige Ursachen sozialer Phänomene isoliert“ (ebd.: 488) betrachtet und damit zu einer Entpolitisierung der Soziologie der Stadt beiträgt. Gegen diese einfache Kausalität argumentieren auch feministische Stadtforscher_innen seit Ende der 1970er Jahre. Für sie sind räumliche Strukturen immer auch das Ergebnis hierarchischer Gesellschaftsstrukturen. Sie verstehen Stadtplanung und Stadtforschung immer als politisch, da Wahrnehmung, Benennung und Bearbeitung sozialräumlicher Fragestellungen immer ideologisch durchsetzt sind. Während die feministische Stadtforschung sich auf Geschlecht als zentrale Differenzkategorie bzw. auf die Verschränkung von Klasse und Geschlecht konzentriert, liegt der wissenschafts- und herrschaftskritische Fokus der Thesen von Häußermann und Siebel auf der Differenzkategorie Klasse. Häußermann/Siebel fragen: „Was bedeutet Stadtentwicklung für die Entwicklung des Klassenverhältnisses?“ (ebd.: 496), und sie mahnen das geringe Wissen über proletarische Lebenswirklichkeiten und die Konzentration des Erkenntnisinteresses auf bürgerliche Erfahrungen städtischen Lebens an. Eine herrschaftskritische Stadtsoziologie solle die Verräumlichung sozialer Konflikte und sozialer Exklusionen in der Stadtforschung entlarven. Sie fordern hierfür sozial differenzierte Analysen: „Eine Beschreibung der tatsächlichen Situation und der Entwicklung des Niveaus der Reproduktionsbedingungen der verschiedenen Schichten der Lohnabhängigen ist eine dringliche Aufgabe einer kritischen Stadtsoziologie.“ (ebd.: 498)

Die Betonung des Stellenwerts von reproduktiver Arbeit, die primär und unbezahlt durch Frauen geleistet wird, ist ein zentraler Fokus feministischer Kritik. Durch die Nichtentlohnung von Reproduktionsarbeit wird diese Tätigkeit unsichtbar gemacht und erscheint als nicht relevant für die Stadtsoziologie. Welchen Reproduktionsbegriff verwenden Häußermann und Siebel in ihrem Text? Sie definieren „Verstädterung [als] Konsequenz und Faktor des sozialen Wandels, der Änderung der Produktionsverhältnisse, Familienstrukturen, der Vergesellschaftung von Funktionen der Reproduktion“ (ebd.: 497). Auch wenn die Autoren den Reproduktionsbegriff an keiner Stelle erläutern, ist im Kontext der marxistischen Gesellschaftstheorie, auf die sie sich beziehen, davon auszugehen, dass es ihnen um die Reproduktion von Arbeitskraft (auf individueller und gesellschaftlicher Ebene) geht. Sie fragen jedoch nicht, in welcher Weise Reproduktionsarbeit innerhalb der Klassengrenzen verteilt ist. Als reproduktive Tätigkeiten gelten Kinderbetreuung,-versorgung und -erziehung sowie Haus- und Familienarbeit – Arbeiten, die traditionell Frauen zugeschrieben wurden und werden. Geschlechtliche Arbeitsteilung und deren stadtstrukturelle Festschreibung durch eine räumliche Distanz zwischen Produktion (Erwerbsarbeit, öffentliche Sphäre) und Reproduktion (Hausarbeit, private Sphäre) muss daher zentraler Analysegegenstand der Stadtsoziologie sein (Fleischmann/Wucherpfennig 2008, Becker 1991).

Die Autoren geben nur wenige Beispiele für die stadträumliche Produktion sozialer Verhältnisse. Sie sprechen das „Leben in Stadtrandsiedlungen“ und „Wohnbedürfnisse“ an sowie „Pendlerzeiten der Arbeitnehmer“ als Stadt strukturierendes Kriterium. Dass sie die Bedeutung normierter Geschlechterverhältnisse und Familienstrukturen dabei nicht in den Blick nehmen, verwundert die heutige Leserin sehr. Waren doch gerade westdeutsche Großstädte seit Mitte der 1970er Jahre geprägt von einer gesellschaftlichen Debatte um Lebensverhältnisse in Großwohnsiedlungen (Mitscherlich 1965), von den innerstädtischen Arbeitersiedlungen als neue Biotope für alternative Wohn- und Lebensentwürfe (Häuserkampf Frankfurt 1974) sowie einer Kritik an den wuchernden Stadträndern für den Traum der Kleinfamilienidylle. Der Stadtplanung dieser Jahre hingegen geht es weiterhin um die räumliche Optimierung einer Funktionstrennung von Erwerbsarbeit und Reproduktionsarbeit. Die androzentrische Stadtforschung nimmt dabei allein die Alltagswelt von Männern der Industriegesellschaft in den Blick, genauso wie die Planung sich überwiegend an den Vorstellungen und Bedürfnissen vollerwerbstätiger, automobiler Männer mittleren Alters orientiert (Gretschel/Fleischmann 2008). Frauen, Kinder, alte Menschen – und arbeitslose Männer – sind weder Ausgangspunkt der Stadtplanung, noch der Stadtsoziologie. Frauen werden in diesem Bild primär als Mütter und Familienversorgerinnen wahrgenommen und nicht als Berufstätige, die ggf. Versorgungsaufgaben als Zusatzarbeit übernehmen – mit entsprechenden Nutzungsansprüchen an die Stadt und ihr Wohnumfeld.

Die funktionsräumliche Trennung als Leitbild des (west)deutschen Städtebaus und dessen Realisierung haben großen Anteil an der Schaffung geschlechtlich codierter Räume, die auch heute nur selten thematisiert werden (Gretschel/Fleischmann 2008). Gerade der suburbane Raum und Großwohnsiedlungen sind Orte weiblicher Reproduktionsarbeit in Kleinfamilienstrukturen. Stünden so genannte Hausarbeit und familiäre Betreuungsarbeit stärker im Fokus der Stadtplanung, wären Funktionsmischung, Wohnungsnähe oder Wegeminimierung bei der Gestaltung von Stadt die wichtigsten Kriterien.

Diese sozialräumliche Organisation ist nicht das Ergebnis von Geschlechterdifferenz, sondern ihre räumliche Manifestierung. Elizabeth Wilson zeigt in ihrer historischen Stadtforschung von 1991, dass die Metropolen des 19. und 20. Jahrhunderts weltweit für Frauen Orte des Experimentierens mit Geschlechterrollen und insofern Emanzipationsräume waren. Wilson vertritt die provozierende These, dass die Geschichte der Stadtplanung auch als organisierte Anstrengung zu lesen ist, Frauen – zusammen mit anderen störenden Elementen – aus dem städtischen Raum auszuschließen (Wilson 1991).

Es ist zu kritisieren, dass die Autoren die Debatten der feministischen Stadtforschung seit Ende der 1970er Jahre nicht aufnehmen und sich ausschließlich auf männliche Vertreter der Mainstream-Stadtsoziologie beziehen. Dabei hatten sich auch schon frühe Studien der feministischen Stadtforschung mit den Folgen der Funktionstrennung städtischer Räume für die Alltagsbewältigung von Frauen beschäftigt (Dörhöfer/Terlinden 1985) und die Ausrichtung verkehrsplanerischen Handelns auf erwerbsarbeitsorientierten Alltag kritisiert (Buschkühl 1984). Vor dem Hintergrund der Rolle und Bedeutung der räumlichen Umwelt für die Gestaltung der Geschlechterbeziehungen im Wohnumfeld, im öffentlichen Raum und in der Stadtstruktur fordern feministische Stadtplanerinnen seit Ende der 1970er Jahre die Berücksichtigung frauenspezifischer Belange in der Planung und die Beteiligung von Frauen an der Stadtentwicklung (Bauhardt/Becker 1997, Dörhöfer 1990). Seit 1981 ist in Berlin auch das Netzwerk „Feministische Organisation von Planerinnen und Architektinnen“ (FOPA e. V.) aktiv, das feministische Positionen zur Stadtpolitik entwickelt und 1983 die erste Nummer der Zeitschrift FreiRäume mit Thesen zu feministischen Utopien und frauenspezifischen Problemen im Wohnumfeld herausgegeben hat.

Geschlechterkritische Soziologie der Stadt?

Geschlechterverhältnisse sind auch 35 Jahre nach der Veröffentlichung der Thesen von Häußermann und Siebel noch nicht zu einem Querschnittthema der Stadtforschung und -planung geworden. In ihrem Sammelband „Stadtsoziologie“ von 2004 haben Häußermann und Siebel diese Perspektive mit dem Beitrag von Susanne Frank (2004) zur feministischen Stadtkritik immerhin als stadtsoziologischen Teilaspekt aufgenommen. Eine feministische Intervention bleibt weiter nötig, um die Lebensrealitäten von Frauen und anderen Menschen außerhalb männlicher Normbiographien angemessen in die Aufmerksamkeit der Stadtforschung zu rücken. Dies umso mehr, als die Stadtforschung zunehmend auf Optimierungskurs getrimmt wird und Beiträge für eine wettbewerbsorientierte, homogenisierende, managementorientierte Stadtpolitik liefern soll. Häußermann und Siebel mahnen in dieser Hinsicht die Rolle von Stadtsoziolog_innen als herrschaftskritische, unabhängige Begleiter_innen der Stadtplanung (leider) immer noch zu recht an.

Autor_innen

Sybille Bauriedl, Geographin, arbeitet zu sozialwissenschaftlicher Klimaforschung und geographischer Geschlechterforschung, zu Diskursforschung und Stadtforschung

Kontakt: bauriedl@uni-kassel.de

Literatur

Bauhardt, Christine / Becker, Ruth (Hg.) (1997): Durch die Wand! Feministische Konzepte zur Raumentwicklung. Freiburg.

Becker, Ruth (1991): Frauen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit – zwischen Anpassung und Rebellion? Anmerkungen zu aktuellen Veröffentlichungen zum Thema „feministische Architektur und Planung“. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 30/31, 235–41.

Buschkühl, Angelika (1984): Die tägliche Mobilität von Frauen. Geschlechtsspezifische Determinanten der Verkehrsteilnahme. Gießen.

Dörhöfer, Kerstin (Hg.) (1990): Stadt-Land-Frau. Soziologische Analysen, feministische Planungsansätze. Freiburg.

Dörhöfer, Kerstin / Terlinden, Ulla (Hg.) (1985): Verbaute Räume. Auswirkungen von Architektur und Stadtplanung auf das Leben von Frauen. Köln.

Fleischmann, Katharina / Wucherpfennig, Claudia (2008): Feministische Geographien und geographische Geschlechterforschung im deutschsprachigen Raum. In: ACME: An International E-Journal for Critical Geographies, 7/3, 350–376. www.acme-journal.org/vol7/Wuch.pdf (11.02.2013).

Frank, Susanne (2003): Stadtplanung im Geschlechterkampf. Stadt und Geschlecht in der Großstadtentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts. Opladen.

Frank, Susanne (2004): Feministische Stadtkritik – Theoretische Konzepte, empirische Grundlagen, praktische Forderungen. In: Hartmut Häußermann / Walter Siebel (Hg.): Stadtsoziologie. Eine Einführung. Frankfurt a. M. / New York, 196–213.

Gretschel, Sandra / Fleischmann, Katharina (2008): Stadt Planung Architektur Geschlecht. In: Feministisches Geo-RundMail. Informationen rund um feministische Geographie 39, 15–19. www.ak-geographie-geschlecht.org (11.02.2013).

Häuserrat Frankfurt (1974): Wohnungskampf in Frankfurt. München.

Mitscherlich, Alexander (1965): Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Frankfurt a. M.

Wilson, Elizabeth (1991): The Sphinx in the City: Urban Life, the Control of Disorder and Women. Berkeley.