sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2024, 12(2/3), 127-146

doi.org/10.36900/suburban.v12i2/3.739

zeitschrift-suburban.de

CC BY-SA 4.0

Ersteinreichung: 20. August 2021

Veröffentlichung online: 3. Dezember 2024

Vom Kolonialinstitut zur Universität

Das Gespenst des deutschen Kolonialismus an der Universität Hamburg

Tania Mancheno, Alexa Vaagt

2019 feierte die Universität Hamburg ihr 100-jähriges Jubiläum. Doch wann begann ihre Geschichte wirklich? Das Hamburgische Kolonialinstitut, das von 1908 bis 1919 der wissenschaftlichen Ausbildung von Kolonialbeamten diente, war im heutigen Hauptgebäude der Universität untergebracht. Das Kolonialinstitut war nicht nur der Vorläufer der Universität, sondern markierte auch die Entstehung einer der ersten Institutionen für höhere Bildung in der Hansestadt. Die Jubiläumsfeier spiegelt eine koloniale Amnesie wider, die eine Ausblendung dieses Teils der Universitätsgeschichte ermöglicht. In diesem Beitrag setzen wir uns kritisch mit der verdrängten Geschichte der Bildungsinstitution auseinander, indem wir folgenden Fragen nachgehen: Was bedeutet es für eine wissenschaftliche Institution, aus der deutschen Kolonialgeschichte hervorgegangen zu sein? Wie lässt sich diese Geschichte heute aus einer dekolonial- feministischen Perspektive rekonstruieren? Wir versuchen mit dem Beitrag in die offizielle Erinnerungskultur und -politik der Universität und in ihren amnestischen Umgang mit ihrem kolonialen Erbe zu intervenieren.

An English abstract can be found at the end of the document.

1. Einleitung[1]

Das heute prägnante Hauptgebäude der Universität Hamburg am Dammtor, das die ornamentale Inschrift „Der Forschung. Der Lehre. Der Bildung“ trägt, wurde 1911 fertiggestellt (Möhle 1999: 102). Der Bau des Gebäudes hatte 1908 begonnen. Es wurde allerdings nicht für die Universität konzipiert, sondern für das Hamburgische Kolonialinstitut, das sich dort bis 1919 befand. In jenem Jahr wurde das Institut durch eine parlamentarische Abstimmung aufgelöst und die erste Universität der Hansestadt gegründet.[2] Viele Mitarbeiter[3] des Kolonialinstituts behielten ihre Posten. Der Lehrplan wurde zwar erweitert, die koloniale Ausrichtung jedoch nicht grundsätzlich verändert.[4] Obwohl es sich bei genauer Analyse um einen Akt der Umbenennung handelt, feierte die Universität Hamburg 100 Jahre später, im Mai 2019, das Jubiläum ihrer Gründung.

In diesem Beitrag diskutieren wir diesen reibungslosen Übergang vom Kolonialinstitut zur Universität und decken die Kontinuitäten kolonialer Gewalt in der offiziellen Erinnerungskultur auf. Da die Universität Hamburg die institutionelle Vorgeschichte bei ihrer Jubiläumsfeier ausblendete, können wir einen amnestischen Umgang mit dem kolonialen Erbe identifizieren, in den dieser Beitrag intervenieren möchte. Wir argumentieren, dass die Motivation, die moderne Universität Hamburg von ihrer Kolonialgeschichte entkoppeln zu wollen, in eine politische Sackgasse führt, in der sich die Universität als (post-)kolonialer Erinnerungsort verfestigt. Dies wiederum verunmöglicht die Anerkennung von institutionellem Rassismus.

Mittels einer skizzenhaften Rekonstruktion der Erinnerungs­landschaften und der color line (Du Bois 2007 [1903]) auf dem Campus thematisieren wir die Verflechtungen zwischen Wissenschaft, Kolonialismus, Antisemitismus und den heutigen Rassismuserfahrungen an der Universität. Zuerst kontextualisieren wir die Entstehung der Universität in einer postnationalen und intersektionalen Perspektive. Dabei wenden wir Prämissen des afrozentriert-diasporischen Denkens an. Wir orientieren unsere Recherche an den Arbeiten der Schwarzen Historikerin Fatima El-Tayeb (2015) sowie der nicht-weißen Feministin Françoise Vergès (2018; 2020). Anhand ausgesuchter Erinnerungsorte problematisieren beide Autorinnen die Koexistenz einer kolonialen Amnesie und einer nationalen Erinnerungskultur in Deutschland beziehungsweise Frankreich. Ihre Perspektiven zur europäischen und urbanen Kolonialgeschichte erlauben es, jene Erinnerungslandschaften zu kartieren, die traditionell kaschiert werden. Zudem beziehen wir uns auf Encarnación Gutiérrez-Rodríguez (et al. 2016; 2014) und María do Mar Castro Varela (2017), die aus einer feministischen Perspektive kolonial geprägte Strukturen in der deutschen Gesellschaft identifizieren.

In einem zweiten Schritt diskutieren wir Ereignisse, die prozesshafte Bestandteile der (post-)kolonialen Geschichte der Universität Hamburg sind. Dabei geht es einerseits um die neoliberalen Wettbewerbsstrategien der letzten Jahre mit dem Ziel einer sogenannten Internationalisierung der Hochschule, die anderseits mit einer tradierten Indifferenz gegenüber den Diskriminierungserfahrungen Schwarzer Menschen und People of Color auf dem Campus koexistiert. Wir diskutieren, wie die internationale Öffnung der Universität mit der Gleichgültigkeit und der der systemischen Unsichtbarkeit von Reinigungsarbeit (Vergès 2020) und einer rassifizierten Arbeitsteilung einhergeht.

Anschließend definieren wir die Universität um in einen dekolonialen Ort, indem wir Erinnerungsformen vorstellen, die es erlauben, die Erfahrungen rassifizierter Menschen zu zentrieren. Der Beitrag schließt mit Antworten auf die Frage, wie die koloniale Geschichte durch eine dekoloniale Wissensproduktion vermittelt werden könnte.

2. Feministische Erinnerungslandschaften

Obwohl die Universität als Bildungseinrichtung es anstrebt, universelles Wissen zu vermitteln, grenzt sie dennoch aus. Emily Ngubia Kessé beschreibt die Universität als „Ort, der eine maßgebliche Rolle dabei eingenommen hat, eine weiße Weltanschauung als die zentrale Perspektive auf Lebensrealitäten und Erfahrungen zu etablieren” (zitiert nach Gutiérrez-Rodríguez et al. 2016: 164). Auch Castro Varela (2017: 3 f.) versteht Bildungseinrichtungen als Ort, an dem Menschen sich daran gewöhnen, „den vorgesehenen Platz innerhalb der Gesellschaft als den wahren und mithin allein richtigen Platz wahrzunehmen und schließlich auch einzunehmen“.[5] Als bedeutungstragende und bedeutungsproduzierende Institution ist die Universität ein Ort gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion. Darüber hinaus ist ihre Geschichte mit globalen und transnationalen Machthierarchien verbunden.

Die fehlende kritische Erinnerungskultur ist ein frappierendes Beispiel für die koloniale Amnesie der Universität. Deren koloniale Geschichte ließe sich leicht anhand biografischer und historischer Elemente rekon­struieren. Doch die künstliche Entkopplung von der Kolonialgeschichte in heutigen Erinnerungsformen ist nicht nur auf die Universität beschränkt.

Der Historiker Jürgen Zimmerer (2013: 13) argumentiert, dass sich die koloniale Amnesie der deutschen Gesellschaft – vor allem bezüglich des ersten Genozides im 20. Jahrhundert im heutigen Namibia – in der Indifferenz gegenüber der Verantwortung für die Reparationen gegenüber den Nachkommen der Herero- und Nama-Communitys erkennen lässt (ebd.: 19).[6] Eine nicht aufgearbeitete Kolonialgeschichte nährt einen strukturellen und einen internalisierten Rassismus, der als individuelle oder gesellschaftliche Strategie versucht, die vermeintlich positiven Aspekte des deutschen Kolonialismus hervorzuheben.

Zimmerer zeigt, inwiefern (post-)koloniale Erinnerungsorte der gesellschaftlichen Indifferenz gegenüber dem Kolonialismus, aber auch seiner Verharmlosung oder sogar Romantisierung entgegenwirken (ebd.: 22). Die Markierung (post-)kolonialer Erinnerungsorte in urbanen Landschaften erlaubt es, so Zimmerer, die „nationalen Identitätsbildungs- und innereuropäischen Abgrenzungsstrategien durch gemeinsame europäische auf Abgrenzung von der nichteuropäischen Welt bedachte Konstruktionen [zu] ergänzen“ (ebd.: 17). Die Erweiterung der Erinnerungsfähigkeit ermöglicht es, den Kolonialismus als europäisches Projekt zu erforschen. Zudem kann die Bedeutung der deutschen Kolonien für die Kolonialmetropole in den Erinnerungslandschaften heutiger Städte aufgezeigt werden.

Fatima El-Tayeb (2015) erweitert Zimmerers Perspektive der ausgrenzenden Mechanismen zwischen „Eigenen“ und „Anderen“ (Zimmerer 2013: 13) durch die „Dimensionen von Diaspora” (El-Tayeb 2015: 130). Sie beschreibt diasporische Erinnerungslandschaften, die aus einem dialogischen Modell der Identität entspringen. Dabei bezieht sie sich auf Michelle Wrights (2004: 12) Diasporabegriff als „a dialogic formation in which many subjectivities exist that cannot be organized into thetical and antithetical categories”. Wrights Diasporabegriff verbindet analytisch die Erfahrungen rassifizierter Menschen im Globalen Süden und im Globalen Norden miteinander, indem er einen Zugang zu einer afrozentrierten Geschichtsschreibung eröffnet. Dies ergänzt und verkompliziert die politische Geographie, die postkolonialen Erinnerungsorten zugrunde liegt und die zwischen einer kolonialen und einer kolonisierten Welt unterscheidet.

Nach El-Tayeb (2015: 134) lenkt der women of color feminism die Aufmerksamkeit auf globale intersektionale Machtstrukturen. Dadurch wird die Entstehung einer transnationalen Identität lokalisierbar. Diese bildet sich jenseits der Homogenität der imaginierten nationalen Identität (Anderson 1988). Sie entsteht stattdessen um diasporische Intersubjektivität herum.

Indem El-Tayeb den Begriff der Diaspora in die normative Ordnung von Erinnerungslandschaften und -politiken integriert, eröffnet sie eine transnationale Perspektive auf postkoloniale Erinnerungsorte, die auf eine kritische Rekonstruktion der Institutionsgeschichte der Universität Hamburg angewendet werden kann. Die Bildung von Zugehörigkeit und Wissenschaft jenseits des Universalismus der Uni-versität nehmen wir in den folgenden Abschnitten in den Blick, um erstens den institutionalisierten Rassismus an der Universität durch die color line auf dem Campus zu veranschaulichen und ihm zweitens durch eine dekoloniale Auseinandersetzung mit ihrer räumlichen Geschichte – also durch eine kritische Kartierung – entgegenzuwirken.

Geleitet von Vergès’ Annahme, dass die koloniale Amnesie eine „Politik der Vergesslichkeit” (2018) voraussetzt, beschreiben wir Ereignisse an der Universität sowie Strukturen, die zeigen, dass sowohl die Lebenserfahrungen als auch das Wissen von Schwarzen und nicht-weißen Menschen systematisch entwertet und für unwissenschaftlich, überflüssig oder nutzlos verklärt werden (ebd.). Dabei gehen wir auch auf das zum Zeitpunkt des (­­­­­­­­­­­­­aus der Kolonialgeschichte entkoppelten) 50. Jubiläum der Universität veröffentlichte Sammelband Das permanente Kolonialinstitut (ASTA 1969) ein. Das vom damaligen Allgemeinen Studentenausschuss (ASTA) der Universität herausgegebene Buch formuliert in sieben Beiträgen eine Kritik an der Datierung der Feierlichkeiten und deckt sowohl kolonial-patriarchale als auch imperialistische Kontinuitäten in der Universitätsgeschichte auf. Wir erweitern diese Machtkritik, indem wir auf die Intersektionalität eingehen, die entscheidend ist, um die Universität Hamburg als postkolonialen und neokolonialen Ort zu markieren und zu begreifen.

3. Verflochtene Erinnerungslandschaften

In den urbanen Landschaften der Kolonial- und Hafenmetropole Hamburg lassen sich zahlreiche Beispiele für postkoloniale Erinnerungsorte identifizieren, die von den Auswirkungen des deutschen und des europäischen Kolonialismus erzählen. Exemplarisch dafür ist das Vorlesungsgebäude des Kolonialinstituts in der Nähe des Bahnhofs Dammtor, das 1911 fertiggestellt wurde (Ruppenthal 2013: 262, 267). Den Bau finanzierte unter anderem der Hamburger Kaufmann Edmund Siemers. Seinen Reichtum erwarb Siemers mit seinem Unternehmen in der extraktivistischen Ölindustrie (Die Welt 1948), das später Teil von ExxonMobil wurde. Heute heißt die Straße, an der das zum Hauptgebäude der Universität Hamburg umfunktionierte Gebäude liegt, Edmund-Siemers-Allee.

Ende der 1990er Jahre wurde das Hauptgebäude der Universität Hamburg durch den Bau eines Ost- und eines Westflügels ergänzt. Im Stadtbild ergibt dies folgende Ordnung: Das Afrika-Asien-Institut der Universität liegt auf der Ost- und das Institut für Ethnologie auf der Westseite des Hauptgebäudes. Beide genannten Institute dienen sozusagen als Wissensflügel des ehemaligen Kolonialinstituts.

Hinter dem Westflügel des Hauptgebäudes befindet sich heute der Platz der Jüdischen Deportierten. Zur Präsenz jüdischen Lebens mitten im einstigen jüdischen Viertel Hamburgs gehört auch die in unmittelbarer Nähe zum Campus liegende jüdische Schule (mit Polizeischutz). Auf dem heutigen Joseph-Carlebach-Platz neben der Schule befand sich bis 1938 die größte Synagoge der Stadt.[7] Die große Anzahl an Stolpersteinen, die im Univiertel verlegt wurden, zeigt die Verflechtungen zwischen Universitätsgeschichte, jüdischer Geschichte und der Vernichtungs­politik der Nationalsozialist_innen im 20. Jahrhundert. Bereits bei der Finanzierung des Kolonialinstituts gab es Verflechtungen zwischen Kolonialismus und Antisemitismus.

Unweit des Campus erinnert ein Straßenname an den Hamburger Alfred Beit, dessen Eltern vom Judentum ins Christentum konvertierten, um den Antisemitismus zu entkommen (Albrecht 2011: 16). 1906 spendete Beit zwei Millionen Mark für die Finanzierung der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung (HWS), aus der das Kolonialinstitut hervorging (Albrecht 2011: 199 f.). Beits Name steht zwar neben dem von Edmund Siemers auf den Gedenktafeln für die Förderer des Kolonialinstitutes im Hauptgebäude der Universität. Allerdings wurde er zur Zeit seiner Spende in der hamburgischen Presse mit antisemitischen Karikaturen beleidigt (Albrecht 2011: 121). Seinen Reichtum verdankt Beit der Diamantenindustrie in Südafrika (Zimmerer 2019), in der er Geschäftspartner des britischen Kolonialagenten Cecil Rhodes war.

Beit ging zusammen mit Werner von Melle zur Schule (ebd.: 20), dem ehemaligen Senator und Leiter der Hamburger Oberschulbehörde. An von Melle erinnern Straßen- und Gebäudenamen auf dem Campus, da dieser als Impulsgeber für die Gründung der ersten Hochschule der Stadt gilt. Weniger bekannt ist, dass von Melle ein Kolonialenthusiast war und maßgeblich zur Gründung des Hamburgischen Kolonialinstituts beitrug (Ruppenthal 2013: 259).

Siemers und von Melle prägen noch heute die Orientierung auf dem Campus. Ihre Würdigung im Univiertel blendet die Verflechtungen zwischen extraktivistischem Kolonialismus und Antisemitismus in der Geschichte der Universität aus, da die romantisierte offizielle Erinnerungskultur in Form von Straßennamen, Gebäude- und Platzbenennungen sowohl die Geschichte des Kolonialinstituts als auch dessen wissenschaftliche Ausrichtung verdeckt.

4. Die Universität als (post-)kolonialer Erinnerungsort

Aufgrund der inhaltlichen, räumlichen und biografischen Kontinuitäten zwischen dem Kolonialinstitut und der Universität Hamburg kommen die Historiker Jens Ruppenthal (2013) und Rainer Nicolaysen (2021) zu dem Schluss, dass es sich bei dem Hauptgebäude um einen (post-)kolonialen Erinnerungsort handelt. Die administrative und räumliche Verbindung von Kolonialismus und Wissenschaft, die im Hauptgebäude der Universität Hamburg zustande kam, steht exemplarisch für die gegenseitige Bedingung von Modernität und Kolonialität in der postkolonialen Stadt.

Die Geschichte der Universität Hamburg zeigt nicht nur Verflechtungen zwischen deutscher Kolonialgeschichte und Metropolengeschichte. Indem es sich für die kolonialwissenschaftliche Grundlagenforschung und die Ausbildung von Kolonialbeamten verantwortlich erklärte, trug das Kolonialinstitut auch zur Identitätsbildung bei. Als Ort der Wissensproduktion steht es sowohl für die deutsche Kolonialgeschichte als auch für die Tatsache, dass die Wissenschaft im Dienst des Kolonialismus stand und dieser „als eine Technik wie jede andere“ verstanden wurde (Dernburg, zitiert nach Ruppenthal 2013: 260). Zum Lehrplan des Kolonialinstituts gehörten „Landeskunde der deutschen Kolonien“, „Eingeborenenrecht“ und Sprachkurse in der Kolonialsprache Kisuaheli (Möhle 1999: 102). Als Zentrum für angewandte Forschung und Lehre konzipiert (ebd.), bot das Kolonialinstitut einen diskursiven und ideologischen Überbau, der die systematische Ausbeutung Schwarzer und nicht-weißer Menschen in den deutschen Kolonien und darüber hinaus rechtfertigte (Zimmerer 2019). Das Ziel, Kolonialbeamte auszubilden, scheiterte teilweise, vor allem da andere Bildungseinrichtungen das Hochschulstudium nicht anerkannten (ebd.). Allerdings trug die 1919 gegründete Universität die „übersee- und kolonialkundliche Ausrichtung in Fortsetzung der Tradition des Kolonialinstituts” (Micheler/Michelsen 1994: 13) weiter. Zu diesem Zeitpunkt wurden auch neue Institute für „Auslandsdeutschtum“, „deutsches Siedlungswesen“, „Kolonialgeschichte“ und „Kolonialpolitik“ gegründet (Möhle 1999: 104).

Ruppenthal und Nicolaysen setzten sich außerdem mit der Uni­versitätsgeschichte während des Nationalsozialismus auseinander. Sie berichten, dass die kolonialwissenschaftliche Ausrichtung zwischen 1938 und 1945 vertieft und unter dem Dach der Universität sogar erneut ein „Kolonial-Institut“ gegründet wurde (Ruppenthal 2013: 266; Nicolaysen 2021: 178). Die Autoren behandeln jedoch in ihren historischen Rekonstruktionen die Intersektionen zwischen Kolonialismus und Antisemitismus nicht.

Anders verhält sich die studentische Kritik an der Universitätsgeschichte, die in Das permanente Kolonialinstitut (ASTA 1969) formuliert wurde. In der Kritik an der 50-jährigen Jubiläumsfeier der Universität setzen sich die Autor_innen mit der fehlenden Entnazifizierung der Universität auseinander. Sie weisen nach, dass nach 1945 lediglich eine Rückkehr zum Hochschulgesetz von 1921 stattfand, womit die rechtlichen Bestimmungen auch 26 Jahre nach Gründung der Universität an deren ursprünglicher kolonialer Ausrichtung festhielten (ebd.: 31). Zudem diskutiert der Band Professoren mit einer nationalsozialistischen Kollaborationsgeschichte wie Peter R. Hofstätter[8], der trotz seiner antisemitischen und rassistischen Theorien bis in die 1960er Jahre weiter lehren durfte und sogar Direktor des Psychologischen Instituts der Universität Hamburg blieb (ebd.: 119-138).[9]

In Das permanente Kolonialinstitut stellt der damalige ASTA auch den Einfluss der Hamburger Kapital- und Industriegesellschaft dar, indem die Verquickungen von Rüstungsindustrie, Universitätsfinanzierung und Forschung aufgezeigt werden. In den 1950er Jahren trug die Rüstungsindustrie beispielsweise zur Militarisierung der Meeresforschung bei (ebd.: 71, 81-85). Auch Beispiele neokolonialer Wirtschaftsverbände, in denen Universitätsprofessoren aktiv waren, die sich 1964 unter dem Dach des „Übersee-Instituts“ zusammenschlossen (ebd.: 65, 78), werden ausführlich behandelt. Außerdem zeigt die Publikation, dass weiße Männer aus lokalen Reedereifamilien nicht selten eine Honorarprofessur an der Universität erhielten (ebd.: 75 f.).

Das permanente Kolonialinstitut zeigt die Ergänzungslogik zwischen Kolonialismus, Nationalsozialismus und Postkolonialismus und entlarvt die Entwicklungspolitik der Bundesrepublik auf dem afrikanischen Kontinent als „Neokolonialismus“ (ebd.: 36 f.). Die studentische Kritik an der selektiven Erinnerungskultur der Universität sowie an ihren rechtsnationalistischen und militaristischen Strukturen wurde nicht nur schriftlich ausgetragen. Die Kritik schlug sich auch in Protesten und Interventionen nieder, die sich gegen jene Männlichkeiten richteten, die durch Denkmäler, Büsten und Platzbenennungen auf dem Campus geehrt und gewürdigt wurden. 1968, ein Jahr vor der Veröffentlichung von Das permanente Kolonialinstitut, hatten Studierende erfolgreich zwei Statuen deutscher Kolonialoffiziere gestürzt. Diese Denkmäler waren ursprünglich für die deutschen Kolonien gebaut und mehr als 50 Jahre vor dem Sturz nach Hamburg gebracht worden. Sie wurden der Universität von privaten Förderern gespendet. Zum einen handelt es sich um eine überdimensionale Statue von Hermann von Wissmann, die für die Stadt Dar es Salaam gebaut wurde – die Hafenstadt im heutigen Tansania – und zum anderen um eine Statue von Hans Dominik, die für Yaoundé - die Hauptstadt Kameruns - vorgesehen war. In Uniform und neben dem Hauptgebäude stehend, waren beide Kolonialagenten in ihren Leben für ihre Brutalität gegen Afrikaner_innen bekannt. Der Band beschrieb die Statuen nicht nur zutreffend als „eine Provokation“ „[i]nsbesondere für die Kommilitonen aus den betroffenen Ländern“, sondern auch als „eine tägliche, zynische Beleidigung unserer afrikanischen Kommilitonen“ (ASTA 1969: 39). Im Rahmen der weltweiten studentischen Proteste der 1968er Jahre diente der Sturz dieser Denkmäler als performative Ergänzung zum Sammelband.

Darüber hinaus dokumentiert der ASTA-Band eine politische Aktion der „Vereinigung Arabische Studenten“ am Campus, die sich mit der Unabhängigkeit Algeriens solidarisierte (ebd.: 214 f.) und erwähnt die Präsenz ostafrikanischer (ebd.: 11), algerischer, „afro-asiatischer” (ebd.: 213) und anderer „ausländischer Studierender“ an der Universität. Allerdings berichtet er nicht von einer Kooperation mit diesen Gruppierungen zur Aufarbeitung der Kolonialgeschichte der Universität.[10] Daraus ergibt sich eine partielle Entpolitisierung dieser Geschichte, die sich während der Jubiläumsfeier 1969 vollzog. Sowohl die offizielle Erinnerungskultur der Universität als auch die linke Kritik, die Das permanente Kolonialinstitut artikuliert, exkludieren Rassismus aus der jeweiligen erinnerungskulturellen und -politischen Rekonstruktion der Universitätsgeschichte. Die Kritik des damaligen ASTA wagt nicht, die Kontinuitäten unterschiedlicher Formen der Gewalt zu beschreiben und zu analysieren. Mit anderen Worten: Es sind gerade jene Stimmen, die in erster Person von den generationsübergreifenden Kontinuitäten der Gewaltformen der Entmenschlichung berichten könnten, die sowohl aus der Institutionsgeschichte als auch aus der Kritik daran verbannt wurden. Obwohl Das permanente Kolonialinstitut feststellte, dass afrikanischen Studierenden „im Gegensatz zu den übrigen Studenten”, die Bedeutung der Kolonialdenkmälern sehr genau kannten (ebd.: 215), blieb die Frage des internalisierten Rassismus in der kollektiven und kritischen Rekonstruktion der Universitätsgeschichte unthematisiert. So kann der Dokumentarfilm Landfriedensbruch – Protokoll einer Denkmalsentweihung des Zeitzeugen Theo Gallehr (1967) ausschließlich weiß-männliche Körper dokumentieren, die Seifenblasen pusten, Baskenmützen tragen und mit Seilen versuchen, das Denkmal vom Sockel zu stürzen.

Mehr als 50 Jahre nach Erscheinen von Das permanente Kolonial­institut versucht dieser Beitrag nicht, eine Aufzählung der Gewaltformen in der Geschichte der Institution zu präsentieren. Eine solche addierende Liste von Gewaltausdrücken kann nie vollendet werden (Yuval-Davis 2006). Vielmehr geht es um die fehlende Intersektionalität in der Kritik, wodurch die Erfahrungen Schwarzer Menschen ausgrenzt werden.[11] Diese Ignoranz ist kein Versehen, sondern das Ergebnis der kolonialen Amnesie. Diese problematische Haltung der Indifferenz und des Vergessens gegenüber der anhaltenden Gewalt des Rassismus macht die Betroffenen unsichtbar.

Die fehlende offizielle Selbstkritik der Universität und des weißen, linken ASTA anlässlich des Jubiläums 1969 ist ein Zeugnis davon, dass Weiß-Sein und der dazugehörige Kolonialblick als Norm(-alität) galten und immer noch gelten: In diesem Kontext ist es nicht verwunderlich, dass Schwarze Studierende 2015 die „Afrikanische Studierende Organisation in Hamburg e. V.“ (AStO o. J.) gründeten.

5. Internationalisierungsstrategien und die campus color line

Im Jahr ihres 100-jährigen Jubiläums wurde die Universität Hamburg zeitgleich zur „Exzellenzuniversität“ gekürt. Dieser zur Steigerung neoliberaler Wettbewerbsfähigkeit dienende Prozess sieht mitunter die Anwerbung internationaler Wissenschaftler_innen vor (Universität Hamburg o. J.).

Während die Universität damit wirbt, ihre globale wissenschaftliche Ausrichtung und Vernetzung auszubauen, werden strukturelle Hürden für internationale Studierende und Wissenschaftler_innen – insbesondere aus sogenannten Drittländern – bei ihrem Einstieg ins deutsche Wissenschaftssystem nicht thematisiert. Vielmehr suggeriert die im Rahmen der Exzellenzstrategie ausgebaute „Rhetorik von Diversity und Internationalisierung […] dass eine ‚liberale‘ und ‚zivilisierte‘ Institution“ (Kessé, zitiert nach Gutiérrez-Rodríguez et al. 2016: 165) gar nicht in der Lage sei, Rassismus zu reproduzieren. Doch die Internationalisierung der Universität ist von Exklusionslogiken begleitet, die zum Beispiel Migrationspolitiken widerspiegeln, und die nach Gutiérrez-Rodríguez (ebd.: 174) auch die Kategorie der Klasse umfassen. Die akademische Eingliederung hängt oft von finanziellen und kulturellen Aufstiegsmöglichkeiten sowie von der Genehmigung eines Schengenvisums ab. Vielen Geflüchteten oder undokumentierten Migrant_innen, die bereits in Deutschland leben, bleibt der Zugang zu höherer Bildung an der internationalisierten Hochschule verwehrt. 

Gutiérrez-Rodríguez (ebd.: 174 f.) erwähnt zudem Kontrolltechnologien der Migrationsüberwachung, die internationale Wissenschaftler_innen, Studierende und andere an der Universität Beschäftigte vermittelt bekommen – auch in Form von Alltagsrassismus.

In einem Gespräch zu Rassismus, Klassenverhältnissen und Ge­schlecht an deutschen Hochschulen zeigt der Kulturtheoretiker Kien Nghi Ha einen Zusammenhang zwischen der fehlenden Auf­arbeitung struktureller Unterdrückung und der Entwicklung von Internationalisierungsstrategien auf:

„Anstatt die vielfältigen Bezüge zwischen Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis und der Universität als sozialem Arbeits- und Lernort zu thematisieren, wird mit einer glattpolierten Imagepolitik eigennützig für das eigene Renommee im internationalen Wettbewerb um wissenschaftliche ‚Exzellenz‘ geworben.“

(in Gutiérrez-Rodríguez et al. 2016: 163)

Die Internationalisierungs- und Diversifizierungsstrategien lösen die kolonialen Kontinuitäten der Universität nicht auf, im Gegenteil: Sie verschleiern strukturelle Ausgrenzungsmechanismen, vor allem in Fällen, in denen multiple Diskriminierungsformen miteinander interagieren. So wird auch hier eine „Politik der Vergesslichkeit“ fortgeführt, die bestimmte Subjekte aus dem Bild der internationalen Universität ausschließt. Die auf Klasse, Herkunft und race basierte Ordnung befestigt eine rassifizierende Trennung auf dem Campus, die auch campus color line (Cole 2020) genannt wird. Diese offenbart sich anhand von Policing-Strategien auf dem Universitätsgelände, wie zwei frappierenden Ereignissen 2019 zeigten:

Einerseits fand 2019 parallel zum Universitätsjubiläum auf dem Campus der Einsatz privater Sicherheitsdienste statt, um die Rückkehr von Bernd Lucke, eines Mitbegründers der neofaschistischen Partei Alternative für Deutschland (AfD), an seinen Lehrstuhl zu sichern. Der Zugang zu Luckes Vorlesung sah eine Kontrolle der Personalausweise der Studierenden vor. Es wurden checkpoints eingerichtet, um den Professor vor den gewaltlosen Protesten Studierender oder der aktivistischen Gruppe „Omas gegen Rechts“ zu schützen.[12] Den Vorlesungssaal im Hauptgebäude verließ Lucke unter eigens für ihn bereitgestelltem Polizeischutz.

Der Einsatz von privatem Sicherheitspersonal kostete anderseits einige Monate zuvor William Tonou-Mbobda, einem BWL-Studenten an der Universität Hamburg, das Leben. Er verstarb im April 2019 an den Folgen eines rassistischen Übergriffs durch Sicherheitspersonal auf dem Gelände des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE), wo er sich freiwillig auf der psychiatrischen Station aufhielt.[13] Augenzeugen zufolge sollte Tonou-Mbobda gegen seinen Willen medikalisiert werden und wurde von drei Sicherheitskräften gewaltvoll zu Boden gedrückt. Wenige Tage später verstarb er auf dem Gelände des Klinikums der Universität (Thompson 2021: 62). Tonou-Mbobda kam aus Kamerun, einem ehemaligen Schutzgebiet Deutschlands.

Die Schwarze Community in Hamburg stand Tonou-Mbobda bei und setzte sich sofort für eine Aufklärung der Tat ein. Nachdem das UKE selbst die Obduktion durchgeführt hatte,[14] bestritt die Staatsanwaltschaft die Verantwortung des UKE für seinen Tod durch das Sicherheitspersonal. 2020 wurden die Ermittlungen eingestellt.

Seitdem gedenkt die Schwarze Community Tonou-Mbobda mit einer jährlichen Kundgebung vor dem UKE. Diese spannt einen diasporischen Bogen Schwarzen Widerstands gegen rassistische Brutalität zwischen Hamburg, Deutschland und der Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA. Ebenfalls waren und sind diasporische Verbindungen zum Globalen Süden zentral, um Tonou-Mbobda nicht allzu schnell zu vergessen. Denn eine dekoloniale Erinnerungskultur benötigt solche transkontinentalen Netzwerke.

Diese Ereignisse zeigen zwei unterschiedliche Modi einer rassifizierten Sicherheit auf dem Campus. Als Schauplatz von Polizeikontrollen bleibt die Universität ein Ort, an dem folgende Fragen gestellt werden müssen: Für wen werden Sicherheitsmaßnahmen getroffen und wer wird von genau solchen diskriminiert und bedroht? Wer wird an der Universität geschützt und wer muss Angst vor dem Sicherheitspersonal haben? Die Asymmetrie der Ereignisse, gar Verbrechen in der jüngeren Universitätsgeschichte addieren sich wie eine neue Schicht zu einer unaufgearbeiteten Kolonialgeschichte der Universität, die aus der Jubiläumsfeier verbannt wird.

6. Die postkolonialen Kontinuitäten des Kolonialinstituts: Wer putzt die Uni?

Die kapitalistischen und rassifizierenden Logiken, die als Grundlage für die Entwertung feminisierter (Reproduktions-)Arbeit dienen, tragen gleichzeitig zur Befestigung der campus color line bei. Für Vergès (2020: 123) steht im Zentrum eines dekolonialen Feminismus die Frage: Wer macht die Welt sauber? Denn Reinigungsarbeit wird meist von rassifizierten oder migrantischen Frauen verrichtet (ebd.: 13). Diese Arbeit ist eine unabdingbare Voraussetzung für den Betrieb von Institutionen wie einer Universität. Für diejenigen, die täglich in gereinigten Räumen arbeiten, lehren und lernen dürfen, wird die unverzichtbare Arbeit jedoch nicht als Teil des Universitätskörpers wahrgenommen.[15]

Die color line oder die Trennlinie zwischen akademischer Arbeit und Reproduktionstätigkeiten wird erneut sichtbar anhand der Prekarisierung Letzterer: Die für die Institution notwendige Reinigungsarbeit wird aus ökonomischen Gründen an externe Unternehmen outgesourct (Bose 2018: 300). Aufgrund der institutionellen Verantwortungsabgabe gibt es keine Möglichkeit für Reinigungskräfte, sich an Tarifverhandlungen zu beteiligen (ebd.: 305). So können Debatten über prekäre Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft von der Frage „Wer putzt die Uni?“ entkoppelt werden.

Putzende Menschen sind systematisch giftigen Stoffen ausgesetzt und meistens prekär angestellt. Zur Gefährdung ihrer Gesundheit kommt eine Hyperausbeutung der Arbeiter_innen hinzu, die Vergès als „Ökonomie der Erschöpfung“ (2020: 116) zusammenfasst. Auf der Grundlage erschöpfter rassifizierter und sehr häufig feminisierter Körper kann das Funktionieren staatlicher Institutionen wie der Universität gewährleistet werden. Auf diese Weise tragen die Universitäten zur Herausbildung einer Klasse bei, die getrennt rassifizierte und feminisierte Tätigkeiten verrichtet, obwohl diese für die akademische Arbeit grundlegend sind. Mehr noch: Die Klasse der putzenden Menschen ist für die akademische Klasse unsichtbar (ebd.: 14). Die Abspaltung der Reinigungsarbeit vom Hochschulbetrieb wird dadurch gewährleistet, dass sie meist zu Randzeiten stattfindet (ebd.: 116 f.).

Vergès (ebd.: 122 f.) konstatiert zusätzlich eine Kausalität zwischen der Unsichtbarkeit feminisierter Arbeitsformen und deren sozialer Missachtung als wertlose Tätigkeiten. Diejenigen, die diese systematisch abgewertete Arbeit verrichten, werden diesbezüglich sozial markiert (Bose 2018: 302). Das bedeutet, dass in der Intersektion von gegenderter, klassenspezifischer und rassifizierter Ausgrenzung die putzende Arbeit für minderwertig erklärt wird, wodurch eine „Kolonialität der Arbeit“ (Gutiérrez-Rodríguez 2014) aufrechterhalten bliebt. Diese äußert sich in subtilen und alltäglichen Machtbotschaften, die zu einer „Normalisierung der vermeintlichen Natürlichkeit hierarchischer Positionierungen und Ordnungen“ (Auma [Eggers] 2020: 56) führen. Solche gewaltvollen Arbeitsbedingungen werfen Fragen zur Aufrechterhaltung von Menschenrechten auf, die gerade Universitäten vertreten. Gutiérrez-Rodríguez, die von 2000 bis 2005 wissenschaftliche Assistentin am Institut für Soziologie der Universität Hamburg war, greift genau diese Thematik auf, wenn sie sagt:

„Ich erinnere mich [...], als in einer Berufungskommission ein professorales Mitglied meinte: ‚Wir werden doch nicht mit dem Servicepersonal am gleichen Tisch sitzen.’ Diese Bemerkung war zwar nicht an mich gerichtet. Doch mir wurde sofort bewusst, dass die Frage, mit wem Mensch am Tisch sitzt, eine Frage ist, die für Menschen, die ihre Privatsphäre mittels sozialer Distinktion organisieren und faktisch von anderen Menschen bedient werden, von Gehalt ist.“

(Gutiérrez-Rodríguez in Gutiérrez-Rodríguez et al. 2016: 172)

Gutiérrez-Rodríguez zufolge setzt der Erhalt der eigenen akademischen Stellung die Abwertung anderer, nicht-akademischer Klassen voraus. In dieser Differenzkonstruktion werden die Privilegien und die Ausbeutung nicht hinterfragt, die unterschiedlich auf an der Universität arbeitende Körper verteilt sind. Migrationspolitiken vertiefen die ungleiche Verteilung von Arbeitsformen, da sie in einer „nationale[n], rassifizierende[n] Matrix“ (Gutiérrez-Rodríguez et al. 2016: 174) operieren. Vor dem Hintergrund derartiger migrations- und bildungspolitischen Beschränkungen sollte die Frage nach den Subjekten, die solche als unqualifiziert beschriebenen Arbeitsformen verrichten, auch in einen Kontext gestellt werden, der die oft langwierigen und nicht selten erfolglosen Anerkennungsprozesse von ausländischen Bildungsabschlüssen berücksichtigt (Bose 2018: 305).

Die Politik der Vergesslichkeit gegenüber den Folgen des Kolonialismus in Form einer rassistischen und gegenderten Arbeitsteilung wird aufrechterhalten, indem die rassifizierte Arbeitskraft, die das Universitätsleben ermöglicht, ebenfalls ignoriert, geleugnet oder vergessen wird. In diesem Zusammenhang wird die Trennung zwischen körperlicher Arbeit und akademischer Arbeit vertieft.

7. Die Universität Hamburg als dekolonialer Erinnerungsort

Die Kontinuitäten, die vom Hamburgischen Kolonialinstitut bis zur Universität reichen, zeigen Kreuzungen zwischen Kolonialismus, Antisemitismus und Nationalsozialismus auf, welche die Univer­sitätsgeschichte ausmachen. Unser Beitrag zeigte, wie die koloniale Amnesie, die während der Jubiläen 1969 und 2019 performt wurde, diese historischen Intersektionen ignoriert – ob intendiert oder nicht. Gerade dieser politische Akt des Vergessens bewirkt, dass Rassismus in der Erinnerungs- und Institutionskultur der Universität bestehen bleibt. Bis heute erzählt die Universität Hamburg mit jedem Gebäude und jedem Straßennamen „die einzelne Geschichte“ (Adichie 2009), die Schwarze und nicht-weiße Perspektiven ausradiert.

Die Kritik an der Erinnerungskultur und -politik der Universität Hamburg ist gleichzeitig eine Kritik an einer Erinnerungslandschaft, die ein Verlernen solcher Narrative nicht zulässt. Eine ehrlichere und komplexere Rekonstruktion der Universitätsgeschichte, die von der Konvergenz von Gewaltformen erzählt, ist notwendig, um die historischen Zusammenhänge zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus kritisch und aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu verstehen. Denn eine diasporisch-feministische Erinnerungskultur erfordert ein Umlernen der offiziellen Erzählungen, aus denen die Kolonialgeschichte der Universität verbannt wird.

Um aufzuzeigen, wie koloniale und postkoloniale Gewaltformen in der Geschichte der Universität konvergieren, sind kritische Kartierungen zentral. Sie lassen diasporische und intersektionale Erinnerungs­formen zu und dezentrieren dabei das traditionelle Narrativ, das einerseits die Namen, Biografien und Denkmäler der Akteure der Kolonialgeschichte ehrt, während andererseits ein namenloses Kollektiv von Kolonialsubjekten imaginiert wird. Eine kritische Erinnerung an die deutsche Kolonialgeschichte lässt eine dekoloniale Analyse einer Erinnerungslandschaft zu, indem sie geteilte Wissensformen generiert, mit denen wir uns in der Universität und in den (post-)kolonialen Landschaften unserer Stadt anders bewegen und begegnen können.

Eine dekoloniale Wissensvermittlung ist zugleich rassismus- und sexismuskritisch. Sie inkludiert die problematische Ordnung der color line und die rassifizierte und gegenderte Arbeitsteilung, um dadurch den intersektionalen Charakter der Institutionsgeschichte aufzuzeigen und die vergessen – oder kaschierten – kolonialen Kontinuitäten zu beleuchten. Dies impliziert die Notwendigkeit, eine dekoloniale Erinnerungskultur und -politik zu kultivieren, denn nur so kann eine demokratische Wissenschaft(-skultur) an der Universität entstehen und etabliert werden.