Blickpunkte austesten: Forschung inmitten von Kindheiten und anderen Umständen

Rezension zu Peter Kraftl (2020): After Childhood. Re-thinking environment, materiality and media in children’s lives. London: Routledge.

Dana Ghafoor-Zadeh

Abb. 1 Titel des Buches (Quelle: Routledge)

Der Geograph Peter Kraftl beschäftigt sich in After Childhood. Re-thinking environment, materiality and media in children’s lives mit aktuellen Herausforderungen und Potenzialen: Es geht um Klimawandel, Ressourcenverteilung, digitale Technologien, soziale und mehr als menschliche Netzwerke – und immer um die Frage „Where are children, precisely?“ (Kraftl 2020: 3) Wo genau befinden sich junge Menschen in den „komplexen Verflechtungen von Ressourcen, Institutionen und übermenschlichen Interaktionen“ (ebd.; eigene Übersetzung), wie finden sie sich darin wieder und welche Positionen nehmen sie dazu ein?

After Childhood richtet sich an Studierende und Forschende der Sozial-, Kunst- und Geisteswissenschaften und ist Teil der „Routledge Spaces of Childhood and Youth Series“. Die inter- und transdisziplinär ausgerichteten Titel dieser Reihe setzen sich mit den Themen Räumlichkeit, Bewegung, Scales und Netzwerke in der Kindheitsforschung auseinander. After Childhood erfüllt den Anspruch der Serie, konzeptuell wie empirisch disziplinübergreifend nicht nur innovative Denkanstöße zu verbinden, sondern auch methodische Konventionen aufzubrechen. Auf Basis interdisziplinärer, internationaler und oft kollaborativer empirischer Forschungsprojekte soll forscherische Praxis partizipativ erweitert und sollen damit drängende ökologische, ökonomische und soziale Fragen adressiert werden.

Der titelgebende Begriff After Childhood weist erstens auf naheliegende zeitliche Dimensionen wie den individuellen Lebensverlauf von Menschen. Zweitens deutet der Begriff auf generationale Ordnungen, die sich gesellschaftlich beispielsweise im Familienleben sowie in Bildungs- und Betreuungsinstitutionen zeigen. Drittens schwingt in After Childhood die Einladung mit, einen Schritt zurückzutreten und in einem weiter gefassten Blick über Kindheit hinauszuschauen.

Dass Kraftl als wichtiger Vertreter der Children’s Geographies immer wieder dafür plädiert, Kinder und Jugendliche in den Hintergrund zu rücken, verwundert zunächst – müssen Kindheitsgeograph_innen sich doch noch immer bemühen, Perspektiven von Kindern und Jugendlichen zentral im geographischen Bewusstsein zu verorten. Ferner wirft das Spiel mit der Tiefenschärfe die Frage auf, ob die Auseinandersetzung mit Kindheit und Jugend in der geographischen Forschung nicht sowieso an „größere“ Themen und wissenschaftliche Diskurse gebunden ist. Allein der akademische Weg führt in der Geographie doch eher von der Stadt, der Umwelt, der Mobilität, der Wohnung beziehungsweise vom Konsum zum Kind, als andersherum.

Der Anspruch, Kindheit immer wieder aus dem Fokus rücken zu lassen (vgl. „arts of (not) noticing“; „pull focus“ nach Tsing 2015) und anderes zentral zu stellen, gewinnt jedoch im Verlauf des Zusammenwebens der persönlichen Forschungserfahrungen Kraftls, seiner Zusammenführung von Konzepten und gesellschaftlichen Diskursen an Dimension und Überzeugung. Nicht nur finden dem Konzept zufolge wichtige Themen Eingang in die Kindheitsforschung; insbesondere die interdisziplinäre Ausrichtung der Forschung im Sinne von After Childhood macht das Thema Kindheit und konkret junge Menschen in Feldern sichtbar, die sich sonst kaum mit den Lebensrealitäten der „minor players“ (Taylor 2020) auseinandersetzen.

Auch Kinder können und müssen zeitlich und räumlich verschiedene und wandelbare Positionen gleichzeitig einnehmen. Zwar betont Kraftl an mehreren Stellen buchstäblich, damit keine revolutionären Ideen zu präsentieren:

„Indeed, the whole premise of thinking and doing, after childhood, is not to invent or impose a new paradigm, but it is to introduce a set of new ways of thinking and doing that I hope might inspire a range of responses and which might enable childhood studies scholars to push, even further, at the challenges invoked by non-representational, new materialist, post-humanist, OOO [object-oriented ontologies], critical race, queer and generational theorists.“ (Kraftl 2020: 14)

Tatsächlich umfassen Kraftls Ausführungen auch von ihm selbst angestoßene Debatten zu Agency, Generationenverhältnissen, New Materialism und More-than-human-Ansätzen (vgl. Ansell 2009; Horton/Kraftl 2006; Kraftl 2014; Spyrou/Rosen/Cook 2018). Dennoch ist der weite Bogen, der hier aufgespannt wird, stilistisch besonders und zieht immer wieder von Neuem in den Bann, wenn collagenartig Themen versammelt werden, die sich mal gegenseitig überlagern, mal wie Puzzlestücke ineinandergreifen.

Komplexe Krisen sind der Antrieb hinter Kraftls philosophischer Fort-Bewegung, weg von und doch auch immer wieder zurück zur Kindheit – denn Bezugspunkt bleiben immer junge Menschen. So schließt er sich Post-child-Debatten nur bedingt an. Anthropozentrismus-kritische Perspektiven erscheinen grundlegend, um die Verwicklungen unterschiedlicher, auch nicht-menschlicher Subjektpositionen zu thematisieren. Kraftl lehnt es jedoch ab, ohne Menschen und vor allem ohne Kinder zu denken: „That would be unsustainable in a book about childhood.“ (Kraftl 2020: 4) – Ein wichtiger Satz angesichts der Tatsache, dass Vertreter_innen der New Social Studies of Childhood seit den 1990er Jahren dafür eintreten, junge Menschen als vollwertige, eigenständige „beings“ zu begreifen, die den „less-than-adult status“ (Holloway/Valentine 2000: 2) nicht erst durch Sozialisation und Reife überwinden (vgl. James/Jenks/Prout 1998). Vor allem Kindheitsforscher_innen der Soziologie und Erziehungswissenschaften haben seit Ende des 20. Jahrhunderts Kindheit und Kinder als aufgeladene Konzepte sowie als historisch und sozial gewachsene Konstruktionen thematisiert. Fragen zu „Wer oder was sind Kinder?“ oder „Was alles bedeutet Kindheit?“ bleiben in After Childhood allerdings im Hintergrund, wenn wie selbstverständlich in Schulen und über Spielzeug geforscht wird.

Fokus der neun Kapitel und vier Forschungsprojekte in England und Brasilien bleibt stattdessen die Frage „Wo genau sind Kinder?“. Konzeptionell zentral sind vor allem Erfahrungen aus dem interdisziplinären Projekt „Plastic Childhoods“ (2018-2020), das Geograph_innen, Pädagog_innen, Künstler_innen, Kommunikations- und Umweltwissenschaftler_innen an einer Schule in Birmingham mit dem Ziel durchgeführt haben, die Bedeutung von Kunststoffen für das Leben von Kindern und Jugendlichen zu verstehen. Doch auch die weiteren Fallstudien sind aufschlussreich. Das Projekt „(Re)Connect the Nexus“ (2016-2018) untersucht, wie der (fehlende) Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser und Energie sich im Alltag von Kindern und Jugendlichen in Brasilien auswirkt. Energie ist auch zentrales Thema des in Birmingham angesiedelten Teilprojekts des internationalen „Climate Action Networks“ (2018-2020). Es beschäftigt sich mit alternativen Formen von Umweltpädagogik in Anlehnung an feministische und postkoloniale New-Materialist-Prinzipien. „(Re)Inhabiting the City“ (2018), eine Zusammenarbeit von Humangeograph_innen, Architekt_innen und Planer_innen, thematisiert die Bedeutung von Interventionen als Umgang mit zunehmendem Verfall und Leerstand in Stadtteilen von São Paulo.

Die Darstellung der empirischen Forschungsprojekte macht einige wesentliche Gedanken zuweilen umfangreicher theoretischer Schleifen fassbar. So steigt Kraftl mit den Leser_innen über das Feld eines Abfall- und Recycling-Parks in der Peripherie der Stadt Guaratinguetá im Bundesstaat São Paulo und führt verschiedene krisenfokussierte Perspektiven zusammen. Seine Einsicht, in einem Bezirk forschend unterwegs zu sein, „which faces a number of intersecting problems“ (Kraftl 2020: 56), macht das Dilemma deutlich, wenn Forschungspraxis an einem Ort gleichzeitig wichtig und vollkommen fehl am Platz erscheint. Die Beschreibung einer scheinbar ziellosen Suche in Luz in São Paulo – ja, wonach eigentlich? – und der Fund einer zurückgelassenen Plastikpuppe in einem verlassenen Gebäude, bezeugt von einer Schwarz-Weiß-Fotografie, treiben die eigenartige Atmosphäre zu einem anziehenden, befremdlichen Höhepunkt. Auch an anderen Stellen gelingt es, mithilfe ausdrucksstarker Abbildungen und teils literarisch, teils poetisch anmutender Textpassagen dem Nachempfinden von Erfahrungen in Forschungsprozessen nahezukommen, die so vieles gleichzeitig sind: offen und unübersichtlich, komplex und beklemmend, voll ungeahnter Schätze und Selbsterkenntnisse, auffordernd und überfordernd.

Hilfestellung im Umgang mit den daraus resultierenden Unsicherheiten bieten möglicherweise die konzeptuellen Bezugspunkte. So bezieht Kraftl sich auf feministische und postkoloniale relationale Ansätze des New Materialism (vgl. u. a. Haraway 2016; Braidotti 2011). Wo diese in der Kindheitsforschung bereits angenommen wurden, fordert er Erweiterungen und bietet Leser_innen einen Streifzug durch theoretische Debatten und praktische Forschungsexperimente, um das Potenzial von „speculative-realist and object-oriented ontologies“ (Kraftl 2020: 6) auszutesten.

An mehreren Stellen reflektiert er seine eigene Position „as a white, male, privileged academic means that I both get the chance to stake out a sense of ‘what matters’ (in books like this) and that I am necessarily blinkered in my view.“ (Ebd.: 205) Was das für die Forschungspraxis bedeutet, bleibt trotz der prominenten Anerkennung potenzieller Probleme zuweilen undeutlich. Im Projekt „Plastic Childhoods“ sollen die Teilnehmer_innen beispielsweise totem poles aus verschiedenen Kunststoffobjekten basteln. Kraftl thematisiert die kulturelle Aneignung und die kontextuelle Umwidmung für das Forschungsprojekt. Er bezieht selbst Position („my ongoing discomfort“; ebd.: 186) und regt mit Verweisen auf relevante theoretische Abhandlungen zur kritischen Reflexion an. Gleichzeitig bleibt der Prozess des Abwägens alternativer Möglichkeiten der Methodik knapp – und damit die Frage offen, was es bedeutet, wenn Spannungen zwar anerkannt, aber dennoch über sie hinweg gehandelt wird. Auch damit bildet das Buch drängende reale Fragen und Leerstellen gegenwärtiger Forschungspraxis ab und lässt sich als Aufforderung verstehen, sich weiter mit ihnen auseinanderzusetzen.

Insbesondere die offenen Fragen provozieren geradezu den Anschluss weiterer Disziplinen. Inter- und Transdisziplinarität „beyond the boundaries of childhood studies and the social sciences“ (ebd.: 32) ist ein zentraler Weg, um After-Childhood zu realisieren. Das Zusammendenken verschiedener Disziplinen kann helfen, Ursachen von Traumata, die bereits heute im Lebensalltag von Kindern und Jugendlichen eine Rolle spielen oder aber in Zukunft Kindheiten prägen könnten, zu erkennen und einen Umgang mit ihnen auszuloten. After Childhood bietet dafür ein neues Set konzeptueller und sprachlicher Werkzeuge. Das Buch eröffnet ein neues Verständnis von Generationenverhältnissen, das das bislang dominierende Generationen-Denken in menschlichen Lebzeiten weit übersteigt: „Pushing somewhat the definition of the term, I speculate about the ‚generations‘ of objects, like toys; of earthly systems, such as weather, climate, sedimentation or sea-level rise; and of demographic trends and the evolution of the human species.“ (Ebd.: 113 f.) Die Bezüge zu archäologischen Ausgrabungen von antikem Spielzeug, die Plattformanalysen von Online-Märkten für Spielzeugantiquitäten oder die intersektionale und umweltwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Bedeutung zurückgelassener Plastikpuppen in Bauruinen von São Paulo illustrieren dieses offene Generationenverständnis und zeigen, wo es wirksam wird.

Das Buch bewegt besonders in den die Kapitel einführenden Beispielen: Hier werden die Verwicklungen ökologischer, ökonomischer und sozialer Krisen mit dem Leben junger Menschen in verschiedenen räumlichen und zeitlichen Kontexten sichtbar. Wofür steht etwa die Masse nicht kompostierbarer Gummireifen auf der Mülldeponie in Guaratinguetá, und wie lässt sie sich in Zusammenhang mit dem via Twitter weit verbreiteten Ereignis verstehen, als im August 2016 junge Menschen in Aleppo Autoreifen anzündeten, um durch den entstehenden Rauch Flugzeugbomben zu verhindern (ebd.: 81 f.)? Wie sehen Kindheiten in diesen miteinander verbundenen und doch ganz unterschiedlichen Realitäten aus? Kraftl nimmt die realen Situationen zum Anlass, die Bedeutung weiterer Auseinandersetzungen hervorzuheben. So bleiben am Ende der Lektüre nicht nur viele Fragen offen, sondern auch neue Blickwinkel – für mehr, verbundene und wagemutige Forschung.

 

Die Publikation wurde mit Mitteln der DFG (SCHR 1329/2-1) gefördert.

Autor_innen

Dana Ghafoor-Zadeh forscht im Bereich Humangeographie mit dem Schwerpunkt Children‘s Geographies und Stadtgeographien.

dana.ghafoor@ph-freiburg.de

Literatur

Ansell, Nicola (2009): Childhood and the politics of scale. Descaling children’s geographies? In: Progress in Human Geography 33/2, 190-209.

Braidotti, Rosi (2011): Nomadic theory. The portable Rosi Braidotti. New York: Columbia University Press.

Haraway, Donna (2016): Staying with the trouble. Making kin in the Chthulucene. Durham/London: Duke University Press.

Holloway, Sarah L. / Valentine, Gill (2000): Children’s geographies and new social studies of childhood. In: Sarah L. Holloway / Gill Valentine (Hg.), Children’s geographies. Playing, living, learning. London/New York: Routledge, 1-26.

Horton, J. / Kraftl, Peter (2006): Not just growing up, but going on. Materials, spacings, bodies, situations. In: Children’s Geographies 4/3, 259-276.

James, Allison / Jenks, Chris / Prout, Alan (1998): Theorizing childhood. Cambridge: Polity Press.

Kraftl, Peter (2014): Alter-childhoods. Biopolitics and childhoods in alternative education spaces. In: Annals of the Association of American Geographers 105/1, 219-237.

Kraftl, Peter (2020): After childhood. Re-thinking environment, materiality and media in children’s lives. London: Routledge.

Spyrou, Spyros / Rosen, Rachel / Cook, Daniel Thomas (Hg.) (2018): Reimagining childhood studies. London/New York: Bloomsbury Academic.

Taylor, Affrica (2020): Countering the conceits of the Anthropos. Scaling down and researching with minor players. In: Discourse: Studies in the Cultural Politics of Education 41/3, 340-358.

Tsing, Anna Lowenhaupt (2015): The mushroom at the end of the world. On the possibility of life in capitalist ruins. Princeton/Oxford: Princeton University Press.