Was können urbane Bewegungen, was kann die Bewegungsforschung bewirken? Replik zu den fünf Kommentaren

Margit Mayer

Die Herausgeber_innen der neuen Zeitschrift hatten mich gebeten, für die erste Nummer einen „Diskussionsaufschlag“ zum Thema „urbane soziale Bewegungen“ zu schreiben und dabei meinen Forschungsgegenstand „im Feld der kritischen Stadtforschung [zu] verorten […], diesem Feld dadurch Kontur zu geben […] [und dabei] den jeweiligen kritischen Ansatz [zu] verdeutlichen“. Dementsprechend versucht mein Beitrag, an einem (von vielen möglichen) Beispiel(en) aufzuzeigen, inwiefern es produktiv sein kann, aktuelle Bewegungskonflikte im gesellschaftspolitischen Kontext (der neoliberalisierenden Stadt) zu verorten. Zu jedem der Merkmale bzw. Widersprüche der neoliberalisierenden Stadt wären Konflikte zu benennen und entsprechende Widerständigkeiten zu untersuchen, bzw. wäre aufzuzeigen, wie oppositionelle Bewegungen durch diese neuen Formen der Neoliberalisierung selbst tangiert werden. In der vorgegebenen Kürze zeige ich solche Effekte lediglich exemplarisch an den aktuellen, zunehmend auf kulturelle Branding-Strategien setzenden Bemühungen städtischer Politik („kreative Stadt“) auf, die manchen Bewegungsgruppen entgegenkommen. Ähnlich wäre dies für die wandelnden Formen von Gentrifizierung und die sich darauf beziehenden unterschiedlichen Konflikte um Mietensteigerung bzw. Verdrängung zu untersuchen; oder für die Auseinandersetzungen um große Entwicklungsprojekte und Events sowie die Art und Weise ihrer (public-private) Planung und Durchsetzung; oder um Privatisierungsmaßnahmen bei der Daseinsvorsorge oder im öffentlichen Raum. Bei all diesen Entwicklungen haben sich private Akteure gegenüber staatlichen in den Vordergrund geschoben: Konfrontationspartner der Bewegungen ist nicht mehr nur der (Lokal-)Staat, sondern auch (internationale) Finanzakteure, Investoren, Immobilienhändler und private Akteure, die sich im Rahmen neuer Formen privatisierter Governance der städtischen (und nationalen) Verwaltungen bedienen (wie Volker Eick (2013) für das IOC oder FIFA völlig zu Recht betont). Damit sind neue Bedingungen gesetzt, unter denen städtische Auseinandersetzungen sich nicht mehr einfach in administrative Konflikte um Verteilung übersetzen, wo der durch soziale Bewegungen entfaltete Druck zu einer anderen staatlichen Politik führen könnte. Diese neuen Bedingungen erfordern, genauso wie die mit den neuartigen Konflikten auftauchenden Widersprüche und Spannungen auf Seiten der Bewegungen, eine nüchterne Bestandsaufnahme, damit es möglich wird, Kräfteverhältnisse und die Reichweite von verschiedenen Mobilisierungen zu bestimmen.

Als Rahmen, um diesen Übergang von fordistischer Stadtpolitik zur aktuellen erklärbar zu machen, bediene ich mich des Neoliberalisierungskonzepts von Brenner u. a., das in der dargestellten Kürze allerdings offensichtlich für mehr Verwirrung als Aufklärung gesorgt hat. In der Tat agierte die lokalstaatliche Ebene, also die Kommune, in den fordistischen Gesellschaften primär als verlängerter Arm bzw. als „Ausführungsorgan“ des Nationalstaats und entwickelte als solches kaum eine eigenständige Politik. Aber Städte spielten für die fordistisch-keynesianischen Produktions- und Reproduktionssysteme eine zentrale Rolle insbesondere wegen ihrer Bereitstellung der Infrastruktur der kollektiven Konsumtion, der damit verknüpften Lebensweise und dadurch gesicherten Akkumulation. Genau deswegen wurden Städte, so das Argument von Brenner u. a., nach Ausbruch der Krise des Fordismus zu den ersten Schauplätzen der Abwicklung sozialstaatlicher Infrastrukturen und in der folgenden Phase zu Orten der Innovation und für neue Rollout -Programme.

Aber das theoretische Konzept bietet darüber hinaus auch einen Vorstellungsrahmen für die Überwindung des neoliberalen Projekts. Brenner u. a. postulieren auf der Basis ihrer Untersuchung der Herausbildung und Ausbreitung des neoliberalen Projekts, das mit lokal fragmentierten Experimenten begann (als die Ideen der 1947 von Friedrich von Hayek gegründeten Mont-Pélérin-Society noch recht marginal waren), sich dann aber über vereinzelte Formen institutioneller Reform auf verschiedenen Skalen und in unterschiedlichen Zonen zu intensivieren und zu vernetzen begann, um sich schließlich, in den letzten 30+ Jahren, auf der Ebene der rule regimes zu vertiefen, dass für die Destabilisierung und schließlich Überwindung der Neoliberalisierung eine ähnliche Entwicklung anzunehmen sei. Ein alternatives Regime, das gemeinwohl-orientiert und kooperativ organisiert, dekommodifiziert und mit radikal-demokratischen Entscheidungsstrukturen ausgestattet wäre, kann sich nicht über Nacht, sondern vermutlich ebenfalls eher in einem solchen drei-stufigen Phasenmodell von lokalen Experimenten über vernetzte Policy Transfers hin zu umfassenden Veränderungen auf der Ebene des „Kontexts der Kontexte“, als „deep socialization“, entwickeln. Von daher ist nicht recht nachvollziehbar, wieso Grischa Bertram (2013) meint, ich sähe eine „‚tiefe Vergesellschaftung‘ in greifbarer Nähe“ (Hervorhebung durch Autorin) – obwohl ich doch in einem 2008 publizierten Text noch von einer „Erosion der Protest- und Widerstandspotentiale“ städtischer Bewegungen berichtet habe. Diese Diagnose war kenntlich gemacht als Einschätzung von Bewegungsaktivisten, die das Schwinden vormals günstiger Voraussetzungen für die Organisation und Verbreitung von Bewegungsthemen unter den Bedingungen von Privatisierung verantwortlich machten dafür, dass sich Aktivisten in der Phase nach 2000 zunehmend auf das „Machbare“ konzentrierten, oder das Überleben ihrer Projekte über das breite Angebot sozial- und arbeitsmarktpolitischer Programme zu sichern suchten. Im Text verband ich diese Beschreibung der Effekte des Umkrempelns der sozialen Sicherungssysteme auf die Bewegungsszene mit der (im nächsten Satz folgenden) Beobachtung, dass gleichzeitig über die „Lokalisierung“ globalisierungskritischer Bewegungen eine gewisse Aufbruchstimmung in die städtische Bewegungslandschaft wehte.

Dieses Neoliberalisierungskonzept und die Vorstellung seiner langfristigen Überwindung widersprechen also keineswegs dem Vorschlag, danach zu fragen, „welcher Strategien es bedarf, um Entstehung und Entwicklung lokaler Bewegungen zu ermöglichen.“ (Bertram) Genau darum geht es mir auch: auf der Basis nüchterner Bestandsaufnahme der diversen progressiven städtischen Bewegungen solche Strategien zu entwickeln – ohne dabei die Bewegungen zu überhöhen oder ihre Kämpfe „theoretisch aufzuladen“.

Peter Birke (2013) verweist darauf, dass der „Tigersprung“ von der analytischen Typologie in die konkreten stadtpolitischen Situationen kompliziert wird durch die Tatsache, dass die Landschaft der Revolten auch einen „diskursiven Aspekt“ hat, also vermittelt wird durch mediale Selektion und Aufmerksamkeitszyklen, die eben eher auf Londoner riots als auf Unruhen in Bochumer Vorstädten reagieren. Auch die Bewegungsforschung hat lange stärker auf medienwirksame Effekte geachtet als auf Indikatoren signifikanter, aber unter der Oberfläche sich vollziehender Entwicklungen oder unsichtbare quiet encroachments (Bayat 2000). Inzwischen zeugt die Forschungslandschaft jedoch zunehmend davon, dass die Stadt- und Bewegungsforschung nicht notwendig gekoppelt ist an die Aufmerksamkeitszyklen der Medien. Gerade die Stadtforschung hat in letzter Zeit dazu beitragen, dass sich das window of opportunity auch für weniger leicht sichtbare Widerstände und deren Gegenmodelle öffnet, in zweifacher Hinsicht.

Zum einen werden, z. T. inspiriert durch Stadtforschung im globalen Süden, informelle, alltägliche Transgressionen und Widerstandspraxen gegen Repression und Ausgrenzung genauso wie spontane riots zunehmend als konstitutiver Teil urbaner Auseinandersetzungen und städtischer Politik gesehen (1). Zum anderen wendet sich die „Stadt“-Forschung stärker der Stadt- bzw. Metropolregion zu und entdeckt dabei, dass sog. „Zwischenstädte“ und ex-urbane Regionen in mehr und mehr Ländern die klassischen Merkmale städtischen Lebens angenommen haben, die traditionellen Grenzen zwischen Stadt und Land sowie zwischen Stadt und Vorstadt längst verschwommen sind und vielfach die ursprünglich städtischen Probleme – wie Armut, Segregation, Verkehrsdichte, Kriminalität – hier stärker anwachsen als in den städtischen Zentren (Young/Keil 2013). Auch dieser Shift richtet den Blick auf Bewegungen und Widerständigkeiten, die bislang ausgeblendet waren (2).

Zu (1): Stadtforscher_innen wie Boudreau (2010) und Boudreau/Boucher/Liguori (2009) richten ihren Blick auf im Alltagsleben wurzelnde Handlungsmuster; dabei geraten subtile und graduelle, weniger konfrontative Formen der Reorganisation von Machtverhältnissen ins Visier. Bareis und Bojadžijev (2012) bspw. benutzen einen postoperativen Ansatz, um eine angemessene Erklärung politischer Subjektivität der Prekären und Marginalisierten, bspw. in den Banlieues französischer Städte, zu finden. Zwar mehren sich in der internationalen Forschungslandschaft solche Studien zu den „kleinen“ Kämpfen, den widerständigen Gesten und alltäglichen Auflehnungen gegen die vielfältigen metropolitanen Ausgrenzungsprozesse sowie zu den diversen Strategien dieser Bewegungen, sich Gehör zu verschaffen (vgl. auch Swyngedouw 2009, Roy/AlSayyad 2004, oder die in Das Argument 289 versammelten Beiträge, u. a. von Bareis et al. 2010). Aber es bleibt nach wie vor eine Herausforderung, diese Praxen theoretisch angemessen – und komplementär mit regulationstheoretischen und politökonomischen Erklärungszusammenhängen – systematisch zu reflektieren und einzuordnen. Denn zu bestimmten Fragen können sie bislang kaum präzise Angaben machen, wie z. B. unter welchen Bedingungen die von diesen Ansätzen besser erfassten Bewegungen handlungsmächtig werden können oder wie sich ihre Chancen auf Verbreiterung und Anschlussfähigkeit gestalten.

Zu (2): In Forschungsprojekten wie „Global Suburbanisms: Governance, Land and Infrastructure in the 21st Century“[1] oder dem von Christian Schmidt (2012) und Neil Brenner (2013) vorangetriebenen zu globaler bzw. planetarer Urbanisierung oder auch in theoretischen Interventionen wie denen von Merrifield (2013) wird die Orientierung auf urbane Zentren aufgegeben. Wenn stattdessen die sozialräumliche Differenzierung der höchst unterschiedlich verdichteten weltweiten „Stadtlandschaft“ und damit die peripheren Gegenden, in denen heutzutage Urbanisierung expandiert, in den Blick genommen werden, geraten auch die Kämpfe for the local commons in den nicht-zentralen, jedoch zunehmend urbanisierenden Gegenden weltweit in den Blick. Occupy findet eben nicht nur in New York, sondern auch in exurbanen Gegenden statt. Womöglich sind auf den Strip Malls der Zwischenstädte (Keil 2011) oder im Imperial Valley Kaliforniens (Davis 2011) sogar wichtigere „Gegenmodelle“ (Birke) zu besichtigen als in den sterilen glamour zones der gentrifizierten Zentren. Im exurbanen Imperial Valley hat Occupy El Centro – eine Allianz von Aktivisten gegen die hohe Arbeitslosigkeit, massive Umwelt- und Wasserprobleme, und gegen die Entrechtung der migrantischen Arbeiter_innen – die gleiche Intensität solidarischer Encounters und damit Zentralität geschaffen wie Occupy Wall Street am Zuccotti Park.

Vor diesem Hintergrund liest sich Grischa Bertrams Frage nach den Besonderheiten städtischer gegenüber Bewegungen im suburbanen oder ländlichen Raum in etwas anderem Licht. Sicherlich ist „Stadt“ mehr als lediglich Bühne für (diverse Ziele verfolgende) Bewegungen, sicherlich ist (immer auch, aber eben nur „auch“) der Lokalstaat Adressat für die spezifischen Belange „der Stadtgesellschaft“ – aber die heutigen Bewegungen haben notwendigerweise mehr Kontrahenten als nur die jeweilige lokalstaatliche Präsenz, und die in seinem Kommentar durchschimmernde Vorstellung von „Stadtgesellschaft“ muss sicherlich den heutigen Verstädterungsprozessen entsprechend modifiziert werden. Hier liegen jedenfalls wichtige offene Fragen, auf die künftige Forschung ein Augenmerk legen sollte.

Schließlich zu den Akteuren, ihren Subjektivitäten und den strategischen Fragen von Allianzen etc., wozu sämtliche Kommentare sehr inspirierende Hinweise gegeben haben. Da meine eigene Forschung sich bislang auf städtische Bewegungen in Ländern der sog. Ersten Welt beschränkte, sind die Typen „Nummer 1 bis 6“ aus der empirischen Arbeit entstanden. Auch beim „sechsten Stand“ handelt es sich nicht um eine „gedachte Ansammlung möglicherweise gar nicht einheitlicher […] Gruppierungen“ (Birke). Die unter 1 bis 5 gelisteten („Autonome“ bis „Umweltgruppen“) sind nicht nur Gegenstand der klassischen Bewegungsforschung, sondern es handelt sich dabei auch um die Gruppen, die in den diversen Berichten und Bestandsaufnahmen zu deutschen „Recht auf Stadt“-Netzwerken genannt werden (vgl. Holm/Gebhardt 2011). In entsprechenden internationalen und v. a. nordamerikanischen „Recht auf Stadt“-Allianzen spielt der „sechste Stand“ eine deutlich sichtbarere und sogar oft führende Rolle[2] (Liss 2012, Leavitt et al. 2009, Marcuse 2009). Die Heterogenität dieser „Gruppe“ ist vielfach konstatiert, reflektiert sie doch die vielfältigen – rassistischen, sexistischen, xenophoben, etc. – Ausgrenzungs- und Unterdrückungszusammenhänge, die im Lauf der kapitalistischen Entwicklung in immer neuen Kontexten neu erfunden wurden. Im Kontext der heutigen amerikanischen Stadt bspw. finden sich schwarze männliche Ghetto-Jugendliche von Arbeitsmärkten ausgeschlossen und durch rassistische Polizeipraktiken permanent gefährdet, während papierlose Tagelöhner mit lateinamerikanischem Hintergrund eine – wenn auch höchst prekäre – Position in lokalen Arbeitsmärkten behaupten. Beide Gruppen sind allerdings, genauso wie migrantische und afro-amerikanische Frauen, nicht willens, ihre (unterschiedlichen) Forderungen in militanter Weise auf die Straße zu tragen, denn von polizeilicher Schikane und Repression haben sie nicht nur genug, sondern sind dadurch weit existenzieller gefährdet als (weiße) Aktivist_innen aus der Mittelschicht, wie in den Planungen der Occupy-Aktionen und Demonstrationen von New York bis Oakland immer wieder deutlich wurde.

Hierzulande kommt es erst ansatzweise zu gemeinsamen Aktionen und Bewegungen zwischen 1-5 und „dem 6. Stand“. Die „Recht auf Stadt“-Netzwerke stellten im Vergleich zu früheren städtischen Bewegungen enorme Fortschritte dar, insofern, als es ihnen gelang, so unterschiedliche Gruppen wie 1 bis 5 überhaupt zusammenzubringen. Aber Versuche linker Aktivist_innen, z. B. der Plattform gegen Verdrängung in Altona oder vom Arbeitskreis Umstrukturierung Wilhelmsburg, mit GAGFAH-Mietern zusammen gegen unzumutbare Mietbedingungen, alltäglichen Rassismus und permanente Schikanen zu kooperieren, führten eher dazu, dass die Aktivist_innen in die Rolle von Expert_innen, Sozialarbeiter_innen oder Interessenvertreter_innen gedrängt wurden, als dass eine kontinuierliche Mietermobilisierung erzielt werden konnte.[3] Die Einsicht, die Peter Birke aus seinen jüngsten Erfahrungen zieht, ist sicher ernst zu nehmen: dass die Mieter_innen „doch am Ende selbst über ihre Lebenssituation, die steigenden Mieten und sinkenden Einkommen, die abstürzenden Aufzüge [...] sprechen – oder überhaupt nicht“.

Aus diesem Grund sind Beispiele wie Kotti & Co.[4], der Palisaden-Panther[5] und auch der Flüchtlinge, die ihre Forderungen in Österreich, Holland und Deutschland an städtischen Plätzen mit Protestcamps und vielfältigen Aktionen des zivilen Ungehorsams sichtbar gemacht haben,[6] so interessant: Hier sind die Outcasts, die Verlierer der Neoliberaliserung, selbst die Handelnden. Sie sprechen wirklich – eigenständig, selbstermächtigt, und nicht überformt von bereits existierenden Protestkulturen der anderen.

Es beflügelt uns, zu sehen, dass die bislang „Stimmlosen“ sich zu Wort melden. Dass nicht nur ihre Themen nun präsent sind, sondern auch sie selbst – wenn auch zunächst nur vereinzelt und fragmentiert, z. T. isoliert und mit noch ausbaufähigen Bezügen zu anderen Protesten. Allerdings stellen die lebensweltlichen Distanzen, die aus der US-Erfahrung so gut bekannt sind, bspw. zwischen afro-amerikanischen oder migrantischen Community-Organisationen und weißen, mittelklassebasierten linken Aktivisten, große Hürden für gemeinsame Mobilisierungen dar, wie sich bei den Mobilisierungsversuchen von Occupy gezeigt hat. Erst nach der Räumung der Camps, als die Aktivist_innen in die „Problemviertel“ ausschwärmten, um dort bei Blockaden gegen Zwangsräumungen zu helfen, wurden diese Distanzen bearbeitbar. Ähnlich fanden auch die Aktivist_innen von den besetzten Plätzen und Sozialzentren in Spanien und Portugal den Anschluss an die in der Bewegungsforschung vorher untypischen Gestalten des Protests erst nach den Platzräumungen: als auch sie in die Stadtviertel gingen und dort – z. B. über die Plattform der Hypotheken-Geschädigten – in Kontakt mit den Bankopfern, Zwangsgeräumten, Verschuldeten und Obdachlosen traten und gemeinsame Allianzen schmieden konnten.

Hier entsteht das „politische Subjekt“, von dem Lisa Vollmer (2013) zu Recht schreibt, dass es der Politik nicht vorausgeht, sondern erst in der politischen Beziehung entsteht. In den Post-Occupy-Stadtteilkämpfen und Blockaden von Zwangsräumungen in den USA und in den griechischen und spanischen Stadtteilen entstehen diese politischen Subjekte jenseits der üblichen Aktivist_innen, in der politischen Beziehung der Differenz.

Vollmers Hinweis, dass „die lokalen und partikularen Kämpfe auch das Potenzial der Transzendierung bieten“ müssen, dass „von ihnen [...] auf systemische Probleme rückgeschlossen werden können“ muss, stellt angesichts der umfassenden Enteignungs- und Entmündigungsprozesse in der neoliberalen (Stadt)Politik an vielen Orten kein (Vermittlungs-)Problem mehr dar: Die Bäume des Gezi-Parks, die für einen Supermarkt weichen sollten oder die Fahrpreiserhöhungen in brasilianischen Städten sind fast beliebige letzte Tropfen, die das Fass zum Überlaufen bringen.

Die Erfahrungen an diesen Orten, wo ein (beliebiger) stadtpolitischer Funke plötzlich den breiten Massenprotest auslöst, zeigen allerdings auch, wie wichtig es ist, dass mit den Vermischungen und dem Brücken-Bauen über soziale und kulturelle Distanzen hinweg nicht früh genug angefangen werden kann. Denn die weitere Entwicklung der im Prinzip offenen Situation solcher Massenaufstände hängt sehr davon ab, wie mit den hier aufeinanderprallenden unterschiedlichen Weltsichten und heterogenen politischen Vorstellungen von Mittelklasse-Akteuren, linken Aktivist_innen, ausgegrenzten und minoritären Gruppen, sowie auch rechten, xenophoben und nationalistischen Aktivist_innen umgegangen wird (vgl. Borba de Sa 2013). Je zeitiger Verknüpfungen aufgebaut sind, die es erlauben, gegenseitige Projektionen und Misstrauen bearbeitbar zu machen, umso besser sind die Chancen, solche außerordentlichen Situationen von gegen herrschende Eliten gerichteten Massenprotesten im Sinn der demokratischen Bewegungen produktiv werden und sie nicht von reaktionären oder nationalistischen Kräften hijacken zu lassen.

Wenn ich also für eine Bündnispolitik zwischen den unterschiedlichen städtischen Bewegungen auch und besonders in Bezug auf die „stimmlosen“ Ausgegrenzten plädiere, geht es dabei keineswegs (nur) um moralische Solidarisierung, wobei die Aktivist_innen in eine paternalistisch-fürsorgliche Rolle geraten, wie es bei Birke anklingt, oder darum, dass die Leverage-Gesegneten für die Outcasts „in die Bresche springen“ (Eick). Sondern es geht um die Erfolgschancen von Bewegungen, die die neoliberale (Stadt-)Entwicklung eindämmen wollen. Das neoliberale Projekt kann nur im Bündnis mit breiteren Massen destabilisiert werden. Und das nicht nur, weil die Konzeption von Neoliberalisierung dies theoretisch nahelegt (wie im ersten Teil des Aufsatzes dargelegt), sondern auch aus Gründen der pragmatischen Machbarkeit müssen Brücken zwischen den unterschiedlichen Gruppen von anti-neoliberalen Widerständen gebaut werden. Die prekären Ressourcen der Gruppen ohne Verhandlungsmacht sind ohne Unterstützung von außen bald aufgebraucht – sie erreichen oft genug selbst mit den Mitteln des Hunger- und sogar Durststreiks kaum Zugeständnisse.

Andererseits, wenn die relativ privilegierten[7] sub- und gegenkulturellen Anarchisten, Künstler_innen, Alternativen und Ökos unter sich bleiben, dann bleiben ihre „Freiräume“ Nischen ohne Einfluss, während gleichzeitig das, was sie erkämpfen, bald nicht mehr besonders alternativ sein wird: Ihre „community gardens“ werden zu „best practice“ für ökologisch ausgerichtete reiche Wohnviertel; von Hausbesetzern vor dem Verfall gerettete und „innovativ“ wieder hergerichtete Häuser und Straßenzüge werden zu Ankern neuer Stadtentwicklungsprogramme oder zu Magneten für Touristen und „kreative Klassen“.

Weil die hegemoniale Ordnung „gleichzeitig die Individualisierung [...] auf Subjektebene vorantreibt“ (Vollmer), müssen wir uns, wie Bertram fordert, die Frage stellen, in welchem Maße die städtischen Bewegungen selber an der Neoliberalisierung des Städtischen beteiligt sind. Hausbesetzer und Ökoaktivisten spielen dabei, genau wie manch andere radikale städtische Bewegung (s. Mayer 2013, Kuhn 2012), durchaus auch ambivalente Rollen. Sie sind oft selbst an neoliberalen Aufwertungsprozessen beteiligt, weil sie den städtischen Raum der Erstwelt-Städte für die von Stadtentwicklern gewünschte Klientel attraktiv machen. So trug die urban gardening-Organisation City Soil in schwedischen Städten zur Vertreibung deindustrialisierter Arbeiter_innen bei, und Samuel Mössner (2013) beschreibt an Hand von Freiburgs Öko-Quartier Vauban, dass Nachhaltigkeitspolitik und ökologische Sanierungen oft exkludierende Effekte produzieren. Dieses heutige sustainability hijacking heißt aber nicht, dass wir nachträglich die Umweltbewegung der 1970er Jahre kritisieren müssen! Vielmehr sind die Bewegungen in ihrem jeweiligen historischen Kontext zu analysieren, der sich allerdings – auch dank der erfolgreichen Bewegungen – beständig transformiert. Soziale Bewegungen tragen immer zur Veränderung und Anpassung der Herrschafts- und Regulationsweisen bei. Dieser neue Kontext jedoch bedeutet, dass manche Strategien, die früher effektiv waren, heute nicht mehr die gleichen Wirkungen zeitigen. Die radikale Staatskritik der gegen die autoritär-hierarchischen Strukturen des fordistischen Staats gerichteten Bewegungen der 1970er Jahre zielt heute an der Komplexität neoliberaler Governance (mit ihrer Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure und ihren Aktivierungspolitiken) vorbei; im fordistischen Kontext radikale Ziele wie Autonomie und Selbstverwaltung sind inzwischen längst Anforderungen an das neoliberale Subjekt und gleichzeitig Ausschlussmechanismen geworden; gegenkulturelle Freiräume, die damals wichtige subkulturelle Identitätsformierung ermöglichten, ordnen sich inzwischen in ein buntscheckiges Mosaik akzeptierter Lebensentwürfe ein (vgl. Kuhn 2012).

Es geht also darum, die heutige Situation neoliberaler Stadtpolitik mit ihren Möglichkeiten und Grenzen genau zu diagnostizieren. Sie hat nicht nur Prekarisierungstendenzen verschärft, die inzwischen nicht nur die Marginalisierten erfassen, sondern auch kulturell Kreative und viele weitere gesellschaftliche und berufliche Bereiche, in denen Menschen früher leicht ein gesichertes Auskommen finden konnten. Aber sie macht bestimmten Gruppen – gerade unter den kulturell Kreativen – auch Angebote. In dieser Situation haben strategisch privilegierte Gruppen, d. h. Bewegungen, die gegenüber Stadtentwicklern oder Politikern über ein symbolisches oder kulturelles „Kapital“ verfügen, weil sie für deren aktuelle Aufwertungsstrategien interessant sind, eine gewisse Verhandlungsmacht. Auch als selber prekäre Kreative oder als nur kurzfristige Zwischennutzer sind sie Nutznießer der aktuellen Städtekonkurrenz und der daraus folgenden „kreativen Stadt“-Politik, die alternative und subkulturelle Praxen und Einrichtungen instrumentalisiert für eigene Vermarktungsstrategien (vgl. Colomb 2012). Es geht also nicht darum, dass die von Zwischennutzungsverträgen oder den Konzessionen der Hamburger Stadtverwaltung Profitierenden möglicherweise später gesicherte oder einträgliche Berufe haben würden (als „Ärzte, Professorinnen und erfolgreiche Künstlerinnen“, wie Birke schreibt), sondern um die „Aktivposten“, über die diese Gruppen bei aller eigenen Prekarität in der aktuellen Stadt(entwicklungs)politik verfügen: dass sie den Stadtentwicklern in der gegenwärtigen Situation etwas zu bieten haben und diese relative „Machtposition“ strategisch einsetzen könnten. Damit wäre auf dem weiten Weg des Zurückdrängens des neoliberalen Projekts schon einiges gewonnen – v. a. wenn man bedenkt, dass viele ähnliche Prozesse, mitsamt entsprechender Subjektformierung, in vielen anderen Bereichen gleichzeitig auf eine solche Destabilisierung hinwirken könnten – und zunehmend kollektiv und in Koalitionen.

Endnoten

Autor_innen

Margit Mayer ist Professorin für Politische Wissenschaft am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin. Sie arbeitet zu amerikanischer und vergleichender Politik, und forscht zu Stadtpolitik und sozialen Bewegungen.

Kontakt: mayer@zedat.fu-berlin.de

Literatur

Bareis, Ellen / Bojadžijev, Manuela (2012): Grounding Social Struggles in the Age of 'Empire'. In: Jenny Künkel / Margit Mayer (Hg.): Neoliberal urbanism and its contestations. Crossing theoretical boundaries. London, 63–79.

Bayat, Asef (2000): From 'Dangerous Classes' to 'Quiet Rebels': Politics of the Urban Subaltern in the Global South. In: International Sociology 15/3, 533–557.

Bertram, Grischa (2013) Kritisiert die Kritiker_innen! Kommentar zu Margit Mayer: ,Urbane Soziale Bewegungen in der neoliberalisierenden Stadt’. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 1, 169-174.

Birke, Peter (2013) “Hallo, wer spricht?” Kommentar zu Margit Mayer: ,Urbane Soziale Bewegungen in der neoliberalisierenden Stadt’. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 1, 175-179.

Borba de Sa, Miguel (2013): A Brazilian Autumn? The movement is a battlefield, highlighting all the contradictions of Brazilian society. http://jacobinmag.com/2013/06/a-brazilian-autumn/ (08.07.2013).

Boudreau, Julie-Anne (2010): Reflections on urbanity as an object of study and a critical epistemology. In: Jonathan S. Davis / David L. Imbroscio (Hg.): Critical Urban Studies: New Directions. New York, 55–72.

Boudreau, Julie-Anne / Boucher, Nathalie / Liguori, Marilena (2009): Taking the bus daily and demonstrating on Sunday: Reflections on the formation of political subjectivity in an urban world. In: CITY 13/2-3, 336–346.

Brenner, Neil (2013).:Theses on Urbanization. In: Public Culture 25/1, 85–114.

Brenner, Neil / Peck, Jamie / Theodore, Nik (2010): After Neoliberalization? In: Globalizations 7/3, S. 327–345.

Colomb, Claire (2012): 'Poor, But Sexy': Marketing the Creative City, 2001-2011. In: Claire Colomb: Staging the New Berlin. Place Marketing and the Politics of Urban Reinvention post-1989. London. 222–269.

Davis, Mike (2011): Field Notes from the Revolution: Activists Occupy California’s Imperial Valley. http://www.thenation.com/article/164472/field-notes-revolution-activists-occupy-californias-imperial-valley (08.07.2013).

Eick, Volker (2013) Urbane Neoliberalisierung – ein Plädoyer für etwas mehr Differenz. Kommentar zu Margit Mayer: ,Urbane Soziale Bewegungen in der neoliberalisierenden Stadt’. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 1, 180-184.

Holm, Andrej / Gebhardt, Dirk (Hg.) (2011): Initiativen für ein Recht auf Stadt. Theorie und Praxis städtischer Aneignungen. Hamburg.

Juris, Jeffrey S. (2008): Spaces of Intentionality: Race, Class, and Horizontality at the US Social Forum. In: Mobilization 13/4, 353-372.

Keil, Roger (2011): 'Occupy the Strip Malls': Centrality, Place and the Occupy Movement. http://suburbs.apps01.yorku.ca/2011/11/17/“occupy-the-strip-malls”-centrality-place-and-the-occupy-movement/ (27.10.2012).

Kuhn, Armin (2012): Freiräume in der neoliberalen Stadt. Besetzungen, städtische Konflikte und Stadterneuerung in Berlin und Barcelona. Unveröffentlichte Dissertation a. d. Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam.

Leavitt, Jacqueline / Samara, Tony Roshan / Brady, Marnie (2009): ‘Right to the City: Social Movement and Theory’. In: Poverty & Race 19/5, 3-4.

Liss, John (2012): The right to the city: from theory to grassroots alliance. In: Neil Brenner / Peter Marcuse / Margit Mayer (Hg.): Cities for People, not for Profit. London, 250–263.

Marcuse, Peter (2009): From Critical Urban Theory to the Right to the City. In: CITY 13/2–3.

Mayer, Margit (im Erscheinen 2013): Soziale Bewegungen in Städten – städtische soziale Bewegungen. In: Norbert Gestring / Renate Ruhne / Jan Wehrheim (Hg.): Stadt und Soziale Bewegungen. Wiesbaden.

Merrifield, Andy (2013): The Politics of the Encounter: Urban Theory and Protest under Planetary Urbanization. Athens/Georgia.

Mössner, Samuel (2013) Neoliberalisierung als Gesellschaftskrise. Kommentar zu Margit Mayer: ,Urbane Soziale Bewegungen in der neoliberalisierenden Stadt’. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 1, 185-188.

Schmid, Christian (2013): Patterns and Pathways of global urbanization: Towards a comparative analysis. Unveröffentlichtes Manuskript. Zürich.

Vollmer, Lisa (2013) Zwischen Partikularismus und Universalismus. Wie bilden sich Koalitionen? Kommentar zu Margit Mayer: ,Urbane Soziale Bewegungen in der neoliberalisierenden Stadt’. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 1, 189-192.

Young, Douglas / Keil, Roger (2013): Locating the urban in-between: Tracking the urban politics of infrastructure in Toronto. http://city.apps01.yorku.ca/wp-content/uploads/2011/05/file_Seeking_the_Urban_In.pdf