Zwischen Partikularismus und Universalismus. Wie bilden sich Koalitionen?

Kommentar zu Margit Mayers „Urbane soziale Bewegungen in der neoliberalisierenden Stadt“

Lisa Vollmer

In ihrer Analyse aktueller urbaner Proteste konstatiert Margit Mayer (2013) die Formierung neuer Koalitionen zwischen verschiedenen Gruppen auf allen politischen Ebenen als die wichtigste Herausforderung städtischer sozialer Bewegungen. Während ich mit Mayer übereinstimme, dass es diese Bündnisse zwischen den durch neoliberale Politiken und Lebenswelten vereinzelten Gruppen sind, die einen effektiven Widerstand gegen ein universal gewordenes Regime des Neoliberalismus erst ermöglichen, lässt sie doch die meiner Meinung nach wichtigste Frage unbeantwortet: Welche Strukturen, welche Bedingungen, welche Subjektpositionen und welche politischen Prozesse sind es, die eine solche Kollektivierung überhaupt ermöglichen? Im Folgenden möchte ich diese Frage als Aufgabe der Bewegungsforschung entwerfen. Anregungen dafür können die Diskurs- und Hegemonietheorie Ernesto Laclaus (2007; mit Chantal Mouffe 2001) und ein Politikverständnis bieten, das Politik und Demokratie weniger als Staatsform, sondern als ständig gelebten Konflikt sieht, wie es etwa Jacques Rancière (2008, 2002) definiert. Beide betonen die Kontingenz politischer Aushandlungen und damit das emanzipatorische Potential politischen Handelns, ohne die diesen Prozessen zugrunde liegenden diskursiven und strukturellen Bedingungen zu negieren.

Mayer beschreibt die Auswirkungen neoliberaler Politiken auf die Stadt als Protestanlässe für soziale Bewegungen. Sie betont dabei die Heterogenität und „Disparitäten zwischen unterschiedlichen Widerständen gegen die städtische Neoliberalisierung“. Sie beachtet dabei allerdings nicht, dass die hegemoniale neoliberale Ordnung gleichzeitig die Individualisierung und Vereinzelung auf Subjektebene vorantreibt. Stichworte sind hier das unternehmerische Selbst und die (individuelle) Authentizität „kreativer“ Subjekte. So ist die neoliberale Ordnung auch auf dieser Ebene einerseits Hindernis bei der Formierung sozialer Bewegungen oder gar der Koalitionsbildung zwischen solchen; andererseits können Proteste gerade auch als Versuch, diese neoliberale Individualisierung zu überkommen, betrachtet werden. Die Frage stellt sich also, wann welche Protestteilnehmer_innen unter welchen Bedingungen von ihrem individuellen Interesse transzendieren und wie eine kritische Stadtforschung diesen Prozess analysieren kann. Dazu ist eine andere Konzeption des Verhältnisses zwischen Partikularem und Universellem nötig, als sie in der klassischen Bewegungsforschung vorherrscht.

Denn auch deren Debatte ist von den neoliberalen Vereinzelungserfahrungen geprägt: Seit den 1980er Jahren dreht sie sich hauptsächlich um die sogenannten neuen sozialen Bewegungen und deren Partikularismus. Ebenso wird im Diskurs der politischen Theorie entweder ein Verlust des Universellen beklagt oder es wird als überkommener, westlicher Wert der Moderne normativ abgewertet. Es ist dieses dichotome Verständnis von Partikularismus gegen Universalismus, das Laclau in seiner 1996 erschienen Essaysammlung Emancipation(s) kritisiert. Es sei eben nicht die Dichotomie zwischen beiden, sondern gerade die Beziehung, der Weg vom einen zum anderen, die das Politische erst ausmacht. Damit wendet er sich sowohl gegen ein unkritisches Befürworten der Partikularismen, wie es etwa in der Überbetonung von kulturellen Differenzen im Multikulturalismus vorherrscht, als auch gegen ein Festhalten an der rein am Universalen orientierten Konsenspolitik etwa eines Jürgen Habermas, die eine vollständige Transzendierung vom Partikularen als möglich ansieht. Es ist gerade der Raum zwischen dem Partikularen und dem (beanspruchten) Universellen, den Laclau als Raum des politischen Handelns und damit auch für Protest ausmacht. Einzelne Gruppen mit ihrem Partikularismus beanspruchen die Universalität ihrer Position und hegemonialisieren sie so. Wer sich dabei durchsetzten kann, ist von den machtvollen Beziehungen der Akteure im Feld der Hegemonien beeinflusst, steht aber nicht von vorneherein fest. Dieser Prozess der Transzendierung hin zum Universellen vollzieht sich nach Laclau über die Konstituierung von Antagonismen. Mit „Antagonismus“ ist dabei nicht eine einfache Differenz- oder Feind-Beziehung gemeint. Der Antagonismus ist vielmehr das einen Diskurs überhaupt erst konstituierende Außen, das Unsagbare. Dieser Antagonismus, das Außen wird dann zum Universellen, denn es ist jenseits der Differenzen des Diskurses. Der Antagonismus eines Diskurses, der selbst nicht ausdrückbar ist, äußert sich in einem „leeren Signifikanten“, also wiederum einer leeren Form, die einen Anknüpfungspunkt für viele Partikularismen bietet. Beispiele eines solchen leeren Signifikanten sind etwa „Freiheit“ oder auch „Zivilisation“, also Begriffe, die an sich unterbestimmt sind und gerade deshalb in so vielen politischen Diskursen auf höchst unterschiedliche Weise Einsatz finden. Aber auch die Antagonismen eines Diskurses und damit seine leeren Signifikanten sind nicht unveränderlich. Im Gegenteil, sie existieren nur durch ihre ständige Erneuerung in der diskursiven Praxis und sind gerade deshalb potentiell wandelbar. Sind die hegemonialen Beziehungen eines Feldes stabil, so sind es auch die Antagonismen; verändern sich diese Beziehungen aber, bietet sich das Potential für Wandel. Hier setzen soziale Bewegungen in der neoliberalen Stadt an, indem sie etablierte Diskursformationen angreifen und gegenhegemoniale zu etablieren versuchen. Diese Artikulationen bieten dann Anschlusspotential für andere Proteste und Gruppen. Für Mayer scheinen diese Zusammenschlüsse rein strategische Entscheidungen von Akteuren zu sein, die unabhängig von lokalem und historischem Kontext ihre agency verfolgen. Deshalb ist für sie die „tiefe Vergesellschaftung“ – ohne nähere Bestimmung, was diese genau sein soll – erst der dritte und letzte Schritt der Aufhebung des neoliberalen Regimes. Ich argumentiere dagegen, dass es eben diese Prozesse der Vergesellschaftung, der Subjektformierung sind, die der kritischen Analyse bedürfen, will man erklären (und damit auch potentiell befördern), wie es zu Kollektivierung und Koalitionen kommt.

Ähnlich wie Laclau definiert auch Rancière Politik als die Aushandlung um das Gemeinsame. Zum Beispiel: „Der Kampf der ‚Reichen‘ und der ‚Armen‘ ist der Kampf um die Möglichkeit selbst, dass diese Worte auseinandergehen, dass sie die Kategorien einer anderen Zählung der Gemeinschaft einrichten“ (Rancière 2008: 28). An dieser Stelle führt Rancière die Kategorie des politischen Subjekts ein. Ein kollektives Subjekt entsteht, wenn Ungezählte oder Anteillose zu sprechen und damit zu existieren beginnen und dadurch eine neue Definition des Gemeinsamen, des Universellen notwendig machen. Das politische Subjekt geht der Politik nicht voraus, es entsteht vielmehr erst in der politischen Beziehung. Und diese Beziehungen sind nach Rancière immer Beziehungen der Differenz.

Wenn das Universelle also als „an empty but ineradicable place“ (Laclau 2007: 58) definiert wird, den es zu füllen gilt, und wenn das Wesentliche der Politik „in den auf Dissens beruhenden Subjektivierungsweisen“ (Rancière 2008: 45) liegt, stellt sich die von Mayer formulierte Frage nach möglichen Koalitionen für die soziale Bewegungsforschung anders: Damit treten die Logiken dieses Füllens der Leere des Universellen und die von den Akteuren des Protestes eingenommenen Subjektpositionen als Untersuchungsgegenstände in den Mittelpunkt.

Somit könnten gerade die von Mayer beschriebenen Proteste gegen Austeritätspolitiken, die ja aus ökonomischen Anlässen heraus geführt werden, von der identitären Konzeption der sogenannten Neuen Sozialen Bewegungsforschung abgegrenzt werden.

Jenseits eines reinen Beklagens unendlicher Partikularität in neoliberalen Regimen – aber ohne die strukturelle Fragmentiertheit, die kaum noch geteilten Erfahrungswelten, die sich aus ihnen ergeben, leugnen zu wollen – stellen sich für eine kritische Bewegungsforschung meines Erachtens die folgenden Fragen:

In der Analyse heutiger sozialer Bewegungen kann man zum Beispiel das Potenzial der Krise ausloten. Seit der Finanzkrise und der folgenden Staats- und allgemeinen Legitimationskrise haben sich viele neue Protestgruppen formiert, die versuchen, die nun gestörten hegemonialen Beziehungen auszunutzen und alte leere Signifikanten, wie zum Beispiel „Freiheit“, zu dekonstruieren. Gleichzeitig bietet ein Krisendiskurs die Möglichkeit, gemeinsame neue Antagonismen zu etablieren. Dafür haben verschiedene Protestanlässe verschiedene Potenziale. Einerseits müssen sie lokal verankert sein, das heißt auch in einer partikularen Forderung verwurzelt sein. Sind sie das nicht, verhallt eine Bewegung gleichsam, wie die Occupy-Bewegung gezeigt hat (insofern sie sich nicht lokaler Kämpfe annahm). Andererseits müssen die lokalen und partikularen Kämpfe auch das Potenzial der Transzendierung bieten. Von ihnen muss auf systemische Probleme rückgeschlossen werden können, möglichst auf allen politischen Ebenen. Ein Beispiel hierfür sind die zahlreichen internationalen Kämpfe rund um das Thema Wohnen, die lokale Deprivationslagen mit lokaler, nationaler und internationaler Politik und Ökonomie verbinden können. Besonders eindrücklich sind diese Proteste in Spanien, wo sich viele Gruppen aus anderen Bereichen den Protesten der Hypothekenbetroffenen angeschlossen haben. Dabei stellt sich die Frage, wie die etablierte Hegemonie angegriffen wird und welche neuen Bilder etabliert werden. So kann etwa beobachtet werden, dass die negative Stigmatisierung von Arbeitslosen bereits an breiter Zustimmung verloren hat. „Die Armen“ zu sein, ist nicht länger peinlicher, persönlicher Schicksalsschlag, sondern ermöglicht es, „die Gemeinschaft neu zu zählen.“

Autor_innen

Lisa Vollmer schreibt zu Subjektformierungen in Mieterprotesten in Berlin und New York und ist am Internationalen Graduiertenkolleg Berlin - New York - Toronto, Center for Metropolitan Studies TU Berlin beschäftigt.

Kontakt: lisa.vollmer@metropolitanstudies.de

Literatur

Laclau, Ernesto / Mouffe, Chantal (2001): Hegemony and socialist strategy. Towards a Radical Democratic Politics. London, New York.

Laclau, Ernesto (2007): Emancipation(s). London, New York.

Mayer, Margit (2013): Urbane soziale Bewegungen in der neoliberalisierenden Stadt. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 1, 155-168.

Rancière, Jacques (2002): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt am Main.

Rancière, Jacques (2008): Zehn Thesen zur Politik. Zürich.