sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2023, 11(1/2), 205-234

doi.org/10.36900/suburban.v11i1/2.737

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CC BY-SA 4.0

Ersteinreichung: 17. August 2021

Veröffentlichung online: 15. Juni 2023

Langweilige Dystopien in fiktiven Geographien

Eingeschlossensein in affektiven Atmosphären

Julie Ren, Ifigeneia Dimitrakou, Luisa Gehriger, Fritz-Julius Grafe, Hanna Hilbrandt

Dieser Artikel untersucht das Verhältnis zwischen räumlichem Eingeschlossensein und dystopischem Alltag in fiktionalen Filmen. Unser empirischer Ausgangspunkt ist die Darstellung des Eingeschlossenseins in den Filmen Parasite (2019) und Dogtooth (2009). Beide Filme erzählen mit düsterem Humor verflochtene Geschichten über Erfahrungen des Einschlusses in sozialen Hierarchien (Parasite) und patriarchalischen Strukturen (Dogtooth) sowie über den unmöglichen Versuch, aus diesen Ordnungen auszubrechen. Wir lesen diese Erfahrungen als langweilige Dystopien, also als Dystopien, die in den Alltag eingeschrieben sind und eine grausame Realität normalisieren. Wir nutzen die fiktionalen Erzählungen von Dogtooth und Parasite für eine kulturgeographische Analyse, die das Eingeschlossensein neben seinen räumlichen und materiellen Bedingungen als eine affektive Atmosphäre (Anderson 2014) versteht. Aufbauend auf der zunehmenden Stadtforschung über Affekte und Emotionen vermittelt dieser Zugang, wie das Eingeschlossensein sich als alltägliche, dystopische Erfahrung normalisiert. Wir argumentieren, dass eine Analyse affektiver Atmosphären die unsichtbar gewordenen Gewalterfahrungen des Eingeschlossenseins greifbar machen kann.

An English abstract can be found at the end of the document.

1. Einleitung

Das Erleben des Eingeschlossenseins markiert für viele eine zentrale Erfahrung der Covid-19-Pandemie. Die durch Abriegelung, Quarantäne und Distanzierungsmaßnahmen erfolgten Einschränkungen räumlicher Freizügigkeit waren in ihrem räumlichen und zeitlichen Ausmaß beispiellos. Gleichzeitig wurde das Wesen des Eingeschlossenseins in weniger monumentalem Maßstab durch banale Alltagserfahrungen beschrieben und mit Modi des Überlebens unter Bedingungen der Ungleichheit in Verbindung gebracht (Bhan et al. 2020). Diese Erfahrungen haben die Banalität andauernder Gewalterfahrung sichtbar gemacht und die Alltäglichkeit dystopischer Welten verdeutlicht. Auch abseits der Pandemie verweisen Klima-, Kriegs- und Hungerkrisen auf alltägliche Strategien einer zunehmend akzeptierenden Normalisierung von Dystopien. Um diese verständlich und greifbar zu machen, diskutiert dieser Artikel das räumliche Eingeschlossensein in seiner alltäglichen, materiellen und affektiven Dimension anhand einer Analyse filmischer Geographien. Wir verlagern den Fokus der Debatten über urbane Dystopien von der Stadt auf das Haus – einen alltäglichen Raum, der durch Routinen, räumliche Grenzen und damit auch das Eingeschlossensein geprägt ist.

Bislang wurde das Eingeschlossensein vornehmlich mit Hinblick auf die Produktion und Governance räumlicher und sozialer Grenzen diskutiert (Vasudevan/McFarlane/Jeffrey 2008). Jüngere Debatten beschäftigen sich zudem mit den alltäglichen, körperlichen und affektiven Dimensionen des Eingeschlossenseins, etwa in wissenschaftlichen Arbeiten zu Lockdowns nach Terroranschlägen (Hergon 2021), zu carceral geographies (Moran 2016) oder in sozialpsychologischen Arbeiten zum Phänomen hikikomori (Kato et al. 2012). Unser Artikel leistet hierzu auf zweierlei Weise einen Beitrag:

Zum einen verweisen wir auf die Bedeutung affektiver Atmosphären im Entstehen des Eingeschlossenseins. Eingeschlossensein ist nicht nur materiell bedingt, wird sozial erlebt und individuell gefühlt, sondern ist auch atmosphärisch. Dabei basiert unsere Diskussion auf geographischen Arbeiten, die affektive Atmosphären als eine umhüllende Situation verstehen. Da diese Arbeiten Affekt stets als bereits vermittelt (und nicht als gegeben) betrachten, gilt es bei der Untersuchung affektiver Atmosphären zu verstehen, wie diese erkennbar gemacht werden können. Wir verstehen affektive Atmosphären als durch Interaktionen, Praktiken, Verkörperung und Emotionen vermittelt. Unserer Filmanalyse ermöglicht es, Zugänge zu einer Analyse affektiver Atmosphären zu konkretisieren.

Zum anderen nutzen wir den Begriff der langweiligen Dystopie, um zu fassen, wie das Eingeschlossensein scheinbar unmerklich eingeübt, erduldet und verstetigt wird. Entsprechend verstehen wir langweilige Dystopien als eine in den Alltag eingeschriebene und die Grausamkeit dieses Alltags normalisierende Realität. Das scheinbar paradoxe Wortpaar zeigt an, dass Dystopien nicht nur abstrakte, fremde Visionen einer zukünftigen Welt beschreiben:[1] Vielmehr kann eine Untersuchung der Langeweile die Normalisierung von Dystopien und damit einhergehende Prozesse der Erduldung hervorheben. Damit verweist der Begriff auch auf die materielle, affektive und körperliche Dimension dystopischer Erfahrung. Unser Ziel ist es, die durch Prozesse der Normalisierung und Verkörperung unsichtbar gewordene Grausamkeiten von Dystopien wieder greifbar zu machen. Gleichzeitig stellt eine Analyse langweiliger Dystopien als affektiver Atmosphären die Frage nach der Handlungsmacht des_r Einzelnen, diesen Atmosphären zu entkommen.

Fiktionale Filme erlauben es uns, das Eingeschlossensein in seiner materiellen, affektiven und körperlichen Dimension zu erschließen. Zudem ermöglichen sie es uns zu verstehen, wie dieser Zustand einen dystopischen Alltag prägen kann. Filme bieten visuelle und diskursive Einblicke in die Betrachtung von Körperlichkeit (Simonsen 2013), Affekt (Tolia-Kelly 2006) und Prozessen des Abkapselns (Hodkinson 2012). Gerade durch die vielschichtige, multimodale Qualität von Film bietet eine Analyse fiktiver Geographien komplexe Einblicke in die Normalisierung dystopischer Alltagserfahrungen. Unser empirischer Ausgangspunkt ist die Darstellung des Eingeschlossenseins in den Filmen Parasite (2019) und Dogtooth (2009). Beide Filme zeichnet eine unverwechselbare Absurdität aus (Larsen 2019), die es ermöglicht, das grausame Potenzial langweiliger Dystopien zu thematisieren. Mit Blick auf das isolierte Heim schildern beide Filme Momente des Schreckens und des Ekels als einen intimen Teil alltäglichen Lebens. Unsere Analyse von Schlüsselmotiven und -szenen dieser beiden Filme zeigt auf, wie Bedingungen des Eingeschlossenseins Protagonist_innen auferlegt und von ihnen angefochten werden; wie sinnliche Erfahrungen und Gefühle normative Ordnungen des Eingeschlossenseins produzieren und verstärken.

Im Anschluss an eine Einführung in Geographien des Eingeschlossen­seins in Abschnitt 2 stellen wir in Abschnitt 3 methodologische Über­legungen zu filmischen Analysen an und führen in beide Filme ein. In Abschnitt 4 analysieren wir das Eingeschlossensein in seiner materiellen, affektiven und körperlichen Dimension. Der abschließende Abschnitt 5 diskutiert die Bedeutung affektiver Atmosphären des Eingeschlossenseins und benennt bestehende Forschungsdesiderate.

2. Langweilige Dystopien und Geographien des Eingeschlossenseins

2.1. Langweilige Dystopie als Erduldung eines grausamen Alltags

Seit Thomas More 1516 in seinem gleichnamigen Werk den Begriff der Utopie nachhaltig geprägt hat (Claeys 2017), ist dieser Bestandteil geographischer Diskurse zu Raum und Stadt. Das Antonym – der Begriff der Dystopie – wird vermehrt zur Beschreibung nicht wünschenswerter, bedrückender, oft auch zukünftiger Welten genutzt. Gayan Prakash (2010) argumentiert, dass die Beschreibung solch dystopischer Zukunftsvisionen Formen einer Kritik darstelle, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts Missstände (urbanen) Lebens kritisch hinterfrage. Inzwischen, so bemängelt Choon-Piew Pow (2015), gäbe es sogar einen Automatismus, nach dem urbane Typologien der Segregation und Exklusion – etwa gated communities – ohne eine differenzierte Analyse der variierenden Dynamiken städtischer Realitäten häufig als dystopisch beschrieben würden.

Unsere Analyse basiert auf der Arbeit von Autor_innen, die Dystopien als Vehikel nutzen, um normative Annahmen über das Ertragen grausamer Lebensbedingungen kritisch zu hinterfragen. Insbesondere in dominanten Diskursen über Armut und Resilienz werden geringverdienende, städtische Bevölkerungen häufig als besonders widerstandsfähig und einfallsreich dargestellt (Roy 2011). David Bissell (2022) nutzt das Konzept der Anästhesie, um die sensorische Dimension von Plattformarbeit besser zu verstehen. Er zeigt, wie Körper lernen, prekäre Arbeit zu ertragen, indem sie sich Taubheit und Empfindungslosigkeit angewöhnen, durch diese Abstumpfung jedoch zugleich ihre Handlungsfähigkeiten einschränken. Gargi Bhattacharyya (2015) zeigt auf, wie sich Austerität auf das tägliche Leben auswirken kann und fragt in diesem Zusammenhang nach den Folgen solcher Alltagserfahrungen für (abnehmende) Zukunfts­erwartungen. Beide Autor_innen verweisen mit Sorge auf die sich wandelnde politische Handlungsfähigkeit der Betroffenen. Bissell argumentiert, dass die „sich verändernden Fähigkeiten zu Fühlen ebenso bedeutsam sind, wie die sich verändernden Fähigkeiten zu handeln“ (2022: 88; Übers. d. A.).

Dieser Artikel schließt an diese Debatten über Dystopien als Beschreibungen von Formen des Erduldens an. Er erweitert den Begriff der Dystopie dabei um eine grausame Realität, die in den Alltag eingeschrieben normalisiert wird. Die Aktualität dieses Konzepts zeigen nicht nur der Ursprung des Begriffes in sozialen Medien, sondern auch alltägliche Beispiele, die weiterhin regelmäßig im subreddit r/ABoringDystopia geteilt und diskutiert werden.[2] Wir gehen davon aus, dass der Begriff der Dystopie nicht zwangsläufig aktuelle Phänomene beschreibt, die in die Zukunft extrapoliert werden. Mit dem Begriff der langweiligen Dystopien kann auch der Status quo als dystopisch bezeichnet und so hinterfragt werden. Eine Untersuchung langweiliger Dystopien hebt die Normalisierung eines grausamen Alltags in Prozessen der Erduldung hervor. Als langweilig bezeichnen wir diese Dystopie nicht etwa, um Fragen nach Müßigkeit, Eintönigkeit oder fehlender Sinngebung zu stellen (Lee/Zelman 2019; Chin et al. 2017; Misztal 2016). Vielmehr soll das Konzept der langweiligen Dystopie die Prozesse der Normalisierung und Verkörperung grausamer Bedingungen aufzeigen.

2.2. Geographien des Eingeschlossenseins

Beispiele für dieses Verständnis der langweiligen Dystopie finden sich in der Literatur über sozial-räumliche Einschlüsse (enclosures). Diese steckt ein weites Forschungsfeld ab, das sowohl Dynamiken zwischen enclosure und commons (Vasudevan/McFarlane/Jeffrey 2008) beschreibt, als auch die zentrale Rolle des Körpers in Beziehungen zwischen Gesetz, Gewalt und Raum (Jeffrey/McFarlane/Vasudevan 2012): Wissenschaftliche Arbeiten zu Lockdowns nach Terroranschlägen (u. a. Hergon 2021; Mengin et al. 2021) veranschaulichen etwa, wie Momente des Einschlusses traumatische Erlebnisse verstärken können. Forschung zum Phänomen hikikomori (Kato et al. 2012; Kato/Kanba/Teo 2019) verdeutlichen die Verzweigung sozialer und psychologischer Dynamiken in der freiwilligen Isolation. Internationale Debatten in den carceral geographies, den Geographien der Gefangenschaft, verweisen auf sich verändernde institutionelle Kontrollmöglichkeiten – beispielsweise in Flüchtlingslagern (Minca 2005), im öffentlichen Raum (Klauser 2016) oder in Räumen der Inhaftierung und der Isolation (Moran/Turner 2022, Moran 2016). Neben diesen Bemühungen, Räume der Überwachung und Kontrolle theoretisch zu fassen, haben Forscher_innen begonnen, diese Ansätze auch auf Räume jenseits des Gefängnisses zu übertragen (Marquardt 2022). Dabei wurden auch ganze Städte als carceral diskutiert (Fraser/Schliehe 2021).

Über diesen Fokus auf die institutionelle Steuerung des Einschlusses hinaus nimmt eine wachsende Zahl von Arbeiten die alltäglichen, affektiven und verkörperten Dimensionen des Einschlusses in den Blick. Für unsere Analyse sind dabei insbesondere Arbeiten über die Bedingungen und Erfahrungen, also den Zustand des Eingeschlossenseins von In­teresse. Diese Untersuchungen der emotionalen und verkörperten Geographien des Einschlusses (Bonds 2019; Story 2019) verdeutlichen, wie die Haft erlebt und verarbeitet wird (u. a. Moran/Turner/Schliehe 2018). Im Anschluss an die Foucault’sche Konzeption von Biopolitik stellen sie räumliche Ein- und Ausschlussmechanismen und dadurch entstehende normative Ordnungen im städtischen Kontext dar und diskutieren, wie diese in den Körper eingeschrieben sind (u. a. Füller/Marquardt 2008). Nadine Marquardt (2016) analysiert in wissenschaftlichen Studien über Obdachlosenunterkünfte, wie Affekt in politischen Programmen genutzt wird, die darauf abzielen, Obdachlose „wohnfähig“ zu machen. Diese Studien heben unter anderem Gefühle hervor, die sich aus dem Verhältnis zwischen Selbst und Anderen ergeben. Ein Beispiel dafür sind Gefühle wie Schrecken oder Angst vor dem „bedrohlichen Anderen“ (Hodkinson 2012: 501; Übers. d. A.), die Einschlüsse und Rückzüge bedingen können.

Dieser Artikel trägt zu diesen affekt-interessierten Studien über das Eingeschlossensein bei. Indem wir dieses in seiner affektiven Dimension verstehen, eröffnet der Begriff Möglichkeiten für eine Analyse langweiliger Dystopien.

2.3. Eingeschlossensein als affektive Atmosphäre

Um die alltäglichen, materiellen, körperlichen und emotionalen Dimensionen des Eingeschlossenseins zu fassen, bedienen wir uns der umfangreichen geographischen Literatur über Affekt und affektive Atmosphären (Anderson 2006, 2009, 2014; Buchanan/Lambert 2005; Duff 2010, 2016; Gammerl/Herrn 2015; Pile 2010; Stewart 2007; Thrift 2004). Wir führen diese ein, um aufzuzeigen, wie alltägliche Praxen eine grausame Realität normalisieren – also langweilige Dystopien produzieren.

Analysen von Affekt zeigen auf, wie menschliche Körper Affekt durchleben, während sie mit anderen Körpern im materiellen Raum interagieren, beispielsweise bei gemeinsamen Erfahrungen, Begegnungen oder performances (O’Grady 2018). Sie verstehen den Körper zum einen als Mittel, die Welt zu verstehen. Zum anderen lesen sie den Körper als ein Medium, das die Bedeutung einer Situation zum Ausdruck bringt, in der dieser Körper agiert (ebd.). Divya Tolia-Kelly beschreibt affektive Praktiken als „räumlich eingebettete und gefühlte Phänomene“ (2006: 296; Übers. d. A.). Affekt ziele darauf ab, die transpersonalen Dimensionen körperlichen Lebens und alltäglicher Existenz zu fassen (Tolia-Kelly 2006): Dies sind Erfahrungen, in denen das individuelle Subjekt nicht allein agiert, sondern in denen Affekte relational zwischen Subjekten entstehen. Ben Anderson (2006: 735) verdeutlicht diesen Punkt: Affekt sei die körperliche Fähigkeit, zu berühren und berührt zu werden („to affect and to be affected“). Diese werde zwar in individuellen Körpern erfahren, entstehe aber erst durch die Interaktion zwischen Körpern und materiellen Räumen. Gammerl und Herrn unterstreichen „die unmittelbar körperlichen und außersprachlichen Dimensionen des Affekts“ (2015: 11). Affekt artikuliert die gelebte Erfahrung bestimmter Situationen als eine Serie von Ereignissen oder Prozessen, die kontinuierlich durch die performances der konstituierenden Körper geschaffen und erneuert werden (O’Grady 2018). Indem dieser Ansatz die Bedeutung von alltäglicher Praxis und Erfahrungen in den Blick nimmt, ermöglicht er ein Verständnis von Prozessen der Normalisierung.

Anderson (2014) argumentiert, dass Affekt per se nicht existiere, sondern empirisch in affektiven Atmosphären zum Tragen komme. Er schreibt, dass „gerade die Mehrdeutigkeit affektiver Atmosphären – zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Subjekt und Objekt/Subjekt und zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem – es uns ermöglicht, über affektive Erfahrung als etwas nachzudenken, das jenseits, um und neben der Bildung von Subjektivität stattfindet“ (Anderson 2009: 77; Übers. d. A.). In Anlehnung an Gernot Böhme erläutert Anderson, wie man sich selbst als von einer freundlichen oder angespannten Atmosphäre umgeben fühlen kann und wie diese unterschiedlichen Atmosphären wiederum Menschen umhüllen (ebd.: 80). Auf empirischer Ebene haben Mikkel Bille und Kirsten Simonsen (2019) die Notwendigkeit eines besseren Verständnisses der Rolle von Praktiken bei der Vermittlung dieser Atmosphären hervorgehoben. Damit wird deutlich, dass affektive Atmosphären keinen eindeutigen ontologischen Status haben, sondern stets durch Materialitäten und körperliche Praktiken des Berührens und Berührt-Werdens vermittelt werden (ebd.: 305).

Mark Jayne, Gill Valentine und Sarah Holloway (2010) zeigen auf, wie die Dimension verkörperter Erfahrung und affektiver Atmosphären zusammengebracht werden können. Dementsprechend untersuchen wir das Eingeschlossensein nicht als individualisierte subjektive Erfahrung, die durch räumlich eingebettete Praktiken (der Protagonist_innen in den Filmen) gemacht werden. Auch die Szenen selbst erzeugen affektive Atmosphären: durch Dialoge, die Inszenierung und andere Formen der Narration. In dieser Lesart entsteht das Eingeschlossensein nicht nur durch Praktiken des Eingrenzens, sondern auch in Atmosphären unausweichlicher Enge, die Gefühle des Eingeschlossenseins erzeugen. Langweilige Dystopien beschreiben das Ertragen dieser Atmosphären und das Bestreiten des Alltages in ihnen.

3. Filmische Geographien: Das Eingeschlossensein in den Filmen Dogtooth und Parasite

3.1. Filmische Geographien

Wie Science-Fiction-Autor_innen und Kulturwissenschafter_innen argumentieren, bietet Film eine Heuristik zur Beschreibung sozialer Phänomene (Le Guin 1979; Chattopadhyay 2016) und um städtische Zustände zu reflektieren (Kneale/Kitchin 2002). Johan De Smedt und Helen De Cruz (2015) kommen zu dem Schluss, dass Film gerade durch seine affektiven Register eine umfassendere Analyse solcher Phänomene gestattet. In der gemeinsamen Betrachtung räumlicher, sensorischer und emotionaler Dynamiken (Gammerl/Herrn 2015) erlaubt eine filmische Analyse die Erforschung der affektiven Dimensionen städtischen Lebens (Lorimer 2010; Carter/McCormack 2006). Das beinhaltet auch zu zeigen, wie Erfahrungen von Einschluss und Isolation verkörpert werden.

Populärkultur und insbesondere fiktionale Erzählungen können reichhaltige Erkenntnisse zu Schlüsselkonzepten unserer sozialen und politischen Welt liefern, etwa zu Konzepten des Zuhauses oder der Zugehörigkeit (Anderson 2019; Daniel/Musgrave 2017; Felski 2008). Michael Shapiro (2013) zufolge liegt der Wert fiktionaler Texte für die sozialwissenschaftliche Forschung darin, dass sie das Denken anregen, anstatt bestimmte Erklärungen für soziale Phänomene einfach zu validieren (ebd.: 31). Methodisch bezieht Shapiro sich auf Narrative in belletristischer Literatur und im Film. Seine Betrachtung der Protagonist_innen beschränkt sich nicht auf psychologische oder logische Erklärungsmuster. Er betrachtet sie zudem als ästhetische Subjekte, die „durch künstlerische Genres Gedanken formulieren und Denken mobilisieren“ und uns so etwas über die Welt mitteilen (ebd.: 11; Übers. d. A.). In dieser Hinsicht ist die Fiktion eine wertvolle Quelle für das Lernen, das Theoretisieren, und – wie Miranda Iossifidis schreibt – für die „kollektive und individuelle Sinngebung des sozialen Lebens, wie wir es erleben, wünschen und uns vorstellen“ (2020: 161; Übers. d. A.).

Film ist seit Langem als relevante Quelle für die Beobachtung sozialer Alltagspraktiken (Grimshaw/Ravetz 2009) anerkannt (Aitken/Dixon 2006; Cresswell/Dixon 2002). Laut Chris Lukinbeal und Stephan Zimmermann (2006) ermöglicht die interdisziplinäre Forschung über Film und Geographie es, „die Räumlichkeit des Kinos mit den sozialen und kulturellen Geographien des Alltagslebens“ (ebd.: 316; Übers. d. A.) zu verbinden. Kritische fiktive Geographien haben weitgehende Analysen des sozio-ökonomischen und ideologischen Kontexts geliefert, in dem materielle Artefakte der Populärkultur (von ihren Autor_innen) produziert und (vom Publikum) konsumiert werden (Sharp 2000; Rose 2001). So konstruieren beispielsweise Autor_innen durch fiktionale Erzählungen und bewegte Bilder Orte, Identitäten und Bedeutungen (Aitken/Zonn 1994).

Unsere Analyse konzentriert sich auf die im Film selbst dargestellten Emotionen und Affekte. Wir wollen verstehen, wie diese das Eingeschlossensein koproduzieren (Rose 2001; Lorimer 2010). Damit grenzen wir unsere Methodologie explizit von Analyseansätzen ab, die untersuchen, wie bewegte Bilder Emotionen hervorrufen, also die Reaktionen des Publikums beeinflussen.

3.2. Einführung in die Filme Dogtooth und Parasite

Dieser Beitrag analysiert die Atmosphären des Eingeschlossenseins in Bong Joon-hos Parasite (2019, Drehbuch: Bong Joon-ho und Han Jin-won) und Yorgos Lanthimos Dogtooth (2009, Drehbuch: Yorgos Lanthimos und Efthymis Filippou). Beide Filme verhandeln Momente des Eingeschlossenseins und die Versuche der Protagonist_innen, aus diesen Einschlüssen auszubrechen. Dogtooth ist eine düster-komische Kritik an Familienstrukturen (Fisher 2011) und deren Normativität und Fremdbestimmung (Walldén 2015). In einem ortlosen, lichtdurchfluteten Landhaus mit Swimmingpool und weitläufigem Garten, umschlossen von hohen Hecken und Mauern, halten zwei Eltern ihren erwachsenen Sohn und ihre beiden Töchter gefangen. Das Leben des Haushalts ist geprägt von gewalttätigen und patriarchalischen Strukturen. Die Eltern kontrollieren die Wahrnehmung und Realitätskonstruktion ihrer Kinder, indem sie diese verbal sowie durch alltägliche Gewalt disziplinieren. Zudem verzerren sie deren Sprache und ihre Bedeutung systematisch. Abgesehen vom Familienvater, der das Haus verlässt, um zur Arbeit zu gehen, spielt sich der Film nur im familiären Heim und im Garten ab. Die Eltern zeichnen den Kindern das Bild einer gefährlichen Außenwelt, die sie erst betreten könnten, wenn sie ihren Eckzahn, den titelgebenden Hundszahn, verlieren. In Dogtooth bezeugt das Eingeschlossensein eine langweilige Dystopie, die unter anderem durch eine Verarmung der Imagination, physische Grenzen und Versuche des Ausbruchs gekennzeichnet ist.

Parasite ist ein Kommentar zur sozialräumlichen Spaltung und ökonomischen Ungleichheit im Spätkapitalismus. Im Mittelpunkt des Films steht das Leben zweier Kleinfamilien im urbanen Südkorea: Den verarmten Kims, die im Souterrain in einem engen und dreckigen Viertel leben und den Parks, Bewohner_innen einer von einem berühmten Architekten entworfenen Villa auf den Hügeln der Stadt. Die Schicksale der beiden Familien verflechten sich, als ein Freund der Familie Kim diesem einen Talisman in Form eines Steins (suseok) schenkt und den Sohn der Familie für eine Stelle als Englischlehrer für die Tochter der Parks empfiehlt. Der Stein symbolisiert das Versprechen von Wohlstand. Zugleich markiert er den Beginn einer Scharade, bei der sich die vierköpfige Familie Kim als Nachhilfelehrer, Kunstpädagogin, Haushälterin und Fahrer in den Haushalt der Parks einschleicht. Was wie eine Geschichte des sozialen Aufstieges beginnt, entpuppt sich als ein Thriller, der in einem Überlebenskampf endet. Parasite beleuchtet langweilige Dystopien, die aus der (scheinbaren) Durchlässigkeit sozialer Grenzen und dem alltäglichen Scheitern beim Versuch von deren Überwindung entstehen.

Diese visionären und einzigartigen Meisterwerke bieten aufgrund ihrer detaillierten Aufarbeitung des Themas reichhaltiges empirisches Material.[3] Die Auswahl der Filme ist von unseren eigenen Erfahrungen des Eingeschlossenseins während der Zeit der Forschung und des Schreibens in den Pandemiejahren 2020 und 2021 geprägt. Die COVID-19-Pandemie hat das Zuhause als zentrales Element in der Entstehung von Diskursen und Erfahrungen über das Eingeschlossensein in den Vordergrund gerückt. Im Gegensatz zu gängigen fiktiven Geographien der Dystopie, die Städte und das Spektakel des Urbanen in den Mittelpunkt stellen (Aitken/Zonn 1994; Kneal/Kitchin 2002), richtet sich unsere Analyse auf die alltäglichen Räume des Hauses. Häuser und Wohnungen sind die Räume, in denen Menschen die meisten alltäglichen und häufig unreflektierten Routinen ausführen (Pink/Leder Mackley 2014). Gleichzeitig ist das Zuhause ein Raum der Moderne, der als begrenzt konstruiert und mit Vorstellungen normativer häuslicher Ordnung und damit verbundenen Ideen von Intimität, Privatsphäre und familiärer Zuneigung (Blunt/Dowling 2006) verbunden ist. Daher ist das Zuhause ein besonders geeigneter Ort für eine Reflexion über Vorstellungen des Eingeschlossenseins. In Anlehnung an Jane M. Jacobs (2004) Vorschlag zur filmischen Analyse von Häusern betrachten wir das Haus nicht nur als Handlungshintergrund, sondern als einen Raum, in und mit dem Interaktionen und Alltagspraktiken organisiert werden. Häuser prägen langweilige Dystopien des Eingeschlossenseins in ihrer körperlichen, affektiven und sozialen Dimension. Parasite und Dogtooth stellen in überzeugender Art und Weise beinahe komplett abgeschlossene, häusliche Welten dar, die von starker und zum Teil gewaltvoller Isolation geprägt sind.

Zudem greifen wir mit unserer Auswahl der Filme Dogtooth und Parasite auf das Genre der dunklen Komödie zurück. Dessen Verbindung von Humor und Tragödie erlaubt es uns, dystopische Welten unspektakulärer Alltagsräume zu fassen und zum Zwecke eines besseren Verständnisses langweiliger Dystopien zu nutzen. Die Filme, die unter anderem auch als „black-comic poem“ und „tragicomic masterclass“ (Bradshaw 2010; Kermode 2020) beschrieben wurden, zeichnet eine unverwechselbare Absurdität aus (Larsen 2019). Diese stellt das grausame Potenzial langweiliger Dystopien thematisch in den Vordergrund. Ziel unserer Analyse ist es, die materiellen wie imaginären, die sichtbaren wie unsichtbaren Formen des Eingeschlossenseins zu erfassen, um damit zu verstehen, wie sie dystopischen Alltag produzieren.

3.3. Methodologisches Vorgehen

Um die Erfahrung des Eingeschlossenseins in ihrer affektiven Dimension erfassen zu können, kombiniert unsere Analyse Arbeiten über Einschlüsse mit visuellen Analysen (Pink 2001; Rose 2001) sowie kulturgeographischen Ansätzen zum narrativen Film (Saunders 2019). In Anlehnung an Gillian Rose (2001) konzentrieren wir uns auf einen zentralen Ort der Bedeutungsproduktion: auf den Film selbst (d. h. auf die visuelle Komposition und die Erzählung). Im Rahmen einer „kompositorischen Interpretation“ (Rose 2001: 38; Übers. d. A.) untersuchen wir die narrative Struktur der Filme, analysieren ihren Inhalt und die symbolische Bedeutung der bewegten Bilder. Daneben stützen wir uns auf einen Ansatz der Semiotik, der dynamischer ist und nicht einfach nur „erfasst“ (Hutta 2015: 299). Unsere Analyse baut auf Stadtforschungsansätzen auf, die visuell-räumliche oder semiotische Zugänge zum Verständnis von Ungleichheit nutzen (Krase/Shortell 2011). Im Mittelpunkt dieses Verständnisses steht die Idee, dass affektives Leben stets vermittelt ist – beispielsweise durch verschiedene Apparate, Begegnungen oder Bedingungen (Anderson 2014). Filme, deren visuelle Semiotik mit Blick auf das Publikum konstruiert wird, bieten sich für diesen Analyseansatz besonders gut an.

Unsere Analyse befasst sich mit der visuellen oder verbalen Komposition der Narrative der Filme. Wir legen dabei den Schwerpunkt erstens auf Handlungen und Interaktionen, die Momente des Einschlusses kennzeichnen; zweitens darauf, wie die Abfolge dieser Ereignisse die Entwicklung, den emotionalen Zustand und die Handlungen der Figuren prägt (etwa wie sie den dystopischen Alltag verstärken, anfechten oder normalisieren). Drittens beleuchten wir die Rolle der Räume, die durch ihre Materialität, ihre Komposition und ihre Grenzen Einschlüsse produzieren.

4. Affektive Atmosphären des Eingeschlossenseins

Dogtooth und Parasite etablieren verschiedene, sich überlagernde Modi des Eingeschlossenseins und verweisen auf deren andauernde, oftmals gewaltvolle Durchsetzung: Die Zuschauer_innen erfahren, wie das Eingeschlossensein im Zusammenwirken von sozialer Rolle und Raum (re-)produziert wird – wie sich etwa das Eingeschlossensein in patriarchalische Gewalt (Dogtooth) oder in sozio-ökonomischen Abstieg (Parasite) alltäglich, körperlich und räumlich manifestiert und die Rollen der Progtagonist_innen festschreibt. Das Konzept der langweiligen Dystopie hilft uns dabei zu verstehen, wie sich das Eingeschlossensein in sozialen Positionen normalisiert und sich über affektive Atmosphären (Anderson 2009; Bille/Simonsen 2019) in Körper und Raum einschreibt. Wir analysieren zwei Kernmotive der Filme: In Dogtooth werden Atmosphären über die Narration eines gefährlichen Außens konstituiert sowie Mythen, die darauf abzielen, ein nukleares Innen aufrechtzuerhalten. In Parasite ist die Atmosphäre von Auf- oder Abstiegsängsten der Protagonist_innen geprägt.

4.1. Dogtooth: Eingeschlossen in patriarchalischer Gewalt

Dogtooth schildert das Entstehen des dystopischen Alltags einer fünfköpfigen Familie im Schatten einer vermeintlichen, großen äußerlichen Gefahr. Schauplatz ist ein von hohen Mauern und Zäunen umschlossenes weitläufiges Anwesen. Die durch diese materiellen Grenzen geschaffene Isolation wird durch die elterliche Erzählung von Mythen noch verstärkt. Dazu zählt der eingangs geschilderte Mythos des Eckzahns, dessen Verlust die Bedingung für ein mögliches Verlassen des Anwesens markiert. Zudem entwerfen die Eltern ein Szenario der Bedrohung und der Angst. Ihre Schilderung einer Außenwelt voller Gefahren rechtfertigt das Eingeschlossensein und das Narrativ des familiären Zuhauses als Zufluchtsort. Beispielsweise erzählen sie ihren Kindern, dass die Katze ein „Killertier“ sei: „Sie ist das gefährlichste Tier von allen. Sie frisst Fleisch, vor allem das Fleisch von Kindern“ (Dogtooth 2009: 0:43). Katzen, die ab und zu in ihren Garten eindringen, gefährdeten ihr sicheres und abgeschiedenes Leben. Im Garten trainiert der Vater die Familie darin, das Haus gegen unerwünschte Fremde (Katzen) zu verteidigen. Abbildung 1 zeigt eine Szene des Films, in der sich der stehende Vater seiner aufgereihten Familie zuwendet. Unter seinem Kommando trainiert die Familie auf allen vieren das Bellen, als seien sie Hunde. Dem Vater untergeordnet und durch ihre Darstellung entmenschlicht bellen die Kinder ins Leere. Sie üben sich darin, eine Grenze zu schützen, die sie als die Bedingung für ihr Überleben verstehen. Während Katzen eine imaginierte Bedrohung bleiben, ist die regelmäßige körperliche Gewalt, die sich die Geschwister gegenseitig antun, Teil des Alltags. Die durch die Eltern initiierte sexuelle Gewalt an ihrer älteren Tochter wird als ebenso normal geschildert. Obwohl ihr Zuhause ein Ort der Gefangenschaft und der Gewalt ist, prägen vielmehr die Angst vor dem Außen und der Invasion dieser Außenwelt als die physischen Grenzen der Mauern den dystopischen Alltag der Familie. Eingeschlossensein ist hier nicht nur räumlich materialisiert, sondern wird vor allem imaginiert und praktiziert. Die Inszenierung von Atmosphären der Bedrohung und die Kontrolle der Bedeutung dieser Atmosphären durch die Eltern erhalten die Bedingungen des Eingeschlossenseins aufrecht und normalisieren diese als Teil des täglichen Lebens im Haus.

Abb. 1 Training im Garten: Im Garten trainiert die Familie, wie Hunde zu bellen und das Haus vor der furchterregenden Außenwelt jenseits des Gartenzauns zu schützen. Die Trainingsszene verweist auf eine patriarchalische, normalisierte Dystopie, die von Angst geprägt ist (Dogtooth 2009: 0:45).
Abb. 1 Training im Garten: Im Garten trainiert die Familie, wie Hunde zu bellen und das Haus vor der furchterregenden Außenwelt jenseits des Gartenzauns zu schützen. Die Trainingsszene verweist auf eine patriarchalische, normalisierte Dystopie, die von Angst geprägt ist (Dogtooth 2009: 0:45).

Wir können die entstehende Ordnung des familiären Alltags als eine langweilige Dystopie verstehen: Vordergründig etablieren die Eltern das Eingeschlossensein durch die patriarchalische Ordnung – also die Autorität des Vaters, der seine Narration über die kindliche Welt und deren Regeln gewaltvoll durchsetzt. Die Eltern festigen die Isolation der Kinder jedoch noch dadurch, dass sie das Eingeschlossensein durch routinierte Verhaltensformen in deren Alltag einschreiben. Davon zeugt eine Szene, in der der Vater einen Song von Frank Sinatra in eine Ode an das Haus „übersetzt“ – „Mein Haus, du bist schön und ich liebe dich“ (Dogtooth 2009: 0:59). Dies verdeutlicht nicht nur die Autorität des Vaters, sondern auch, wie dieser in alltäglicher Praxis die Bedeutungswelt der Kinder definiert.

Dogtooth zeigt auf, wie die gelebte Isolation die Kinder eines Verständnisses der Außenwelt und des Fremden beraubt und ihnen damit auch den Möglichkeiten einer Überschreitung der Grenzen nimmt. Die namenlose Familie und ihr ortloses Einfamilienhaus vermitteln ein Gefühl der Entbehrung, das die Erfahrung der Kinder bestimmt. Die einzigen Filme, die die Kinder sehen dürfen, zeigen Aufnahmen ihrer selbst. Mögliche Vorstellungen einer Welt jenseits des Hauses bleiben stets limitiert. Bezeichnend für diese Verarmung und die daraus resultierende begrenzte Vorstellungskraft ist ein Dialog mit Christina, dem einzigen Gast, der das Haus betritt. Christina befragt den Sohn über seine Träume:

„Christina: Träumst Du auch?

Sohn: Ja.

Christina: Erzähl mir einen Traum, den Du in letzter Zeit hattest.

Sohn: Mama ist in den Pool gefallen.

Christina: Und dann?

Sohn: Das war alles.“

(Dogtooth 2009: 1:41)

Ohne jegliche visuelle oder mentale Stimulation ist es den Kindern nicht möglich, in ihren Träumen fremde Welten zu imaginieren. Wenn eine andere Welt nicht vorstellbar ist, ist auch die Möglichkeit einer Veränderung der erlebten Welt nicht denkbar. Der Mangel an Exposition und Interaktion in einer vollständig kontrollierten Umgebung behindert einen Prozess, den Bruno Latour (2004) als „Lernen, betroffen zu sein“ bezeichnet: das Lernen, mit der Vielfalt der Welt zu interagieren (durch den eigenen Körper und die eigenen Sinne); das Lernen, zu differenzieren und sich mit der Welt um einen herum zu verbinden und seine Handlungs- oder Reaktionsfähigkeit zu verbessern. Die Möglichkeit, den Status quo – etwa die patriarchalische Ordnung – infrage zu stellen, wird so auf ein Minimum reduziert. Wir verstehen das Eingeschlossensein der Kinder als langweiligen Dystopie; als eine Situation, die auf alltägliche Routinen der Abgrenzung baut und diese durch grausame Alltagspraktiken und Entzug von Wissen über Lebensalternativen normalisiert.

Trotz alledem testen die Kinder die Welt jenseits des Zauns schrittweise aus. Im Garten, in dem sich die Außenwelt der vollständigen Kontrolle der Eltern entzieht, hinterlassen äußere Einflüsse – etwa Flugzeuge am Himmel – Erklärungsbedarf. Bei den Kindern wecken der Garten und das Versprechen eines Ausbruchs, das er bereithält, Neugierde. So wird beispielsweise der Sohn dabei ertappt, wie er mit seinem imaginierten Bruder spricht, der aus dem Haus geflohen ist. In einem Monolog vor dem Zaun erhofft sich der Junge Bestätigung von der anderen Seite (Abbildung 2). Oder die Fürsorgepraktiken der Tochter: Indem sie ihrem geflohenen Bruder am Gartenzaun Essen zukommen lässt, testet sie die Durchlässigkeit der Außengrenzen ihrer isolierten Welt. Beide Geschwister hoffen auf einen Austausch, der die Existenz einer Außenwelt greifbarer macht. Gleichzeitig verstärkt die Interaktion mit dem Zaun das Gefühl der Gefangenschaft in einer affektiven Atmosphäre der Isolation. In dieser systematisch konstruierten und begrenzten Welt prägt hier auch das Fehlen jeglicher Interaktion das Gefühl unheimlicher Not und großer Einsamkeit.

Abb. 2 Prüfung der Grenze: Ein Geschwisterkind ist verschwunden, vielleicht hinter dem Zaun. Der Sohn spricht mit dem Zaun und verspottet seinen Bruder, wird aber nur mit dröhnendem Schweigen empfangen (Dogtooth 2009: 0:18).
Abb. 2 Prüfung der Grenze: Ein Geschwisterkind ist verschwunden, vielleicht hinter dem Zaun. Der Sohn spricht mit dem Zaun und verspottet seinen Bruder, wird aber nur mit dröhnendem Schweigen empfangen (Dogtooth 2009: 0:18).

Dogtooth verhandelt die Möglichkeit eines Ausbruchs aus der langweiligen Dystopie. Das Konstrukt von Regeln und Grenzen, das den familiären Alltag dominiert, droht aufgrund seiner Rigidität schon aufgrund kleiner Transgressionen zu zersplittern. Auf ihren eigenen Vorteil bedacht, bringt Christina das Konstrukt nach und nach zum Wanken und ermöglicht der namenlosen älteren Tochter zunächst kleine Einblicke in die Welt außerhalb des Hauses (einen Haarreif) und später größere (Videokassetten). In den Begegnungen mit Christina kommt die ältere Tochter in Berührung mit anderen Praktiken und Perspektiven, die ihre eigene Bedeutungswelt verschieben. Die Tochter rezitiert gesehene Filme und spielt darin gezeigte Kampfszenen nach. Sie nennt sich selbst von nun an Bruce und schreibt sich eine neue Rolle zu. Treffend schreibt Iris Marion Young über diese Begegnungen mit Anderen, man könne „durch die Interaktion mit ihnen etwas Neues und Anderes lernen oder erfahren“ (1990: 40; Übers. d. A.). Die Begegnungen mit Christina und den dabei errungenen Videokassetten tragen zum Hinterfragen der eigenen Identität und der bestehenden Normen bei und ermutigen die ältere Tochter schlussendlich zum Ausbruch aus der restriktiven Welt Ihres gewaltvollen Zuhauses.

Trotz der Versuche des Vaters, die Isolation der Kinder aufrechtzuerhalten, scheint die Flucht der Tochter schließlich zu gelingen, weil die von Christina eroberten Videos ihre Selbst- und Weltwahrnehmung erweitern. Zunächst probt sie den Ausbruch aus der langweiligen Dystopie des Haushalts in einer Tanzaufführung, bei der sie eine eingeübte Choreografie durchbricht. Schließlich versucht sie es über das Ausschlagen ihres Eckzahns (Abbildung 3). Dieser Ausbruchsversuch bringt scheinbar widersprüchliche Gefühle zusammen. Als die Tochter freudig lächelnd und mit blutigen Zähnen in den Spiegel schaut, zeigt ihr Antlitz sowohl Schmerz und Gewalt als auch Stolz, Erleichterung und Glück. Die blutige Szene verdeutlicht die Verkörperung dieser Emotionen und erinnert an Sara Ahmeds (2013) Argument, dass Emotionen nicht allein durch Sprache oder kognitives Denken bestimmt werden – besagte Szene enthält keine Dialoge –, sondern auch durch körperliche Reaktionen, über Empfindungen der Haut (in diesem Fall durch das gewaltige Ausschlagen des Zahns, das Lächeln und das Blut). Die körperliche Entstellung der Tochter und ihre Entwicklung im Verlauf des Films verleihen dem individuellen Subjekt Handlungsmacht.

Abb. 3 Zahnlos und lächelnd: Die ältere Tochter schlägt sich im Badezimmer mit einer Hantel einen Zahn aus. Blut spritzt auf den Spiegel. Die pastellfarbenen Töne des Vorhangs und ihres Kleides sowie die cremefarbenen Wände bilden einen Kontrast zum Rot des Blutes und unterstreichen die Gewalt des Ausbruchs aus der heimischen Isolation. Als sie sich das Blut vom Kinn wischt und breit in den Spiegel lacht, offenbart die Tochter die befreiende Zahnlücke (Dogtooth 2009: 2:06).
Abb. 3 Zahnlos und lächelnd: Die ältere Tochter schlägt sich im Badezimmer mit einer Hantel einen Zahn aus. Blut spritzt auf den Spiegel. Die pastellfarbenen Töne des Vorhangs und ihres Kleides sowie die cremefarbenen Wände bilden einen Kontrast zum Rot des Blutes und unterstreichen die Gewalt des Ausbruchs aus der heimischen Isolation. Als sie sich das Blut vom Kinn wischt und breit in den Spiegel lacht, offenbart die Tochter die befreiende Zahnlücke (Dogtooth 2009: 2:06).

Die affektive Atmosphäre schaffen sowohl die gemischten Gefühle der Tochter als auch die vorangehenden Szenen mit ihren zunehmend grotesken Formen der Gewalt. Sie zeugt von der Mehrdimensionalität des Eingeschlossenseins. Die Normalisierung verschiedener Gewaltformen – in der Überlagerung von patriarchalischer Ordnung, alltäglicher Kontrolle und einer extremen Form der Selbstverletzung in dieser Schlüsselszene – machen das Eingeschlossensein zu einer langweiligen Dystopie.

4.2. Parasite: Eingeschlossen in sozialen Positionen

Während das Eingeschlossensein in Dogtooth auf einer patriarchalischen Ordnung beruht, die durch Angst und deren Einschreibung in den Alltag der Protagonist_innen funktioniert, verweist Parasite auf soziale Grenzen in der räumlichen Ordnung der inszenierten Stadt. Doch wie in Dogtooth sind es auch hier nicht nur diese räumlichen Grenzen, sondern ebenso die körperlichen und affektiven Erfahrungen, die Protagonist_innen in verschiedenen sozialen Positionen bei ihren Begegnungen miteinander machen. Diese Begegnungen schreiben das Eingeschlossensein als langweilige Dystopie in ihren Alltag ein. Beispielsweise untermauert die Gegenüberstellung der ärmlichen, häufig als Toilette für Betrunkene genutzten und von Ungeziefer befallenen Souterrain-Wohnung der Kims mit dem durchgestylten, hygienisch einwandfreien und gesicherten Wohnraum der Parks die sozialen Positionen beider Familien. Während etwa die Socken der Kims im Halbfenster des Souterrains im Gestank der vorbeirollenden Autos trocknen (vgl. Abbildung 4), zeigt der Film das Leben der Parks im szenischen Kontrast in der lichtdurchfluteten Leichtigkeit des sonnigen Hauses auf den Hügeln der Stadt. Im Film wird das Haus der Kims als Waschraum bezeichnet, der buchstäblich als Toilette und zum Wäschewaschen benutzt wird. Die Bedeutungen dieser Räume werden durch die Szenen und die Interaktion mit den Figuren deutlich gemacht.

Abb. 4 Fenster der Kim’schen Wohnung: Die schmalen, bodentiefen Fenster der Wohnung der Familie Kim etablieren den Schauplatz des Films und stellen zu Beginn des Films dessen Protagonist_innen vor. Sie zeigen, wie sozial und räumlich eingeschlossen die Familie ist (Parasite 2019: 0:01; 2:06).
Abb. 4 Fenster der Kim’schen Wohnung: Die schmalen, bodentiefen Fenster der Wohnung der Familie Kim etablieren den Schauplatz des Films und stellen zu Beginn des Films dessen Protagonist_innen vor. Sie zeigen, wie sozial und räumlich eingeschlossen die Familie ist (Parasite 2019: 0:01; 2:06).

Vor dem Hintergrund dieser ungleichen häuslichen Welten verbinden Begegnungen der Armen mit den Eliten das getrennte Leben beider Parteien in der Unter- und Oberstadt und später – als die Kims sich im Haus der Parks etablieren – auch zwischen den verschiedenen Stockwerken der Park’schen Villa, also dem Bunker des Hauses und den oberirdischen Wohnflächen. Zudem zeigt sich die Verbindung zwischen sozialen und räumlichen Grenzen in der räumlichen Nähe sowie in Momenten klassenübergreifender Kopräsenz. In einer Sequenz kosten die Kims während der Abwesenheit der Hausbesitzer_innen heimlich das Leben im Wohlstand. Sie zelebrieren ihre neuen Arbeitsstellen und trinken den teuren Whiskey ihrer Arbeitgeber_innen. Da die Parks unerwartet verfrüht in die Villa zurückkehren, verstecken sich die Kims unter einem überdimensionierten Wohnzimmertisch. Als die Parks sich auf dem Sofa niederlassen, liegen ihnen die Kims zusammengepfercht zu Füßen. Die soziale Differenz der beiden Parteien wurde hier in affektive Atmosphären übersetzt: Auf der Couch, über der beengten Szene unter dem Tisch, machen es sich die wohlhabenden Parks gemütlich. Während sie sich in Behaglichkeit, Sicherheit und Intimität dem Sex hingeben, erleben die Kims in unmittelbarer räumlicher Nähe Angst, Scham und Unbehagen. Während die Parks abwertend über ihre Hausangestellten diskutieren, liegen die Kims schweigend – und eingeschlossen in ihrer sozialen Position – auf dem Boden und erleben die Möglichkeit unterschiedlicher affektiver Atmosphären im selben materiellen Raum: Die trägen, intimen Töne der Parks, die auf dem Sofa miteinander sprechen, und das stille, schwitzende Unbehagen der Kims auf dem Boden. Beide Familien erfahren hier gleichzeitig im selben Raum unterschiedliche affektive Atmosphären. Diese absurde Nebeneinanderstellung dieser Wohnzimmerszene stellt eine langweilige Dystopie dar. Die Divergenz der affektiven Atmosphären verdeutlicht, wie Klassenunterschiede im selben Moment als entmenschlichend oder als normal erlebt werden können.

Das Eingeschlossensein in verschiedenen sozialen Positionen verfestigt sich in Momenten der direkten Begegnung oder der räumlichen Nähe. Obwohl die Kims vom Mythos der sozialen Mobilität angezogen werden, erkennen sie in dem Moment des Betretens der Welt der wohlhabenden Eliten ihre eigene Benachteiligung als verkörperte soziale Position. Ihnen haftet, so die Parks, der Geruch von „Leuten, die mit der Metro fahren“ an (Parasite 2019: 1:28). In Momenten der Begegnung zwischen den Parks und den Kims wird dieser Geruch zu einer unüberwindbaren affektiven Grenze zwischen beiden Familien. Er schreibt die Dystopie einer polarisierten Gesellschaft in die Körper und in den Alltag ein. Beispielsweise konstatieren die Parks – in Unkenntnis ihrer räumlichen Nähe zu den Kims unter dem Wohnzimmertisch –, dass die Kims zwar ihren sozialen Status kennen und auch nicht überschreiten würden, ihr Körpergeruch diese Grenze aber nicht respektiere. Auch wenn die Kims ihr tägliches Leben im Laufe des Films zeitweise verbessern können, scheint ihre Klasse in Form dieses Geruchs an ihnen haften zu bleiben. Diese Begegnungen zeigen auf, wie unangenehme Gerüche eine Art „sensorische Disziplinlosigkeit“ (Jones 2012: 647; Übers. d. A.) darstellen, eine Erinnerung an die Hartnäckigkeit und Unüberwindbarkeit von sozialen Positionen. Angesichts der Tatsache, dass „Klänge, Gerüche usw. die transpersonale Zirkulation von Stimmungen und Gefühlen beeinflussen“ (Jayne/Valentine/Holloway 2010: 549), schaffen es diese Szenen, die Gerüche einzufangen und affektive Atmosphären zu kreieren, die über die individuelle Emotion hinausgehen. Dementsprechend ist einer der viel gelobten Aspekte des Films, wie er Klasse nicht im Dialog der Protagonist_innen, sondern über das Motiv des Geruchs etabliert (Bhandari 2020). Der Geruch – der untrennbar mit ihren Körpern verbunden ist – dient als Mittel der sozialen Abgrenzung, das die Parks gegenüber den Kims in ihrem Ekel offen zur Kunde tragen. Er korrumpiert so die Hoffnung der Kims auf einen möglichen Aufstieg.

Wie zuvor beschrieben, sind die sozialen Positionen in Parasite zunächst porös. Sie ermöglichen es den Kims, sich im Park’schen Haushalt einzunisten. Durch Strategien wie das Fälschen von Zeugnissen und Visitenkarten oder das Vortäuschen von Kontakten zu amerikanischen Hochschulen können die Kims zumindest zeitweise ihrem Status entfliehen und im Schatten des Wohlstands der Parks ihren ökonomischen Aufstieg realisieren. Allein der Versuch der Überschreitung sozialer Grenzen ist eine Transgression. Allerdings droht den Kims dabei, dass ihre gewagte Überschreitung schiefgeht, dass die Parks die Täuschungen der Familie erkennen und die Kims ihre gerade gewonnen Privilegien wieder verlieren. In der zuvor beschriebenen Szene mit der Familie unter dem Couchtisch droht der ihnen anhaftende Geruch sie zu verraten. Neben der Körperlichkeit dieser Überschreitung veranschaulicht die Szene auch, wie Emotionen soziale Zugehörigkeit und deren Übertretungen prägen und bedingen. Ekel, Scham und Verbitterung sind wichtige Bestandteile des geteilten Alltags. Sie situieren beide Familien in unterschiedlichen sozialen Positionen. Weder die Etikette der Parks noch die Zurückhaltung der Kims schaffen es, diese Zuteilung zu überspielen. Vielmehr verfestigen Emotionen die eingeschriebenen Positionen. Das fällt besonders in der Schlüsselszene auf, die sich (wie in Dogtooth) mit der Frage der verkörperten Natur des Eingeschlossenseins befasst. Dieser verkörperte Einschluss unterstreicht eine langweilige Dystopie, die durch die Banalität extremer Armut gekennzeichnet ist – oder durch Privilegien, die gar nicht beschrieben werden müssen, sondern in der kleinen Geste des Ekels sichtbar gemacht werden können.

Zwar schaffen es die Kims, nicht entdeckt zu werden – jedoch wird im Konflikt mit der zweiten Hausangestelltenfamilie, die sich bereits bei den Parks eingenistet hat, die Unmöglichkeit eines Ausbruchs aus ihrer sozialen Klasse zunehmend deutlich. Der dramatische Höhepunkt des Films, die Szene einer Gartenparty, bei der der Ehemann einer ehemaligen Hausangestellten, der im Bunker der Villa lebt, die Kims gewalttätig attackiert, macht diese Unmöglichkeit eines Aufstiegs besonders augenfällig. Als der namenlose Ehemann der Tochter der Kims ins Herz sticht, verlangt Herr Park – anstatt Hilfe anzubieten oder Entsetzen oder Mitgefühl für die verblutende Tochter zu zeigen, seinen Autoschlüssel. Herr Kim wirft ihm diese zwar zu, sie fallen allerdings unter den mittlerweile sterbenden Bunkerbewohner. Als Herr Park dessen Körper bewegt, um an den Schlüssel zu kommen, würgt er vor Ekel über dessen Geruch und hält sich seine Nase zu (Abbildung 5). Die Armut des Lebens im Bunker hat sich in den Körper eingeschrieben. Im Moment des Angriffs treffen die unterschiedlichen affektiven Atmosphären der Kims und der Parks aufeinander: Während die Kims erschöpft sind von einer Nacht in einer Notunterkunft (die sie nach einer Überflutung in ihrer Souterrain-Wohnung aufsuchen mussten) sowie von zusätzlicher Arbeit, Angst und Schuldgefühlen feiern die Parks ein Kinderfest, in Leichtigkeit und einer Atmosphäre des Vergnügens (Catering), der Belustigung (Streicherensemble) und des Kostümspiels. Die Gleichzeitigkeit der Stimmungen, die sich durch den gesamten Film zieht, verdeutlicht die unterschiedliche soziale Stellung der Familien. Diese Schlüsselszene zeigt, was es bedeutet, das Eingeschlossensein zu akzeptieren – und wie schrecklich und unausweichlich es gleichzeitig ist. In Übereinstimmung mit unserer Analyse von Dogtooth zeigt sich hier, dass das Eingeschlossensein (in Parasite in der sozialen Position; in Dogtooth in patriarchalischer Gewalt) zur langweiligen Dystopie wird, wenn Fluchtversuche scheitern und sich ein unerträglicher Zustand im Alltag normalisiert.

Abb. 5 Herr Park ekelt sich: Eine Gartenparty mit Kostümen für das Kind der Parks zeigt eine entscheidende Sequenz, in der Herr Park seine unmenschlichen Gefühle offenbart. Inmitten des mörderischen Grauens hält er sich die Nase zu, anstatt auch nur einen winzigen Ausdruck von Empathie für die Familie Kim zu zeigen (Parasite 2019: 1:54).
Abb. 5 Herr Park ekelt sich: Eine Gartenparty mit Kostümen für das Kind der Parks zeigt eine entscheidende Sequenz, in der Herr Park seine unmenschlichen Gefühle offenbart. Inmitten des mörderischen Grauens hält er sich die Nase zu, anstatt auch nur einen winzigen Ausdruck von Empathie für die Familie Kim zu zeigen (Parasite 2019: 1:54).

Die Mordszene führt diese unterschiedlichen familiären Stimmungen zu einer einzigen zusammen: dem Horror. Dabei vermittelt der Film, wie diese erneute Verletzung Herrn Kim dazu bringt, Herrn Park selbst zu attackieren. Herr Park kann seinen Ekel nicht mehr verbergen und ist somit auch in seiner sozialen Position gefangen. Diese Einsicht facht die Wut von Herrn Kim noch weiter an. Als Herr Kim Herrn Park schließlich ersticht, bricht das Kartenhaus der Kims zusammen. In der Coda des Films lernen wir, wie sich die Kims in ihrer alten, eingeengten Position wiederfinden. Die Idee, ihrer sozialen Positionen zu entkommen, bleibt ein Mythos.

5. Diskussion und Fazit

Dieser Artikel argumentiert für ein Verständnis des Eingeschlossenseins durch affektive Atmosphären. Er fragt danach, wie das Eingeschlossensein im Alltag als langweilige Dystopie normalisiert, unsichtbar gemacht oder bekämpft wird.

Das Konzept der affektiven Atmosphäre ermöglicht es, Eingrenzungen nicht nur als materiell, verräumlicht (z. B. durch Zäune und Mauern) und sozial konstruiert (etwa durch Diskurse über innere und äußere Welten bzw. über Zentrum und Ränder einer Gesellschaft) zu verstehen, sondern auch über die Interaktionen, Gefühle und Praktiken, die das Eingeschlossensein atmosphärisch und situativ produzieren. In unserer Analyse von Dogtooth und Parasite haben wir Elemente erörtert, die diese Atmosphären des Eingeschlossenseins ausmachen, etwa Körper, Geruch, Emotionen, soziale Positionen und materielle Räume. Zwei Erkenntnisse aus dieser Analyse affektiver Atmosphären heben wir hervor: Zum einen werden Emotionen verinnerlicht, gehen aber über das Individuum hinaus. Zum anderen wird das Erkennen und Ermöglichen von subjektiven Handlungsfähigkeiten sichtbar gemacht.

Wir haben erstens gezeigt, wie Emotionen nicht nur verinnerlicht sind, sondern auch über das Individuum hinausgehen. In der Scham und in dem Ekel, die in den Reaktionen auf die körperlichen Gerüche von Herrn Kim und Herrn Park zum Ausdruck kommen, wird ein Eingeschlossensein erfahrbar, das mit dem Körper verbunden und somit scheinbar unausweichlich ist. Die Verkörperung des Eingeschlossenseins in diesen Figuren wird auch durch Gefühle (wie Freude oder Scham) etabliert. Zudem hat unsere Filmanalyse gezeigt, wie Figuren Eingeschlossensein nicht nur empfinden, sondern auch verinnerlichen. Zum Beispiel geht die Betrachtung der Gewalt in Dogtooth über die disziplinarischen Beziehungen des Vaters zu seinen Kindern hinaus und adressiert auch Formen der Gewalt, die durch die gefühlte (Un-)Möglichkeit eines Ausbruchs entstehen. Demnach ist ein Verständnis der Gefühle, Handlungen und Reaktionen der Protagonist_innen wichtig für eine Analyse des Eingeschlossenseins. Gleichzeitig tragen affektiven Atmosphären auch dazu bei, das Eingeschlossensein und deren Verfestigung über das Individuum hinaus zu betrachten.

Zweitens ermöglichen es diese Elemente zu verstehen, wie affektive Atmosphären emotionale Reaktionen und die Handlungsfähigkeit von Subjekten bestimmen (Anderson 2009). Affektive Atmosphären des Eingeschlossenseins sind porös, also nicht undurchdringlich. Zudem verweilen Menschen auf unterschiedliche Art und Weise in diesen Atmosphären: Ihre Möglichkeiten, diese zu beeinflussen oder von ihnen beeinflusst zu werden, variieren stark (vgl. Tolia-Kelly 2006; Anderson 2006). In Atmosphären des Eingeschlossenseins überlagern sich verschiedene Ordnungsmuster: Beide Filme verweisen auf unterschiedliche soziale Ordnungen (Parasite auf die soziale Position und den Mythos sozialer Mobilität; Dogtooth auf die patriarchalische Ordnung und damit verbundene Ideologien von Familie), die das Eingeschlossensein im Alltag prägen. In affektiven Atmosphären verbinden sich diese Ordnungen mit der Verkörperung von Emotionen wie Wut und Neid. Sie bedingen so die Handlungsfähigkeiten der eingeschlossenen Subjekte. Entsprechend ermöglichen und beschränken sie Handlungen, die die sozialen und räumlichen Grenzen des Einschlusses und die darin etablierten Hierarchien testen und durchsetzen. Zugleich ermöglichen affektive Atmosphären Handlungen mit dem Ziel, die Strukturen des Einschlusses gewaltsam zu durchbrechen. In der Art und Weise, wie sich die namenlose Tochter in Dogtooth gewaltsam ihren eigenen Zahn zieht, aber auch in der kathartischen Freude, die sie dabei empfindet, zeigt sich, wie selbst die langweilige Dystopie mit dem Wunsch nach einem Ausbruch aufgeladen ist.

Ausblick

Eine Erklärung des Eingeschlossenseins über seine affektive Dimension zeigt auf, wie scheinbar unerträgliche Zustände als langweilige Dystopie normalisiert werden. Zum einen lenken wir damit den Blick auf eine Analyse des Alltags. Aufgrund seiner Möglichkeit, mit Absurdität und Überhöhung zu arbeiten, bietet sich fiktionaler, erzählender Film an für Reflexionen über das Alltagsleben. So verdeutlicht zum Beispiel Parasite das Scheitern der Idee sozialer Mobilität durch die visuellen Narrative des dystopischen Alltags – etwa durch die vertraute, ständig im Souterrain hängende trocknende Wäsche, mit der der Film beginnt und zu der er am Ende zurückkehrt. Zum anderen erlaubt es der Fokus auf affektive Atmosphären, Reibungen und (Un-)Möglichkeiten des Handelns, die ungleichen Machtverhältnisse zu entwirren, die diese Normalisierungen entweder bedingen oder destabilisieren. Beziehungen der Nähe sind für diese (De-)Stabilisierungen zentral. Zum Beispiel haben wir gezeigt, wie langweilige Dystopien durch Interaktionen mit dem Unbekannten (etwa mit der durch Christina verkörperten Außenwelt in Dogtooth) unter Druck geraten. Das Aufeinandertreffen in räumlicher Nähe ist aber auch die Grundlage dafür, affektive Atmosphären des Einschlusses überhaupt erst betrachten zu können.

Ein methodologisches Forschungsdesiderat, das sich aus unserer Arbeit ergibt, bezieht sich auf die Frage, wie affektive Atmosphären erkennbar gemacht werden können. Inwiefern stützen sich Methoden zur Untersuchung affektiver Atmosphären vorwiegend auf deren Sichtbarkeit? Wie können Methoden zur Untersuchung der affektiven Atmosphären entwickelt werden (Lorimer 2010; Carter/McCormack 2006), so dass die Wahrnehmung der Zuschauer_innen als Teil der Analyse miteinbezogen wird?

Über diese methodologischen Fragen hinaus ließe sich der hier eingeführte Begriff der langweiligen Dystopie in weiterer Forschung schärfen, etwa durch eine stärkere Differenzierung von Prozessen des Ertragens, Erduldens und Normalisierens. Zudem ließe sich der Begriff jenseits der hier erprobten Anwendung bei der Untersuchung des Eingeschlossenseins für ein besseres Verständnis vielfältiger anderer Krisen nutzen. Durch eine Untersuchung der Art und Weise, in der Krisen in den Alltag eingebettet sind, normalisiert und erduldet werden, ließen sich schließlich die Modalitäten und Grenzen dieser Erduldung untersuchen. Inwiefern ist also der Umhüllungseffekt langweiliger Dystopien allumfassend und was sind Voraussetzungen, damit Personen oder Gruppen aus ihnen auszubrechen können?

Wir haben argumentiert, dass eine Analyse langweiliger Dystopien Gewalterfahrungen des Eingeschlossenseins wieder greifbar machen kann. Auch in Zeiten, in denen der Alltag von ungewöhnlich schrecklichen Ereignissen überlagert zu sein scheint, lohnt es sich daher, langweiligen Dystopien mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Denn trotz und gerade wegen ihrer alltäglichen Unsichtbarkeit bedeutet deren Normalisierung, Unerträgliches zu ertragen.