Editorial

sub\urban Redaktion

Liebe Leser_innen,

wie bereits die letzten zwei Ausgaben erscheint auch diese Ausgabe von s u b \ u r b a n inmitten der Covid-19-Pandemie. Die vielfältigen Herausforderungen für die Wissensproduktion, die sich daraus ergeben (Beurskens et al. 2020), haben auch die Zusammenstellung dieses Hefts geprägt. Unseren Vorsatz, die Pandemie und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen aus der Perspektive der kritischen Stadtforschung zu begleiten und zu beforschen, haben wir dabei weiterverfolgt. Unseren mit dem vergangenen Heft gestarteten virtuellen Themenschwerpunkt zu Covid-19 konnten wir um einen Onlinevortrag von Roger Keil erweitern. Darin beleuchtet Keil die Auswirkungen der Pandemie auf die verschiedenen Dimensionen der Peripherie städtischer Gesellschaft. Vor dem Hintergrund jüngerer Epidemien im städtischen Raum – von SARS bis Ebola – zeigt er, dass die Entstehung und Verbreitung von SARS-CoV-2 mit der ‚ausgedehnten‘ Urbanisierung zu tun hat, die heute die Welt der Stadt dominiert. Er führt aus, dass die inzwischen globale Seuche die sozialen, räumlichen und institutionellen Peripherien der „globalen Stadt“ besonders hart getroffen hat. Der Vortrag fand im Rahmen der translokalen Vorlesungsreihe „Geographien von Covid-19“ statt. Wir freuen uns, dass wir ihn im Videoformat auf unserer Website weiterverbreiten können. Damit erweitern wir auch den multimedialen Auftritt von s u b \ u r b a n.

Mit der Planung des Schwerpunkts dieser Ausgabe haben wir bereits begonnen, als Covid-19 noch kein Thema war. Eine Sammlung von Beiträgen, die das Thema Stadt und Digitalisierung aus kritischer Perspektive beleuchten, erschien uns längst überfällig. Mit dem Titel „digital war besser“ zitieren und remixen wir den Titel einer älteren Ausgabe der Testcard, wie wir erst kurz vor Drucklegung feststellten. Zugleich bekennen sich mit dem Titel zumindest Teile der Redaktion als Tocotronic-Fans (1995 schrieb die Hamburger Band mit ihrem Debutalbum „Digital ist besser“ ein Manifest für die deutschsprachige Popmusik der 1990er-Jahre). Vor allem aber dient das Zitat mit seiner bewussten Verschiebung in die Vergangenheit als Auftaktprovokation für ein kritisches Nachdenken über gegenwärtige Diskussionen um Stadt in Verbindung mit Schlagwörtern wie ‚digitale Revolution‘, ‚digitale Gesellschaft‘ oder ‚digitaler Kapitalismus‘. ‚Smart Cities‘, ‚Informational Cities‘ oder ‚Cyber Cities‘ gelten als Trends der gegenwärtigen Stadtentwicklung. Zahlreiche Alltagserfahrungen – das wissen wir nicht erst seit der Pandemie allzu gut! – werden einer ‚Digitalisierung‘ unterworfen und digitale Technologien schreiben sich in die Regierung des städtischen Raums ein. Beispiele hierfür reichen von ‚Smart Homes‘ über ‚smarte‘ Straßenbeleuchtungen oder Verkehrsinfrastrukturen, Gesichtserkennung an Bahnhöfen, Apps zur Bewertung städtischer Orte und Dienstleitungen, digitale Sharing-Angebote, auf die Nachbar_innenschaft bezogene soziale Netzwerke, die sogenannte Gig Economy, die Überlagerung von virtueller und realer Welt in einer augmented reality, bis hin zu digital vernetzten Infrastrukturen.

Tocotronic bezogen sich in ihrem Titelsong lediglich auf Armbanduhren, die sie „viel besser“ fanden als deren analoge Äquivalente. Wir möchten in Anleihe an diesen Titel das allgemein angepriesene Versprechen der Digitalisierung, von technologischem Fortschritt, Demokratisierung, höherer Effizienz und ökologischeren Produktionsweisen infrage stellen: War digital wirklich besser? Den Beteuerungen von mehr digitaler Partizipation, geringeren Kommunikations- und Transaktionskosten sowie einer immer stärker zielgerichteten, da individualisierten Steuerung und Produktion, stehen starke Bedenken bezüglich einer fortschreitenden Ökonomisierung, der Überwachung sämtlicher Lebensbereiche sowie der Erschöpfung individueller und natürlicher Ressourcen entgegen.

Der Themenschwerpunkt umfasst fünf Aufsätze und einen Magazinbeitrag, die sich kritisch mit dem Verhältnis von Stadt und Digitalisierung befassen. Die fokussierten Aspekte sind dabei durchaus unterschiedlich: Es geht um die Bereitstellung digitaler Infrastrukturen, um Smart-City-Politiken, digitale Plattformen und städtische Arbeit, aber auch um Digitalisierung und Partizipation. Die Beiträge bearbeiten diese Themen anhand unterschiedlicher urbaner Kontexte im globalen Süden ebenso wie im globalen Norden.

Den Anfang macht der Beitrag „Junge Städter zwischen Improvisation und Ausbeutung“ von Hannah Schilling. Sie zeigt, wie bestimmte Kommunikationsinfrastrukturen des digitalen Kapitalismus, hier die cabines in Abidjan (Côte d’Ivoire), ausbeutende Strukturen ermöglichen und somit Ungleichheiten in der Stadt verfestigen. Christian Eichenmüller, Max Münßinger und Georg Glasze setzen sich in ihrem Aufsatz „Das Gehirn der Smart City“ mit der Rolle von command and control center als Knotenpunkten der Steuerung von Smart City auseinander. Am Beispiel der Stadt Pune in Indien gelingt es den Autoren, zahlreiche Parallelen zur Kybernetik aufzuzeigen und dadurch die antipolitische Haltung des Smart-City-Programms zu verdeutlichen. Moritz Altenried, Stefania Animento und Manuela Bojadžijev beschreiben in ihrem Aufsatz „Plattform-Urbanismus. Arbeit, Migration und die Transformation des urbanen Raums“, wie der Aufstieg digitaler Plattformen das städtische Arbeiten und Leben, aber auch die Materialität der gebauten Umwelt verändert. Aufbauend auf ethnografischer Forschung zu Plattformarbeit in Berlin nehmen die Autor_innen neue Formen algorithmischer Organisation, Kontrolle und Überwachung von (häufig migrantischer) Arbeit in den Blick. Sybille Bauriedel und Henk Wiechers behandeln in ihrem Artikel „Konturen des Plattform-Urbanismus“ den immer größer werdenden digital divide im städtischen Raum. Sie zeigen, dass Smart-City-Infrastrukturen und Dienstleistungen wie etwa Carsharing vor allem in Innenstadtgebieten angeboten werden. Anstatt Mobilitätsdefizite zu beheben, verstärkt die ökonomische Logik der angebotenen Dienstleistungen so bestehende städtische (Mobilitäts-)Ungerechtigkeiten. Im fünften Aufsatz, „Smart und/oder partizipativ?“, untersuchen Alexander Follmann, Stephen Leitheiser und Holger Kretschmer die Smart-City-Politiken und Praktiken der Stadt Köln. Ausgehend von Diskussionen um postpolitisches Regieren von Stadt fragen die Autoren insbesondere danach, wie sich die Versprechen von Effizienz, Partizipation und Beteiligung jenseits plakativer Smart-City-Rhetoriken konkret on the ground materialisieren.

Im fotografischen Magazinbeitrag „Analog Algorithm – Landscapes of Machine Learning“ nimmt uns die Fotografin Susanne Huth mit ins Silicon Valley, das Machtzentrum der technischen Innovation und der postindustriellen, neoliberalen Wirtschaftsordnung schlechthin. Mit ihrer Bildstrecke ermöglicht sie eine Lesart dieses Ortes, die alltägliche Momente der Big Tech in den Blick nimmt. Wir freuen uns sehr, mit dem Fotoessay einmal mehr eine künstlerische Arbeit zu veröffentlichen. An dieser Stelle herzlichen Dank an Susanne Huth für die Zusammenarbeit.

Den Bogen von Stadt und Digitalisierung zurück zur Pandemie spannen wir mit unserer Debatte. Stefan Höhne und Boris Michel stellen in ihrem Debattenaufschlag „Das Ende des Städtischen? Pandemie, Digitalisierung und planetarische Enturbanisierung“ acht Thesen zur Diskussion, wie Covid-19 und die damit einhergehenden beschleunigten Digitalisierungsprozesse „die Zukunft des Städtischen“ prägen werden. Sie fragen dabei nicht nur nach den Konsequenzen für Städte selbst, sondern auch nach den Implikationen für deren Beforschung und Konzeptualisierung. Neun Autor_innen antworten auf die aufgestellten Thesen.

Marcelo Lopes de Souza schlägt in seinem Kommentar vor, die Covid-19-Pandemie nicht als das Ende des Städtischen zu betrachten, sondern als möglichen Beginn eines besseren Verständnisses unserer Welt. Er argumentiert, dass es vor allem notwendig sei, die Perspektive des globalen Südens zu berücksichtigen. Sowohl die These von der planetarischen Urbanisierung als auch die These von der planetarischen Enturbanisierung, so kritisiert er, seien eurozentrische Vorstellungen. Matthias Naumann wirft die Frage auf, ob aktuell nicht nur ein „Ende des Städtischen“, sondern auch ein Ende des Ländlichen festzustellen ist. Dabei postuliert er, dass die diagnostizierte Krise der Städte auch eine Krise des Ländlichen sei, die bereits lange vor Ausbruch der Pandemie begann. Anke Strüver konzentriert sich auf die Verschaltung von kapitalistischer Krise und Carekrise, die durch die Pandemie besonders im städtischen Alltag sichtbar geworden ist. Entlang von fünf Thesen skizziert sie die Möglichkeiten einer Transformation vom „sorglosen Kapitalismus“ zur „sorgenden Urbanisierung“ und wirft die Frage auf, wie kritische Stadtforschung diese Transformation adressieren kann.

Markus Kip diskutiert in seinem Beitrag, inwieweit solch eine düstere Prognose tatsächlich kritisch ist. Er fragt, aus wessen Perspektive und zu welchem Zweck eigentlich eine „Krise des Städtischen“ diagnostiziert wird. Zugleich argumentiert er für eine kritische Stadtforschung als konsequente Fortsetzung des Erbes der Frankfurter Schule. Hannah Schilling betrachtet in ihrem Kommentar anhand der Kontaktbeschränkungen und der arbeitsbezogenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie die Diskrepanz zwischen dem Alltag der Vielen und den Sichtweisen offizieller Politiken auf gesellschaftliches Zusammenleben. Überdies skizziert sie Zugänge, mit denen Stadtforschung eine Krisenerzählung vom Standpunkt der Vielen aus entwerfen könnte. Roger Keil beleuchtet die Beziehungen zwischen dem Städtischen bzw. der Stadtforschung und dem Thema Infektionskrankheiten. Er schließt mit der Hoffnung, dass strukturelle Verbesserungen der Lebensverhältnisse von Menschen, die am stärksten unter der Pandemie leiden, nun nicht mehr so leicht abgewehrt werden könnten.

Christian Haid betrachtet die Covid-19-Krise aus einer historischen Perspektive. Er erinnert daran, dass Epidemien schon immer eine entscheidende Rolle in der Stadtplanung gespielt haben und sieht die Pandemie vor allem als Multiplikator für bestehende Problemlagen. Haid plädiert dafür, Ansätze zu stärken, die sich gegen aktuell zunehmende Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in den Städten richten. Anna-Lisa Müller stellt die These auf, dass wir es weniger mit einem „Ende des Städtischen“ als vielmehr mit dessen potenzieller Transformation zu tun haben. Dabei können soziale Interaktionen zunehmend durch digitalen Austausch ergänzt werden, wodurch auch der öffentliche Raum restrukturiert wird. Im letzten Kommentar argumentiert Nikolai Roskamm, dass die Pandemie zum Wiedererstarken zweier klassischer Themen der Stadtplanung im gesellschaftlichen und politischen Diskurs führe: Dichte und Biopolitik. In diesem Sinn sieht er kein „Ende des Städtischen“, wie von Höhne und Michel postuliert, sondern vielmehr Anzeichen einer voranschreitenden planetarischen Urbanisierung.

Nach dieser umfangreichen Debatte folgt im offenen Teil der Aufsatz „Von Gentrifizierung betroffen: Ein exemplarischer Beitrag zur Diskussion konzeptioneller und methodisch-methodologischer Fragen qualitativer Verdrängungsforschung“ von Miriam Meuth und Christian Reutlinger und schließt damit an den Methodenschwerpunkt unserer letzten Ausgabe an. Basierend auf einem Forschungsprojekt zur Bewältigung drohenden Wohnungsverlusts widmet sich der Beitrag den Herausforderungen und Potenzialen eines qualitativen Zugangs zu Verdrängung. Davon ausgehend plädiert er für eine differenziertere empirische Betrachtung der von Verdrängung bedrohten oder betroffenen Menschen.

Einen Magazinbeitrag gibt es im offenen Teil ebenso. Cosima Zita Seichter, Miriam Neßler und Paul Knopf untersuchen den im Zuge aktueller Fluchtbewegungen über die Balkanroute in Belgrad entstandenen Refugee District. Sie beschreiben diesen zugleich als einen Raum der „Nicht-Bewegung“ als auch der Nischen, der neuen Allianzen und der Kämpfe um globale Bewegungsfreiheit. Den Blick auf diese sehr kleinräumige Materialisierung von Flucht und Migration verbinden sie mit Prozessen der neoliberalen Stadtentwicklung, dem staatlichen Migrationsmanagement und dem EU-Grenzregime.

Zwei Rezensionen runden das Heft ab: Nicole Baron stellt Barbara Heers „Cities of Entanglement“ vor – eine Ethnografie städtischen Lebens in Johannesburg und Maputo. In dem Buch wird deutlich, dass die beiden Städte im Gegensatz zur Vorstellung von divided cities durch zahlreiche Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen armen und reichen Vierteln geprägt sind. Lisa Vollmer bespricht Michael Ziehls Buch „Koproduktion urbaner Resilienz. Das Gängeviertel in Hamburg als Reallabor für eine zukunftsfähige Stadtentwicklung mittels Kooperation von Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung.“ Zwar stolpert sie ein wenig über die Verwendung des Begriffs Resilienz, betont aber, dass es dem Autor sehr gut gelungen ist, die politischen Auseinandersetzungen und Vernetzungen rund um das Gängeviertel zu rekonstruieren. Zudem bergen seine Methoden der Aktionsforschung und der Realexperimente Potenzial für kritische Kooperationsverfahren.

 

Wir wünschen Euch und Ihnen eine anregende Lektüre.

 

Herzliche Grüße und alles Gute

die Redaktion von s u b \ u r b a n

Kristine Beurskens, Laura Calbet i Elias, Nihad El-Kayed, Nina Gribat, Stefan Höhne, Johanna Hoerning, Jan Hutta, Justin Kadi, Michael Keizers, Yuca Meubrink, Boris Michel, Gala Nettelbladt, Lucas Pohl, Nikolai Roskamm, Nina Schuster, Lisa Vollmer