Wie sähe eine Landforschung aus, die vom Land aus und mit dem Land forscht?

Rezension zu Lisa Maschke / Michael Mießner / Matthias Naumann (2021): Kritische Landforschung. Konzeptionelle Zugänge, empirische Problemlagen und politische Perspektiven. Bielefeld: transcript.

Elisa T. Bertuzzo

Abb. 1 Titel des Buches (Quelle: transcript)

Im März 2021 folgte ich der Einladung einer Freundin, sie und ihre dreijährige Tochter auf dem Land zu besuchen. Erst als ich die noch winterlich anmutende Landschaft aus dem Zugfenster betrachtete und eine vage Sehnsucht in mir aufkam, ging mir durch den Kopf, dass ich sehr einfach der wachsenden Gruppe der Berliner*innen hätte zugesellt werden können, die zurzeit der Beengtheit, Beklemmung, Langeweile, der pandemiebedingt reizlosen Stadt zu entfliehen versuchten. Der Gedanke, auch nur nominell zur statistischen Gruppe der „Stadtfliehenden“ zu gehören – manche sprechen schon von „Landgentrifizierenden“ – begleitete mich die nächsten Tage. Als ich ihn abends einmal aussprach, kommentierte meine Freundin, die bei einem Architekturbüro in Halle angestellt ist, lediglich, dass sie sich seit dem Ausbruch von Covid-19 vor Anfragen zu Hausausbau und -neubau im ländlichen Raum nicht mehr retten könnten. „Mehrheitlich Leute in unserem Alter, aus Halle, aber auch aus anderen Städten“, skizzierte sie trocken die prototypischen Kund*innen. Hier stimmt die Statistik, sagte ich mir selbst; und wunderte mich noch mal darüber, wie müde und wortkarg sie seit Corona geworden war. Seit Monaten kämpfte sie nun schon, wie viele andere berufstätige Eltern, mit den Zumutungen des Homeoffice bei geschlossenen Kitas, des Wettkampfs um „Systemrelevanz“ und „dringlichen Betreuungsbedarf“ sowie mit dem zehrenden Gefühl, für das Kind ständig zu spät und zu wenig da zu sein. Doch anders als meine Freund*innen mit Kindern in der Stadt, hatte sie auch mit schnee- und eisbedeckten Straßen, regelmäßigen Staus und der Angst permanent zu kämpfen, wegen irgendeiner vergessenen Kleinigkeit noch mal ins Auto steigen zu müssen: In ihrem winzigen Dorf haben keinerlei Geschäfte mehr auf.

Nach diesem Besuch las ich den frisch im transcript-Verlag erschienenen Band Kritische Landforschung mit umso größerem Interesse. Lisa Maschke, Michael Mießner und Matthias Naumann stellen darin Ansätze aus der angloamerikanischen Landforschung vor, die ihrer Meinung nach aktuelle Transformationen ländlicher Räume in der Bundesrepublik erklären und Orientierungspunkte für eine emanzipatorische Politik bieten könnten. Das Buch strebt auch laut Eingangserklärung der Verfasser*innen nicht an, eine vollständige Darlegung oder endgültige Programmatik der kritischen Landforschung zu liefern. Mit ihrem Literaturbericht, der bei transcript eine Reihe zum Thema eröffnet, sei ihnen vielmehr daran gelegen, konzeptionelle Zugänge, empirische Problemlagen und, wie der Untertitel besagt, politische Perspektiven für eine Disziplin in ihren Anfängen — angesprochen ist vornehmlich die Geographie — zur Verfügung zu stellen. In drei aufeinander aufbauenden Kapiteln werden der Stand der Forschung über ländlichen Raum, insbesondere ländliche Entwicklung, umrissen (Kapitel 2: „Konzepte“); die ökonomischen, soziologischen, ökologischen und politischen Umwandlungen dargelegt, die in den letzten Jahren das Leben und Arbeiten auf dem Land verändert haben (Kapitel 3: „Transformationen“); und schließlich, einige alternative Strategien für die ländliche Entwicklung in Deutschland vorgestellt (Kapitel 4: „Perspektiven“). Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf Theorien und Forschungen zur ländlichen Entwicklung und nicht zum ländlichen Raum per se. Diese Beschränkung kollidiert gewissermaßen mit dem Versprechen, Weichen für eine kritische Landforschung zu stellen und erscheint mir daher nur teilweise förderlich.

In Kapitel 2 erhalten die Leser*innen eine nützliche Einführung in zeitgenössische Diskussionen vor allem aus den Feldern der politischen Ökonomie und der Ökologie. Die zitierte Literatur spiegelt den kritischen nordamerikanisch-europäischen Diskurs über Land und Land(wirtschafts)entwicklung gut wider. Dabei werden heiß debattierte Sachverhalte und Themen rekonstruiert, von der neomarxistisch geprägten Diskussion über ungleiche Entwicklung und deren räumliche Folgen in auf Wettbewerb angewiesenen Weltregionen bis zu David Harveys Konzept der accumulation by dispossession (Akkumulation durch Enteignung), die seit der Finanzkrise 2007/2008 zunehmend auch ländliche Räume betrifft; von der unfair gestalteten Organisation der Nahrungsregime bis zum verstärkten Aufkommen von Lebensmittelkrisen trotz oder gerade wegen industrialisierter Produktion und weltumspannender Lieferketten. Für den Bereich der politischen Ökologie vermisste ich wichtige Stimmen, beispielsweise die ökofeministischen Positionen von Maria Mies und Vandana Shiva (2014), Erik Swyngedouws und Maria Kaïkas Kritik des Neoliberalismus am Nachhaltigkeitsparadigma (2014) oder Jason Moores Analyse der Four Cheaps (2015).

Im nächsten Kapitel sind Transformationen zusammengetragen, die relevante Auswirkungen auf das Land haben. Besonders positiv hervorzuheben ist, dass die Autor*innen beim Thema Mechanisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft die nachteiligen Folgen für die Umwelt – etwa die Kontamination durch Chemikalieneinsatz, Bodenerschöpfung und Absenken des Grundwasserspiegels, Luft- und Wasserverschmutzung durch Monokulturen und Massentierhaltung oder das Auftreten neuer Pflanzenkrankheiten und Seuchen – nicht unerwähnt lassen. Diese gehen sonst angesichts der populäreren Folgen für Arbeit und Beschäftigung (Stichworte „Landflucht“ und „Schrumpfung“) häufig unter. Auch mit der Finanzialisierung der Landwirtschaft und der Kommerzialisierung des Umweltschutzes werden zwei wichtige Themen angeschnitten, zumal die schädlichen Folgen dieser Ausbeutungsstrategien für den ländlichen Raum bisher wenig durchdrungen wurden und die öffentliche Diskussion hierüber schlicht unzureichend ist. Schade ist, dass sich der Blick dabei auf die ländlichen Räume Deutschlands, Europas und Nordamerikas beschränkt, denn die Einbeziehung von Literatur und Fallstudien zu den noch tiefergreifenden Hintergründen und Implikationen dieser Strategien in ehemals kolonisierten oder/und weiterhin unter kolonialistischen Logiken leidenden Ländern wäre gerade für eine kritische Landforschung vonnöten – nicht zuletzt auch deswegen, weil viele der Migrationsbewegungen aus diesen Ländern, die zurzeit das Stadt- und Landleben in Deutschland sowie in ganz Europa verändern, infolge genau dieser Strategien entstehen oder durch diese verschärft werden. Klar ist ebenfalls, dass den immer neuen Ausformungen kapitalistischer Ausbeutung nicht nur lokal begegnet werden kann (und noch weniger allein durch Governance-Maßnahmen). Stattdessen sind gegenseitige Information und Solidarisierungen zwischen Bewohner*innen unterschiedlicher Kontinente gefragt. Dies und Weiteres mehr spricht für die absolute Notwendigkeit, jenseits von Kategorien wie Globaler Norden und Globaler Süden zu denken.

Nichtsdestotrotz erhalten die Leser*innen bei aller Kürze des Werks (150 Seiten) einen guten Einblick in Zusammenhänge und Phänomene, die in künftigen Arbeiten zu berücksichtigen und weiter auszudifferenzieren sein werden: von den Folgen von Bodenerschöpfung und -belastung über den Einfluss von Migration, die in ländlichen Räumen als besonders „ungesehen“ und untererforscht gilt, bis hin zu Fragen nach der Zukunft der Produktion und den Aussichten von Selbstverwaltung. Punktuell führt der Band spezifische Debatten aus Disziplinen wie der politischen Theorie, den Gender Studies oder der Stadtforschung ein, was insbesondere Studierenden aus den ersten Semestern sehr zugutekommen dürfte. Kapitel 4 („Perspektiven“) stellt emanzipatorische Wege aus den zuvor geschilderten Veränderungen und Herausforderungen vor: Selbstorganisation, Commons und neuen Munizipalismus. Laut den Verfasser*innen sollen diese Ansätze einen städtischen Ursprung haben, während soziale Bewegungen „von unten“, deren Ursprung deutlicher in nicht-urbanen Räumen zu verorten wäre, anscheinend keine „Lösungsansätze“ darstellen. Sie werden nur flüchtig im Zwischenkapitel „Selbstorganisation“ erwähnt, unter Stichworten wie „Aussteigertum“ und kleinbäuerlicher Landwirtschaft. Angesichts des Anspruchs, Weichen für eine „kritische“ Landforschung zu stellen, ist dies meiner Meinung nach zumindest verblüffend – selbst bei Kenntnisnahme des Fokus auf Entwicklung und Governance sowie der Intention der Verfasser*innen, Anstöße für politische Neuausrichtungen zu liefern. Im Sinne von Karl Marx’ Ausspruch, dass Theorie kritisch sei, wenn sie der „Selbstverständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche“ diene (Marx 1974 [1843]), sollten Forschende ihre Forschungsziele und -rahmen jeweils mit jenen der (oppositionellen) Gruppen und sozialen Bewegungen abstimmen, mit denen sie sich (wenn auch kritisch) identifizieren oder deren Teil sie womöglich selbst sind. Beim Lesen des rezensierten Bands kann leicht der Eindruck entstehen, solche Gruppen und Bewegungen, kollektivierbare Bedürfnisse oder Wünsche seien im ländlichen Raum schwer zu finden: Dort, so ist an mehreren Stellen zu lesen, formierten sich aktuell eher konservative oder gar rechte Gruppierungen. Doch gibt es auf dem Land tatsächlich einen Mangel an progressiven Bewegungen oder hat der Eindruck eher etwas mit der Auswahl der präsentierten Studien zu tun? Wie schwer wiegt es, dass – wie schon Ananya Roy (2011) selbstkritisch bemerkte – die Forschenden selbst von Städten, noch dazu von eher westlichen Städten, und nicht von ländlichen Gebieten aus (be-)urteilen, ihre Theorie bilden sowie Entwicklungsziele und -wege (vor)definieren? Mit anderen Worten: Sind wir Forschende in der Lage, Kämpfe und Wünsche von Landbewohner*innen – einschließlich der nicht-menschlichen (non-human) unter ihnen – anzuerkennen?

Zuallererst ist aber zu fragen: Um welches „Land“ geht es? Die Autor*innen von Kritische Landforschung erklären zwar, Land bzw. ländlichen Raum nicht universalistisch-positivistisch als gegeben zu verstehen, sondern in einem konstruktivistischen Sinne als diskursiv und gesellschaftlich produziert. Sie erinnern in diesem Zuge an die nachteiligen räumlichen, das heißt materiellen Implikationen bestimmter Repräsentationen von Land, etwa im Fall der Vereinnahmung des „ländlichen Idylls“ für Zwecke des Tourismus oder bei der kursierenden Vorstellung einer auf dem infrastrukturell und sozial „rückständigen“ Land lebenden weißen Klasse mit rassistischen Zügen, die differenzierten Analysen und einer notwendigen Unterstützung von Armen und ethnischen Minderheiten ja nur im Wege stehen. Trotz des Bewusstseins für diese Problematik wiederholen sich im Band Vergleiche zwischen Land und Stadt, Landsoziologie und Stadtsoziologie, Landforschung und Stadtforschung, die eine weitere Repräsentation zu verabsolutieren scheinen – nämlich den Gegensatz zwischen Stadt und Land. Unterdessen wird suggeriert, Letzteres habe einen untergeordneten Stellenwert gegenüber Ersterer, nicht nur in der Wissenschaft. Allerdings fördern die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, erst recht unter den heutigen Bedingungen fortgeschrittener Globalisierung, sowohl in der Stadt als auch auf dem Land sehr ähnliche Prozesse. Deshalb ist es trotz aller Unterschiedlichkeiten analytisch schwierig und politisch nicht förderlich, beide als Gegensätze darzustellen. Dass wir den mentalen „Land“-„Stadt“-Gegensatz komplett überwinden, erscheint mir vielmehr eine Voraussetzung dafür zu sein, dass wir die Komplexität, Gleichzeitigkeit und Differenz – die anderen Lebensformen und Erwartungen an Alltags- und Zusammenleben sowie die unklaren und widersprüchlichen, zum Teil gefährlichen, ökologischen, ökonomischen und politischen Entwicklungen – unserer Zeit kritisch und vorurteilsfrei analysieren können. Raymond Williams vertrat dieses Verständnis bereits in seinem 1973 erschienenen und von den Verfasser*innen überraschenderweise nicht aufgeführten Buch The Country and the City (Williams 1973). Dies ruft zu einer interdisziplinär forschenden Praxis auf und vor allem dazu, translokale Phänomene unabhängig von Räumen (also egal ob und wie „ländlich“ oder „städtisch“ diese sind) zu studieren.

Fazit: Wenn eine kritische Landforschung – die nicht nur als Landentwicklungsforschung zu verstehen ist – eine ebenso theoriebildende wie auf Anwendung orientierte inter- und transdisziplinäre Praxis in Entwicklung ist, müssen ihre Vertreter*innen auch herkömmliche Kategorien und mental-diskursive Grenz(-ziehung)en aufheben. Hierzu möchte ich anmerken, dass sich Kolleg*innen aus benachbarten Disziplinen, die für einen Dialog mit der Geographie eigentlich prädestiniert sind, aber im rezensierten Band kaum erwähnt werden, wie der Ethnologie, der Landschafts- und Raumplanung sowie der Stadtplanung, seit einigen Jahren auch im deutschsprachigen Raum verstärkt mit Themen wie der „Schrumpfung“ der ländlichen Bevölkerung, den Effekten des Klimawandels, der Bodenerschöpfung und vielem mehr auf dem Land befasst haben. Oft beruhen ihre Arbeiten auf der umstrittenen These des „Anthropozäns“, aber inzwischen haben sich auch weniger anthropozentrische Betrachtungsweisen herausgebildet, welche die stete Interaktion und die wechselseitige Bedingtheit von Menschen und Nicht-Menschen fokussieren. Denken wir etwa an den Ansatz der multispecies ethnography beispielsweise in Anna Tsings (2015) Forschung, die auf urbanen Märkten in Japan, in den Wäldern Oregons (USA) sowie in Pilzfarmen im ländlichen Laos und Kambodscha stattfindet. Deren Protagonist*innen sind ein Pilz und in die USA Deportierte sowie aus den USA zurückkehrende Migrant*innen (bzw. deren Nachfahren). Zu diesem und ähnlichen wichtigen Perspektivenwechseln ist es weniger unter dem Banner „klassischer“ westlicher kritischer Forschung gekommen als vielmehr dank feministischen und post- bzw. dekolonialer Impulse, die im Sinne einer kritischen Landforschung in Zukunft unbedingt stärker beachtet werden sollten.

Autor_innen

Elisa T. Bertuzzo forscht über Produktion des Raums, Recht auf Stadt und Migration in Indien und Bangladesch.

et_bertuzzo@posteo.de

Literatur

Marx, Karl (1974 [1843]): Karl Marx / Friedrich Engels Werke (MEW), Band 1. Berlin (Ost): Dietz, 343-346.

Maschke, Lisa / Mießner, Michael / Naumann, Matthias (2021): Kritische Landforschung. Konzeptionelle Zugänge, empirische Problemlagen und politische Perspektiven. Bielefeld: transcript.

Mies, Maria / Shiva, Vandana (2014): Ecofeminism. London/New York: Zed.

Moore, Jason (2015): Capitalism in the web of life: Ecology and the accumulation of capital. London/New York: Verso.

Roy, Ananya (2011): Slumdog cities: Rethinking subaltern urbanism. In: International Journal of Urban and Regional Research 35/2, 223-238.

Swyngedouw, Erik / Kaïkas, Maria (2014): Urban political ecology. Great promises, deadlock… and new beginnings? In: Documents d’Anàlisi Geogràfica 60/3, 459-481.

Tsing, Anna (2015): The mushroom at the end of the world: On the possibility of life in capitalist ruins. Princeton/Oxford: Princeton University Press.

Williams, Raymond (1973): The country and the city. Oxford/London: Oxford University Press.