Die Stadt am Ende? Am Ende die Stadt. Chancen für eine gerechtere Stadt mit und nach Covid-19

Kommentar zu Stefan Höhne und Boris Michel „Das Ende des Städtischen? Pandemie, Digitalisierung und planetarische Enturbanisierung“

Christian Haid

Stadtflucht, Ruralisierung des Alltags, Entdichtung, Zusammenbruch urbaner Kulturen, anti-urbane Individualisierung – es liegt nahe, in der aktuellen Situation über eine globale Enturbanisierung und das Ende des Städtischen zu diskutieren, wie es Stefan Höhne und Boris Michel (2021) in ihrem Debattenaufruf anregen. Die Geschichte lässt allerdings auch einen anderen Blick zu: Ansteckende Krankheiten und Pandemien stellten Städte immer wieder auf die Probe, beeinflussten und veränderten sie, stellten das Städtische aber nicht grundlegend infrage, sondern transformierten es vielmehr. In der Entwicklung der Stadtplanung spielten Epidemien eine entscheidende Rolle (Colomina 2019; Lopez 2012). Diskurse der öffentlichen Gesundheit und der Krankheitsepidemiologie im späten 19. Jahrhundert prägten städtebauliche Entscheidungen, die teilweise bis heute Bestand haben und Stadträume definieren.

Die miasmatische Theorie, die davon ausgeht, dass schädliche Luft Krankheiten verursacht, führte zur Entstehung neuer städtischer und architektonischer Typologien wie Sanatorien und urbane Parks – beispielsweise dem Central Park in New York (Colomina 2019; Schuyler 1986). Auch die Konsolidierung einer modernen vernetzten Wasser- und Abwasserinfrastruktur in europäischen Großstädten basierte auf Bemühungen, Krankheiten einzudämmen (Gandy 2006). Gleichzeitig stehen Epidemien jedoch eng mit städtischer Segregation in Zusammenhang. Die Quarantäne – also die räumliche Trennung (potenziell) Infektiöser von Gesunden – gilt als frühe Praxis der Krankheitsbekämpfung (Bashford 2016). Für Miasma-Theoretiker_innen zielte die Trennung städtischer Funktionen wie Industrie und Wohnen auf die Eindämmung der Ausbreitung schädlicher Industriegase ab (Maantay 2001). In vielen Kolonialstädten Südasiens und Afrikas wurden sogenannte cordons sanitaire eingerichtet, wobei Ideen der Hygiene mit rassistischen Ideologien kombiniert wurden (Lyons 1985).

1. Das Virus trifft nicht alle gleich

Die großen Pandemien der Menschheitsgeschichte und die aktuelle Situation haben eines gemein: Nicht alle Menschen sind im gleichen Ausmaß davon betroffen. Die aktuelle Covid-19-Pandemie wirkt zudem wie ein Brennglas für die Defizite der kapitalistischen Weltordnung – eine Teilchenbeschleunigerin, die sozioökonomische Missstände aufzeigt und die Unterdrückung von Minderheiten weiter verstärkt. Was uns das vergangene Jahr gelehrt hat, ist, dass sich sowohl auf globaler als auch auf lokaler Ebene Ungleichheiten verfestigen und weiter verstärken: Das Virus trifft nicht alle gleich!

Ein kürzlich veröffentlichter Report bezeichnet das Virus als „inequality virus“ (Oxfam 2021). Bereits in den Anfängen der ersten Welle konnte festgestellt werden, dass marginalisierte Bevölkerungsgruppen ungleich stärker von der Pandemie betroffen waren. Was als systemrelevante Arbeit gilt – Pflege, Transport, Unterricht, Straßenverkauf –, wird oft von Menschen geleistet, die überarbeitet, unterbezahlt, unterbewertet und nicht ausreichend von staatlicher Seite geschützt sind. Zudem arbeiten in diesen Berufen überdurchschnittlich viele Frauen, BIPoC,[1] ethnische Minderheiten und Migrant_innen. Am härtesten trifft die Pandemie jene, die bereits in Armut leben. Diese Auswirkungen unterstreichen in hohem Maße die ausbeuterische Logik des globalen Kapitalismus und des Neoliberalismus: Der freie Markt ist nicht in der Lage, Gesundheitsfürsorge für alle anzubieten, unbezahlte Pflege wird nicht als Arbeit anerkannt und der internationale Kampf der Nationalstaaten um Impfdosen sowie der Wettbewerb der Pharmakonzerne veranschaulichen bestehende geopolitische Machthierarchien und zeichnen ein Bild der globalen Ungleichheit.

Ungleichheiten zeigen sich besonders deutlich in den Effekten der Regelungen zur Eindämmung des Virus. Die angeordneten Kontaktbeschränkungen gehen zwar von einem Gleichheitsgedanken aus. „Es ist ganz wichtig, dass alle mitmachen“, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel oft betonte. Sie verstärken jedoch auch die Ungleichbehandlung von Bürger_innen und treffen bestimmte Gruppen härter als andere. So können die Regelungen der Kontaktbeschränkung zum Beispiel als single- und queerfeindlich gelesen werden. Ausgerichtet auf traditionelle Lebensmodelle treffen die Maßnahmen (hetero-)normative Familienkonstellationen milder als nicht-konventionelle Lebensstile (Queer.de 2020; Ludigs 2020). Vereinsamung spielt für alleinlebende Personen, deren ‚Familie‘ und Freundeskreis nicht unter demselben Dach leben, häufig eine ernstzunehmende Rolle. Auch hier ist festzuhalten: So wie das Virus nicht alle gleich trifft, so treffen auch die staatlichen Regelungen zur Eindämmung der Pandemie nicht alle gleich hart. Ähnliche Muster erkennen wir in der Verfügbarkeit und Verteilung der Impfstoffe. Während wir hierzulande über den schleppenden Anstieg der Impfquote klagen, ist aktuell nicht absehbar, wann und ob Impfstoffe für nicht-westliche Kontexte zur Verfügung stehen werden (Schneider 2021).

Die Pandemie verstärkt und manifestiert Ungleichheiten im Städtischen. Diese Ungleichheiten durchdringen alle räumlichen Maßstabsebenen – vom Privat- und Wohnraum bis zur Nachbarschaft, von der Stadt bis hin zu inter-urbanen Geografien.

2. Inter-urbanes Lernen von der Pandemie

Sars-CoV-2 hat eine globale Verbreitung erreicht wie noch kein Virus zuvor. Im Management der Pandemie kommt städtischen Regierungen auf der ganzen Welt eine besondere Bedeutung zu, da die Verbreitung des Virus lokal und regional divergiert. Die Reaktionen auf die sich ausbreitende Pandemie sind dabei oftmals lokal unterschiedlich und Stadtregierungen verfolgen Strategien mit disparater Schwerpunktsetzung: Lockdowns mit Ausgangssperren, strikte Quarantäneauflagen, hoch technologisierte Überwachung von Infizierten, flächendeckendes Testen, strenge Reisebestimmungen. Gleichzeitig sind auf globaler Ebene analoge Ansätze städtischer Sofortmaßnahmen festzustellen: Als erste Stadtregierungen schufen diejenigen von Bogotá und Berlin innerhalb kürzester Zeit kilometerlange Netzwerke von Pop-up-Fahrradwegen. Die Pandemie brachte hier zutage, dass die Umsetzung von Maßnahmen auf städtischer Ebene auch schnell und unbürokratisch vor sich gehen kann, und zeigt somit die Anpassungsfähigkeit des Städtischen.

Globale Städtenetzwerke wie United Cities and Local Governments (UCLG), Local Governments for Sustainability (ICLEI), Habitat International Coalition (HIC) und LSE Cities bauen Datenbanken auf, die lokale städtische Reaktionen auf die Pandemie aufzeichnen und somit einen wichtigen Beitrag für das Verständnis transnationaler Paradigmen der preparedness und den zukünftigen Umgang mit globalen Pandemien leisten könnten. Es bleibt zu hoffen, dass dadurch auch in anderen Bereichen der resilienten Stadtentwicklung globales inter-urbanes Lernen (McFarlane 2011) intensiviert wird und so neue Wechselbeziehungen des Erfahrungs- und Wissenstransfers jenseits der Teilung in globalen Süden und Norden etabliert werden.

3. Alternativen zur Entdichtung

In den letzten Jahrzehnten wurde urbane Dichte als vorherrschendes Prinzip in der Stadtplanung und als wesentlicher Treiber für Urbanität erachtet: Dichte soll dem Klimawandel entgegenwirken und eine ökologisch nachhaltige Stadtentwicklung fördern, sie verhindert übermäßigen Flächenverbrauch und Zersiedelung (urban sprawl), fördert soziale Aspekte wie das Gemeinschaftsgefühl, das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Gruppen, die Diversität und belebt Nachbarschaften. Durch die Pandemie scheint die Idee der dichten Stadt mit ihren erstrebenswerten Eigenschaften in Gefahr und wird epidemiologisch betrachtet zur Bedrohung.

Insbesondere in der ersten Pandemiewelle im Frühjahr 2020 wurden Rufe laut, die Idee der dichten Stadt zu hinterfragen beziehungsweise zu begraben. Die Dichte der Stadt kann aber auch als Potenzial zur Eindämmung der Virusverbreitung gesehen werden. So wurde in den mitunter dichtesten Städten der Welt Singapur, Hongkong und Seoul eine effiziente Verteilung von gesundheitlichen und öffentlichen Dienstleistungen gewährleistet, die nur aufgrund der Dichte an städtischen Infrastrukturen und Netzwerken möglich war.

Die Herausforderung für die Zukunft wird es sein, die dichte Stadt pandemieeindämmend zu adaptieren, ohne ihre Qualitäten zur Disposition zu stellen. Ein möglicher Ansatz wäre, den individuellen Autoverkehr im Sinne einer ökologisch nachhaltigen Stadtentwicklung zurückzudrängen und somit Platz zu schaffen nicht nur für breitere Bürgersteige und sicherere Fahrradwege, sondern auch für urbane Grünräume, Orte der Begegnung und Freiräume für Koproduktion und Zusammenkunft.

4. Diversität, sichere Orte und kreative Aneignung

Dichte Städte leben von Diversität. Mit der kompletten Einschränkung des öffentlichen Lebens ist eine Erosion sicherer Orte verbunden. Kneipen, Clubs, Bars und Theater waren und sind Zufluchtsorte für marginalisierte Gruppen und das Ausleben nicht-normativer Lebensstile. Sie sprechen oft Zielgruppen an, die in solchen Räumen Sicherheit und Anschluss an Bezugspersonen finden, die zwar in unterschiedlichen Haushalten leben, aber das gesellschaftliche Leben maßgeblich bestimmen. Solche Orte sind für viele die Grundlage einer positiven sozialen Lebensgestaltung. Der Wegfall dieser Schutzorte trifft queere Menschen besonders hart, da sie auch sichere Räume darstellen, wo nicht-normative Identitäten ausgelebt, verhandelt und zelebriert werden können. Außerdem ist für viele queere Jugendliche das familiäre Umfeld kein Ort der persönlichen Freiheit und des Schutzes, sondern eher einer der Gewalt und Diskriminierung (Valencia 2020). In queeren Communities wird häufig der Begriff der chosen family verwendet, der den Ersatz der biologischen Familie beschreibt. Während für traditionelle Familienmodelle mit gemeinsamem Wohnsitz keine Kontaktbeschränkungen gelten, müssen verstreut lebende chosen-family-Mitglieder diese jedoch einhalten. Man kann also von einer Ungleichbehandlung verschiedener Familienmodelle sprechen.

Ob queere Clubs, Kulturstätten und andere Institutionen, die sich auch über Einnahmen aus Getränkeverkauf und Eintrittsgeldern finanzieren, die Pandemie überleben werden, ist zum jetzigen Zeitpunkt unklar. Klar ist, dass diese Orte für queere Communities und für die Produktion, Praxis und Performance queerer Kultur wesentlich sind und deren Verschwinden auch einen Rückgang an queerer Sichtbarkeit und Teilhabe bedeutet.

Dennoch: Trotz der Kontaktbeschränkungen und des Verschwindens vieler sicherer Orte haben sich marginalisierte Gruppen neue städtische Räume erschlossen, Orte angeeignet und Infrastrukturen aufgebaut. Die Berliner Hasenheide wurde so zum Treffpunkt vieler, deren übliche Treffpunkte aufgrund der Lockdown-Beschränkungen geschlossen sind. Auch wenn aus epidemiologischer Perspektive Partys und Zusammenkünfte im Freien als bedenklich gelten und dies auch medienwirksam verurteilt wurde, stellen selbst-organisierte, meist über soziale Medien angekündigte Spontanveranstaltungen den Versuch dar, sichere Ersatzorte zu erobern. Aufgrund ihrer Illegalität sind diese jedoch keineswegs stabil und verlässlich, sie führen zu konstanten Konfliktsituationen mit den Behörden und zur Illegalisierung queeren sozialen Lebens.

5. Handlungsraum Nachbarschaft

Kontaktbeschränkungen, Homeoffice und eingeschränkte städtische Mobilität führen zu einem neuen Verständnis des Lokalen. Während Wohn- und Arbeitsort eins werden und Dienstleistungs- und Kulturangebote nicht verfügbar sind, beschränkt sich der persönliche Bewegungsradius auf den Gang zum Supermarkt, den Spaziergang um den Block und neue Aktivitäten, die zuvor andernorts stattgefunden haben. Das unmittelbare Wohnumfeld erlangt somit neue Handlungs- und Bedeutungsebenen. Physische Gemeinschaftsinfrastruktur wie Rathäuser, Bibliotheken, Kneipen und Läden stärken normalerweise die soziale Zugehörigkeit und die lokale Identität in Nachbarschaften. Sind diese geschlossen, fehlen auch die Orte der Beteiligung an der Gemeinschaft und müssen neu verhandelt werden.

Nachbarschaftsinitiativen rufen mit Hashtags wie #supportyourlocals zur Unterstützung lokaler Unternehmer_innen auf – konsumgebundene Solidarität und Identifikation mit dem Lokalen sollen den letzten Rest des nachbarschaftlichen Einkaufsverhaltens intensivieren, was jedoch von den ökonomischen Möglichkeiten des/der Einzelnen abhängig ist. Zusätzliche Bemühungen etwa von Gastronomiebetrieben, mehr Sichtbarkeit im Straßenraum zu erlangen, materialisieren diese lokalen ökonomischen Netzwerke auch räumlich und machen sie visuell erkennbarer.

Nicht sichtbar hingegen ist das Wegfallen spontaner lokaler Alltagsbegegnungen und beiläufiger Kontakte. Stark veränderte Routinen und Abstandsregeln verhindern den ungezwungenen Austausch beim Bäcker, der nachbarschaftliche Tratsch im Frisiersalon verstummt, der persönliche Austausch in der Kneipe versiegt und damit oft wesentliche Informationsquellen. Gerade diese spontanen Kontakte außerhalb der Familie oder der Wohngemeinschaft sind oft wesentlich für die Lösung alltäglicher Probleme – von der Organisation gegenseitiger Unterstützung und Hilfe bis hin zur Aushandlung gemeinsamer Geschäfte und Vereinbarungen. Das Wegfallen dieser Begegnungen trifft marginalisierte Gruppen besonders hart, da diese oftmals auf informelle Netzwerke angewiesen sind.

Nichtsdestotrotz entfallen diese Begegnungen und Kontakte nicht zur Gänze. Sie suchen sich neue Orte und Wege – digital, mit Abstand oder im Geheimen –, zeigen neue Dimensionen des Lokalen auf und erweitern unsere lokalen Ortskenntnisse. Da sich viele von uns der physischen Grenzen unserer Nachbarschaft bewusster werden, darüber nachdenken, was wir schätzen und was wir ändern möchten, ist zu erwarten, dass die Identifikation mit der eigenen Nachbarschaft verstärkt wird und womöglich auch das Interesse und die Bereitwilligkeit an der Entwicklung der Nachbarschaft wächst. Vielleicht ist jetzt auch der ideale Zeitpunkt, um die Bürger_innenbeteiligung in der Nachbarschaft zu stärken und den fortschreitenden Wandel durch Nachbarschaftsplanung und Partizipationsprozesse in der lokalen Umgebung zu fördern.

6. Die Neuverhandlung des Öffentlichen und des Privaten

In Zeiten der Pandemie kommt dem Zuhause eine bedeutendere Rolle zu. Die eigene Wohnung ist für viele unausweichlich zum absoluten Fokuspunkt des Alltags geworden: Zu Hause wird nicht nur gewohnt, sondern auch gearbeitet, soziale Kontakte werden (heimlich) empfangen, es wird unterrichtet und gelernt, protestiert, trainiert und gefeiert. Was vor der Pandemie als ausreichend groß und gut aufgeteilt empfunden wurde, wird nun als zu klein, zu beengt und als Ort mit unzureichenden Ausweichmöglichkeiten wahrgenommen. Die meisten Wohnungen sind nicht dafür ausgerichtet, das gesamte Spektrum an Alltagsaktivitäten unterzubringen, und das führt nicht zuletzt auch zu Spannungen zwischen den Bewohner_innen einer Wohnung.

Überbelegung und mangelnde Ressourcen scheinen einen signifikanten Einfluss auf die Verbreitung des Virus zu haben. In Wohnungen, in denen sich mehrere Personen ein Zimmer teilen müssen, oder in Wohnverhältnissen, in denen sich mehrere Haushalte Badezimmer und Küche teilen, verbreitet sich das Virus oft rasant. Studien in Frankreich haben festgestellt, dass in beengten Wohnverhältnissen, also in Wohnungen, die weniger als 18 m² pro Person aufweisen, das Infektionsrisiko 2,5-mal höher ist als in Wohnungen mit mehr Platz pro Person (IWD 2020)

Die inadäquate Wohnraumversorgung und die Ausdehnung des Alltags in die privaten vier Wände müssen ein Umdenken in der städtischen Wohnungspolitik zur Folge haben. Es stellt sich die Frage, warum Gießkannenregelungen der Kontaktbeschränkung und des physical distancings als Allheilmittel verstanden werden, gleichzeitig aber nicht darüber nachgedacht wird, welche Maßnahmen im Bereich der Wohnraumversorgung getroffen werden könnten. Die Pandemie wäre ein guter Anlass, Standards für eine adäquate Wohnraumpolitik neu zu verhandeln.

Ein weiteres Symptom der Pandemie ist das Eindringen des Staates und der Öffentlichkeit ins Private. Die Kontaktbeschränkungen gelten nicht nur für den öffentlichen Raum, sondern beeinflussen maßgeblich die Freiheiten im privaten Raum. Durch die Überprüfung der Einhaltung der Kontaktbeschränkungen im Privaten werden Grundrechte beschnitten und die Einflussnahme und der Wirkungsraum staatlicher Ordnungsorgane erweitert.

Öffentlichkeit und Privatheit werden im städtischen Umfeld neu verhandelt. Praktiken, die zumeist im Privaten verortet waren, wie zum Beispiel beim Spazierengehen mit Freunden zu telefonieren und digitale Kommunikation im Allgemeinen, werden in öffentliche Räume verlagert (Blokland/Vief/Krüger 2020). Im Gegenzug ziehen sich demokratische Praktiken ins Private zurück und die Couch wird zum neuen Raum des Politischen (Carbone 2020).

7. Für eine gerechtere Stadt

Die Debatte über die Auswirkungen der Pandemie auf die urbane Umwelt wird noch lange nicht verebben. Genauso werden die dystopischen Zukunftsprognosen und die viel diskutierte aktuelle Krise der Stadt noch einige Zeit nachhallen. Anzeichen einer ‚planetaren Enturbanisierung‘ durch den Exodus der Mittelschicht aus den urbanen Zentren, die Verlagerung des Arbeitsplatzes ins Homeoffice, urbane Entdichtung und der Zusammenbruch städtischer Kultur sind ernst zu nehmen, womöglich aber auch nur temporär und vorübergehend. Die Historie zeigt, dass die soziale, kulturelle und räumliche Entwicklung der Stadt immer wieder durch Pandemien verändert worden ist – zum Guten wie zum Schlechten. Viele dieser Folgeerscheinungen werden wir im Fall der aktuellen Pandemie aber erst in Zukunft bewerten und analysieren können. Was uns die aktuelle Situation jedoch ganz klar vor Augen führt, sind bereits zuvor bestehende Disparitäten, die die Pandemie noch zusätzlich verstärkt hat. Die Probleme sind also nicht neu, sie werden aber offensichtlicher.

In Zukunft wird es deshalb ganz besonders wichtig sein, gegen diese bereits seit langem bekannten Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten vorzugehen. Die Pandemie als Multiplikator bestehender Schieflagen sollten wir als Ansporn sehen, um mehr denn je für eine gerechtere Stadt einzustehen und für sie zu kämpfen. Ein möglicher Ansatz kann daher sein, bestehende Debatten der Stadtforschung aufzugreifen und bereits formulierte Strategien und Forderungen nach einer just city (wie zum Beispiel Fainstein 2010), die sich durch Grundsätze wie Demokratie, Diversität und Gleichheit auszeichnet, im Hinblick auf die Auswirkungen der Pandemie auf das Städtische weiterzudenken.

 

Dieser Artikel wurde durch Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft und den Open Access Publikationsfonds der Technischen Universität Berlin gefördert.

Endnoten

Autor_innen

Christian Haid ist Architekt und Stadtsoziologe, seine Forschungsschwerpunkte sind kritische Stadtforschung, urbane Informalität, Queerness und postkoloniale Theorien.

c.haid@tu-berlin.de

Literatur

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Blokland, Talja / Vief, Robert / Krüger, Daniela (2020): Leaving the house to talk in private. How COVID19 restrictions affected how and where we find someone to talk to. https://sfb1265.de/blog/leaving-the-house-to-talk-in-private-how-covid19-restrictions-affected-how-and-where-we-find-someone-to-talk-to/ (letzter Zugriff am 14.1.2021).

Carbone, Antonio (2020): Stadt und Epidemie. In: Christian Haid / Lukas Staudinger (Hg.), The politics of public space. Audiowalk. https://explore.echoes.xyz/collections/02GrXo7WwkkF80jW (letzter Zugriff am 14.1.2021).

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