Angestaubt

Rezension zu Jürgen Hasse (2020): Wohnungswechsel. Phänomenologie des Ein- und Auswohnens. Bielefeld: transcript.

Simon Runkel

Abb. 1 Titel des Buches (Quelle: transcript-Verlag)

„Ich weiß nicht, wer da wohnt, aber es muß hinter dieser Glastür ein Paradies von Reinlichkeit und abgestaubter Bürgerlichkeit wohnen, von Ordnung und ängstlich-rührender Hingabe an kleine Gewohnheiten und Pflichten. […] nichts liegt mir ferner, als diese Bürgerlichkeit und Ordnung etwa verlachen zu wollen. Es ist ja richtig, ich selbst lebe in einer anderen Welt, nicht in dieser, und vielleicht wäre ich nicht imstande, es auch nur einen Tag lang in einer Wohnung mit solchen Araukarien auszuhalten.“ (Hesse 2020 [1950]: 22)

Ich bin geneigt – in aller Freundschaft – mir Jürgen Hasse als einen schlechten Umzugshelfer vorzustellen: eher stöbernd, denn zupackend, eher sinnierend, denn tragend. Dennoch hat er mit Wohnungswechsel. Phänomenologie des Ein- und Auswohnens einen Essay vorgelegt, der auf Erfahrung mit Umzügen schließen lässt. Es ist ein seltsamer und schöner Text. Seltsam, weil die literarisch-phänomenologische Schreibweise und Sprache in den raumbezogenen Wissenschaften bedauerlicherweise nur noch selten anzutreffen ist. Schön, weil es denkwürdig und anregend ist, dem Autor auf seiner verdichteten Erkundung des Phänomens zu folgen. Die Idee des Buches ist simpel: An der Schwelle, der Wechselstelle zwischen einer alten und einer neuen Wohnung setzt Hasse an, um mittels einer Phänomenologie der Wohnungsumzüge zum Wohnen selbst vorzudringen. Das Buch ist in sechs Abteilungen gegliedert. Deren Sortierung folgt keiner Chronologie, sondern den „Bedeutungen, die sich in der Dauer und gelebten Zeit eines Umzugs sowie im Fokus subjektiver Teilhabe an seinem Geschehen durch die Bewegung aller Dinge des Wohnens konkretisieren und damit fassbar werden.“ (Hasse 2020: 21) Nach einer Einleitung – die den Gegenstand des Buchs konturiert und die phänomenologische Methode erläutert – sucht er in der ersten Abteilung „Umziehen“, zunächst dem Wohnungswechsel selbst auf die Spur zu kommen. Er begreift diesen als eine Situation im Sinne der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz (was angesichts von Hasses zahlreichen Publikationen zu erwarten war). Die zweite Abteilung widmet er dem Bedenken des Wohnens selbst. Die Wohnung erfasst er nicht funktionalistisch, sondern beschreibt sie affektiv-atmosphärisch sowie anthropologisch. Hierbei greift er auf die üblichen Verdächtigen ontologischen Denkens wie Otto Friedrich Bollnow, Martin Heidegger und Schmitz zurück. Auf die Dinge richtet sich die dritte Abteilung seines Essays, die in ihren „Bewandtniszusammenhängen“ (Hasse 2020: 97) begegnen. Zur Illustration greift der Autor auf Beispiele vermutlich seiner eigenen Wohnumgebung zurück: Den Leser_innen begegnen zwei Rollen einer Baumkurre eines Garnelenkutters, ein achtkantiges Dübelholz, eine verbeulte Orgelpfeife, ein Globus, ein handgearbeiteter Frauenholzschuh, eine Schreibmaschine, Bücher und Atlanten. Ihnen begegnet aber ebenso Staub, dem Hasse ein denkwürdiges Unterkapitel widmet. Sein Vorschlag einer Wissenschaft des Staubs (Staubosophie) gehört zu den aufregendsten Anmerkungen in diesem dritten Teilkapitel, dass zudem noch die Leere in der Wohnung sowie die Trennung von den Dingen thematisiert. In der vierten Abteilung beschäftigt sich der Autor mit „der zweipoligen Situation des Aus- und Einwohnens“ (Hasse 2020: 133). Das Einwohnen wird zunächst allzu spitzfindig begrifflich vom Anwohnen unterschieden: „Einwohnen heißt, sich ansässig machen und Wurzeln schlagen“ (Hasse 2020: 142). Hingegen betrifft das Auswohnen „weniger die rein technische Organisation der Aus-räumung aller Gegenstände, als die emotionale Abstandnahme vom vertrauten Milieu“ (Hasse 2020: 134). Das fünfte Kapitel ist mit Zeitrhythmen befasst. Es geht dem Autor um den zeitlichen Erlebnisrhythmus des Wohnungswechsels, den er in Bezug auf das zwischenzeitliche Erleben, die gefühlte Zeit, die Erfahrung der Schwellen, der Zuspitzungen und des Wartens erörtert. Den Abschluss des Essays bildet der Hinweis auf stolpernde Neuanfänge in der Wohnumgebung. Der Umzug vollzieht sich somit schließlich im Buch doch auf chronologische Weise.

Wie Hesses Steppenwolf sich mit distanzierter Neugierde für das bürgerliche Leben interessierte, so lotet der Autor die bürgerlichen Wohn-Atmosphären aus. Gegenstand seiner Phänomenologie sind „angestrebte aber nicht erzwungene Formen einer gleichsam existenziellen Mobilität“ (Hasse 2020: 10). Im Vordergrund stehen folglich jene Formen des Wohnungswechsels, die freiwillig erfolgen. Der Autor benennt entsprechende Gründe (Nutzenmaximierung, freizeitbezogene Zugewinne, biografische Anpassung der Wohnräume, Veränderung des persönlichen Lebensstils). Dies klammert relativ offen die Wirklichkeit des Wohnens eines großen Teils der Gesellschaft aus. Zwar hat sich der Autor in einer früheren Publikation bereits dem Wohnen an „verdeckten Rändern der Gesellschaft“ gewidmet (Hasse 2009). Doch die prekären Umstände vieler Wohnungswechsel (Zusammenraffen der Habe, Bleibe finden etc.) werden von einer solchen Phänomenologie wohl kaum erfasst. Häufig sind Wohnungswechsel biografische Bruchzonen, die mit hoher Unsicherheit einhergehen: die Sorge um den Rückerhalt der Kaution (muss gestrichen werden oder nicht?), die verzweifelte Suche nach einer neuen Wohnung auf einem überhitzten Wohnungsmarkt, die Ungewissheit, die mit einem neuen Wohnumfeld einhergeht sowie die oft problematisch werdenden Zeitgeographien, die mit einem Wohnungswechsel verbunden sind. Zuweilen recht verschlüsselt verweist der Autor auf diese Schwierigkeiten: „Wer dagegen als Folge unglücklicher Umstände umziehen muss, findet sich schnell in einem asymmetrischen Verhältnis zum Gesicht der neuen Wohnung.“ (Hasse 2020: 85) Ab und an deutet sich das Bewusstsein des Stadtforschers darüber in wenigen Nebensätzen an (zum Beispiel zu steigenden Mieten und Immobilienpreisen, S. 49). Gleichzeitig bleibt der Eindruck bestehen, dass die phänomenologisch erfassten Wohnungswechsel sich in einem Milieu abspielen, in denen die Wohnung meist ordnungsgemäß besenrein übergeben wird. Es fehlt somit eine Phänomenologie der mit Wohnungswechseln oft notwendig einhergehenden Improvisationen.

Dass Wohnen tief in bürgerliche Wertordnungen eingeschrieben ist, spricht Hasse an (2020: 71). Im Essay wird aber selten deutlich, wer eigentlich wohin umzieht. Die Sozialität des Wohnens bleibt undeutlich. Der Phänomenologie haftet eine – vielleicht gar steppenwölfische – Einsamkeit an. Es scheint, als ob dem angesprochenen Wohnungswechsel individualisierte – vielleicht gar singularisierte – bürgerliche Lebensformen zugrunde lägen. Gemeinschaftliches Wohnen und die durch Wohnungswechsel notwendig gewordenen Veränderungen in sozialen Beziehungen bleiben außen vor. Im Buch ist es stets der Mensch an sich, der wohnt. Die wohnphilosophischen Kronzeug_innen findet Hasse in der deutschen Phänomenologie, zum Beispiel bei Bollnow. Dass dessen ontologische Raumphilosophie historisch zu kontextualisieren ist, bemerkt Hasse auch. Als Beleg führt er folgendes Zitat von Bollnow an:

„Dem einzelnen Menschen, dem Junggesellen, ist eine wirkliche Wohnlichkeit seiner Wohnung unerreichbar, und dem einzeln Zurückgebliebenen schwindet diese Wohnlichkeit wieder dahin. Es mag vielleicht einzelne Ausnahmen, vor allem alleinstehende Frauen, geben, denen die Wohnlichkeit ihrer Wohnung trotzdem gelingt, im Ganzen aber wird man sagen müssen, daß […] also erst die Familie die Wohnlichkeit einer Wohnung hervorbringt“ (Bollnow, zitiert nach Hasse 2020: 67).

Bollnows Familialismus charakterisiert Hasse als „Spiegel seiner Zeit“ (2020: 68). Diese Kritik geht aber nicht weit genug. Es stellt sich die Frage, ob eine Phänomenologie des Wohnens auf dem ideologiekritischen Auge blind ist.

Zu fragen wäre, ob eine phänomenologische Wohnforschung grundlegend anerkennen kann, dass das Private politisch ist. Autor_innen wie Dolores Hayden (2002) haben die bürgerlichen Wohnverhältnisse bis hin zur mikrogeographischen Ebene der Wohninnenräume beschrieben und diskutiert. Die anthropologische Orientierung, die Hasse auf das Wohnen gibt (Kapitel 2.3), lässt eine Sensibilität für Geschlechterverhältnisse des Wohnens vermissen. Nur schätzungsweise zehn Prozent der Vornamen in der referenzierten Literatur lese ich als weiblich. Das ist noch kein Argument, führt aber bei mir zu einem Unbehagen. Unbehagen darüber, dass dem Text eine feministisch informierte Phänomenologie fehlt. Insbesondere Iris Marion Young (2005) hat die Ambivalenz des Wohnens deutlich beschrieben und es ist etwas verwunderlich, dass diese feministische Phänomenologie nicht den „gefährlichen Denkern“ wie Heidegger zur Seite gestellt wird.

Nichtsdestotrotz ist der Text lohnenswert. Erstens ist der Bezug zur Dinglichkeit von besonderem Interesse. Der neuen Aufmerksamkeit gegenüber der Materialität (material turn) in humangeographischen Forschungsarbeiten setzt Hasse das ungebrochene phänomenologische Interesse an der Dinglichkeit gegenüber. In seinen dichten Beschreibungen beispielsweise des Staubs scheint die Materie geradezu lebendig zu werden. Mit der besonderen Aufmerksamkeit, die Hasse den Dingen in der Wohnung zuteilwerden lässt, markiert er die besondere Rolle der Dinglichkeit in Wohnbiografien. Eine solch interessante und anregende Beschreibung war vor ein paar Jahren auch in dem sehr empfehlenswerten Roman Karlheinz von Billy Hutter (2015) zu lesen.

Zweitens richtet sich Hasses Studie jenseits soziologischer Wohnforschung oder auch Wohnungsmarktforschung auf das Wohnen selbst. Wenn die anthropologische Grundorientierung dabei auch, wie angesprochen, Limitationen hat, so ist eine Berücksichtigung der leiblich-affektiven Dimension des Wohnens und der Wohnungswechsel durchaus von breiterem Interesse. Es wäre wünschenswert, wenn es hier – zum Beispiel über wohnbiografische Ansätze und mit Rückgriff auf feministische Arbeiten – in Zukunft humangeographische Forschung gäbe. Hasses Phänomenologie des Ein- und Auswohnens gibt dafür zumindest zahlreiche Inspirationen.

 

Dieser Artikel wurde durch Mittel des Open Access-Publikationsfonds der Universität Jena gefördert.

Autor_innen

Simon Runkel verortet sich in der Sozialgeographie. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sicherheit und Freiheit in räumlicher Perspektive, Ideengeschichte des geographischen Denkens und Tuns sowie Fragen des Verhältnisses von Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung.

simon.runkel@uni-jena.de

Literatur

Hasse, Jürgen (2009): Unbedachtes Wohnen. Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft. Bielefeld: transcript.

Hasse, Jürgen (2020): Wohnungswechsel. Phänomenologie des Ein- und Auswohnens. Bielefeld: transcript.

Hayden, Dolores (2002): Redesigning the American dream. New York/London: Norton.

Hesse, Hermann (2020 [1950]): Der Steppenwolf. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hutter, Billy (2015): Karlheinz. Berlin: Metrolit.

Young, Iris Marion (2005): House and home: Feminist variations on a theme. In: Sarah Hardy / Caroline Wiedmer (Hg.), Motherhood and space. New York: Palgrave Macmillan. 115-148.