Vom Fangspiel auf der Straße zum Tanzvideo auf TikTok – Wards Plädoyer für kindliche Freiräume Reloaded

Kommentar zu Colin Ward „Das Kind in der Stadt (Auszüge)“ (2021 [1978])

Anika Duveneck

Das Buch Das Kind in der Stadt ist ein 1978 ins Deutsche übersetztes, hierzulande aber wenig rezipiertes Werk des inzwischen verstorbenen britischen Anarchisten und Stadtforschers Colin Ward aus dem Jahr 1977. Darin widmet er sich scheinbar banalen Orten städtischer Kindheit, die sich der „Kinderfolklore“ zuordnen lassen. Darunter werden Phänomene verstanden, die ohne den Einfluss Erwachsener in zufällig zusammentreffenden Kindergruppen entstehen, unter Kindern weitergegeben werden und Erwachsenen meist verborgen bleiben. Seine Beschreibungen dieser Orte ergänzt Ward durch zahlreiche Fotografien, um „Intensität, Vielfalt und Einfallsreichtum“ (Ward 1978: VIII) möglichst wirkungsvoll zu vermitteln und die Leser:innen anzuregen, sich in „die Seele des heutigen Großstadtkindes hineinzuversetzen“ (ebd.).

Auf etwa 220 Seiten geht Ward der Frage nach, ob in der Beziehung zwischen Kindern und Städten nicht „etwas verloren“ (ebd.: VI) gegangen sei. Vor dem Hintergrund der von ihm wahrgenommenen zunehmenden Abwesenheit von Kindern im öffentlichen Raum bemängelt er, Kinder könnten „unter den unvermeidlichen modernen Bedingungen nicht mehr gedeihen“ (ebd.: VII), da ihnen Technologie, Mobilität, Verlust von Landschaft und traditioneller Nachbarschaftlichkeit und die immer stärkeren Einschränkungen ihres Spielraums die „reale Welt“ (ebd.) raubten. Neben seinem Anliegen, die Verbindung zwischen dem Kind und dessen städtischer Umwelt „fruchtbarer und erfreulicher“ (ebd.: VI) zu gestalten, beschäftigt er sich mit dem Thema Bildung. Ward sieht in der Großstadt eine „lehrreiche Umwelt“, die genutzt werden könne, indem man „durch sie etwas über sie lernt, sie benutzen, sie beherrschen oder sie ändern lernt“ (ebd.: 176, Hervorh. d. A.). Ward plädiert daher für ein stadtbezogenes Lernen. Im Kapitel „Stadt als Lehrmittel“ schlägt er etwa dezentrale Schulkonzepte wie „Schule ohne Mauern“ oder das „City College“ vor, bei denen Unterricht nicht im Schulgebäude, sondern an vielen verschiedenen städtischen Orten stattfindet: Kunstunterricht im Kunstmuseum, Biologie im Zoo etc.

Aus heutiger Sicht liest sich das Buch bemerkenswert aktuell: Zunächst nimmt es die Debatte um Kommunale Bildungslandschaften vorweg, die in Deutschland Anfang des Jahrtausends aufgekommen ist (Mack et al. 2006; Duveneck 2016; Gumz/Thole i. E.). Das Konzept der Bildungslandschaft zielt auf eine systematische Erschließung des Potenzials von Städten als Lernraum ab. Es gründet sich auf die Annahme, dass städtische Freiräume – informelle und unbeplante Orte – erforderlich sind, um jungen Menschen Selbstwirksamkeitserfahrungen sowie Aushandlungs- und Aneignungsprozesse zu ermöglichen. Es verfolgt ein Verständnis von Stadt als Lernraum, nach dem Bildung nicht nur an formalen Orten wie Schulen stattfindet, sondern ständig – unbewusst und informell – im Alltag.

Entsprechende Ansätze werden in vielen Städten bundesweit erprobt, erforscht und weiterentwickelt. Die in Wards Buch vorgestellten Schulkonzepte spielen in der Debatte um Bildungslandschaften zwar keine zentrale Rolle, haben im Rahmen der Coronapandemie jedoch ungeahnte Aktualität erlangt: Unterrichtsaktivitäten an der frischen Luft oder in den Räumlichkeiten leerstehender Kultureinrichtungen etwa hätten unter Gesichtspunkten des Infektionsschutzes mehr Sicherheit gewährleisten können als der klassische Präsenzunterricht. Zudem hätten sie den Bedürfnissen junger Menschen und ihrer Familien stärker gerecht werden können als das Homeschooling. Die Umsetzung dezentraler Unterrichtskonzepte war jedoch keine Option, da kommunale Bildungskonzepte bislang als Add-on zu kommunalen Pflichtaufgaben betrachtet wurden. Ihre Potenziale für die Bewältigung unvorhergesehener Situationen im Bildungsbereich wurden noch nicht erkannt und entsprechende Voraussetzungen nicht geschaffen.

So wie die Pandemie die Frage aufwirft, was die bisherigen Bemühungen rund um Bildungslandschaften erreicht haben, wenn junge Menschen immer noch vorwiegend als Schüler:innen gesehen werden und Bildung mit Schule gleichgesetzt wird, so stellt sich bei der Lektüre des Buches ein ähnlicher Effekt ein: Schon in den 1970er Jahren bestand der Eindruck, kindliche Lebenswelten würden zunehmend durchgetaktet, institutionalisiert und verinselt. Wards Ausführungen bringen die Annahme ins Wanken, Kinder seien früher freier gewesen und hätten mehr ungeplante Zeit in öffentlichen Räumen verbracht. Doch kann die Vergangenheit als Referenzpunkt dienen, wenn es früher genauso war?

Die Antwort liefert Ward selbst. Im ersten Kapitel „Verlorenes Paradies?“ geht er auf die Frage ein, woher der Eindruck kommt, die eigene Kindheit sei freier gewesen:

„Da die Kindheit zu den wenigen universellen Erfahrungsbereichen gehört, ist es nicht verwunderlich, daß die Menschen ein inneres Bild von der idealen Kindheit haben […] Es sickert durch unsere ausgewählte und selbstzensierte Erinnerung als ein Mythos und eine Idylle der Art und Weise, wie alles sein sollte – das verlorene Paradies, das man wiedergewinnen möchte.“ (Ward 1978: 2)

Selbst bei Menschen, deren Kindheit weniger paradiesisch, sondern durch „grausame Erfahrungen“ (ebd.) geprägt war, stelle sich dieser Mechanismus ein. Hier zeigt sich eine weitere interessante Parallele zu den Bildungslandschaften, deren Entwicklung maßgeblich von „Rationalitätsmythen“ (Mayer/Rowan 1977) geprägt ist – das heißt von Annahmen, die so überzeugend scheinen, dass sie keiner Beweise bedürfen,[1] selbst wenn sie sich als falsch erweisen (Stolz/Schalkhaußer/Täubig 2011; Schmachtel 2016; Brüggemann 2021).

Abgesehen davon, dass der erwachsene Blick auf Kindheit durch persönliche Erinnerungen verzerrt und verklärt wird, haben Kinder eben ihren eigenen Blick auf städtische Räume. Gerade dieser kindliche Blick fasziniert Ward. Er stellt etwa die argentinische Stadt Las Rosas (Ward 1978: 9) vor, die von Kindern als „schön, freundlich, wohnlich und lustig“ beschrieben und anderen Gegenden vorgezogen werde, obwohl sie neben einem Gefängnis auf einer Abfallhalde errichtet wurde und durch „ärmliche Standardhäuser“ (ebd.) geprägt sei. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob die Bereitstellung kindlicher Freiräume durch Erwachsene überhaupt sinnhaft ist, zeigt das Buch doch eindrucksvoll, dass sich Kinder nehmen, was sie brauchen: Sie finden auch dort Entfaltungsmöglichkeiten, wo in den Augen Erwachsener keine sind. Wards Darstellungen, wie Kinder „jedes übriggebliebene Fleckchen der Stadt ihren eigenen Zwecken nutzbar machen, wie erfindungsreich sie jede kleine Gelegenheit zum Vergnügen ergreifen“ (ebd.: 211), ist eine der großen Stärken des Buches.

So lassen sich aus der Re-Lektüre von Das Kind in der Stadt zwei Erkenntnisse ziehen: Zum einen, dass der Eindruck einer zunehmend durchregulierten kindlichen Umwelt und der Notwendigkeit der Bereitstellung von Freiräumen offensichtlich weniger auf tatsächliche Veränderungen städtischer Räume zurückgeht als vielmehr auf Unterschiede zwischen kindlicher und erwachsener Raumwahrnehmung. Zum anderen legt der Text nahe, Abstand vom Anspruch einer erwachsenen Gestaltung kindlicher Freiräume zu nehmen. Damit nimmt die klassische Deutung von Das Kind in der Stadt als Ode an das freie Spiel im öffentlichen Raum eine bemerkenswerte Wendung: Obwohl Ward Einschränkungen in der „realen Welt“ betrauert, würde eine technologiekritische, die Stadt romantisierende Lesart des Buches seinen stärksten Punkt verfehlen: sein Plädoyer für die Anerkennung der Freiräume, die Kinder sich nehmen. Diese finden sie heutzutage vor allem im digitalen Raum. Dort kommen junge Menschen zusammen und bringen ohne den Einfluss Erwachsener Neues hervor.

Den Geist des Buches atmet daher, wer Tanzvideos und Challenges nicht gegen klassische Formen der Kinderfolklore wie Fangspiele, Fingerreime und Gummitwist ausspielt, sondern als deren moderne Formen anerkennt und somit heutigen Freiräumen wie TikTok und Co. dieselbe Faszination entgegenbringt wie Colin Ward den scheinbar banalen Orten in der Stadt.

Endnoten

Autor_innen

Anika Duveneck ist Stadtgeographin und promovierte Erziehungswissenschaftlerin. Sie arbeitet zu Bildung, Raum und multiperspektivischer Zusammenarbeit.

anika.duveneck@fu-berlin.de

Literatur

Brüggemann, Christian (2021): Datenbasiertes Management als Steuerungsversprechen der Regionalisierungspolitik im Bildungswesen. In: Zeitschrift für Pädagogik 67/3, 338-352.

Duveneck, Anika (2016): Bildungslandschaften verstehen. Zum Einfluss von Wettbewerbs-bedingungen auf die Praxis. Weinheim: Beltz Juventa.

Mack, Wolfgang / Harder, Anna / Kelö, Judith / Wach, Katharina (2006): Lokale Bildungslandschaften. Projektbericht Deutsches Jugendinstitut. München. https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs/Projektbericht_Bildungslandschaften_Mack.pdf (letzter Zugriff am 17.9.2021).

Mayer, John W. / Rowan, Brian (1977): Institutionalized organizations: Formal structure as myth and ceremony. In: American Journal of Sociology 83/2, 340-363.

Schmachtel, Stefanie (2016): Local partnerships as „rationalized myths“: A critical examination of the micro-discourse in educational partnership working. In: Critical Policy Studies 10/4, 448-467.

Stolz, Heinz-Jürgen / Schalkhaußer, Sophie / Täubig, Vicki (2011): „Vernetzte Bildung“ – ein institutioneller Mythos? In: Petra Bollweg / Hans-Uwe Otto (Hg.), Räume flexibler Bildung. Bildungslandschaft in der Diskussion. Wiesbaden: VS-Verlag, 67-79.

Gumz, Heike / Thole, Werner (2022): Bildung in lokalen Räumen. Empirische Befunde, theoretische Rahmungen, politische Herausforderungen. Wiesbaden: VS Verlag.

Ward, Colin (1978): Das Kind in der Stadt. Frankfurt am Main: Goverts.