Editorial

Liebe Leser_innen,

nicht jedes Kind wächst in einer Stadt auf – gleichwohl gibt es keine Städte ohne Kinder. Städte sind immer auch Räume der Kindheit und städtisches Leben wird von Kindern ebenso hervorgebracht wie von Erwachsenen. Dennoch klafft eine Lücke in der kritischen Stadtforschung, was die Berücksichtigung von in der Stadt lebenden Kindern angeht. So ist es nicht verwunderlich, dass in kaum einem s u b \ u r b a n-Beitrag der vergangenen Jahre junge Menschen und ihre Perspektiven auf städtische Entwicklungen im Mittelpunkt standen. Das wollen wir mit dieser Ausgabe ändern: Unser Themenschwerpunkt „Kindheit in der Stadt“ nimmt erstmalig explizit und ausführlich die vielfältigen Beziehungen von Stadt und Kindheit in den Blick. Er versammelt eine Reihe anregender Beiträge, die sich mit historischen wie aktuellen Tendenzen der Stadtentwicklung und deren Auswirkungen auf das Leben von Kindern sowie mit Möglichkeiten der Teilhabe befassen. Damit versteht sich der Schwerpunkt auch als Plädoyer, Kinder als eigenständige Subjekte in der Stadt ernst zu nehmen und ihren Positionen zu den Problemen der Gegenwart mehr Gewicht beizumessen. In diesem Sinne sind viele der Beiträge dem Anliegen verpflichtet, Kindern in der Stadtforschung eine Stimme zu geben und ihre Sichtweisen auf die sie umgebende städtische Umwelt stärker in die Analysen kritischer Stadtforschung einzubeziehen. Im Umkehrschluss kann die Stadtforschung von Beiträgen profitieren und Schlüsselprobleme der Gegenwart – wie Corona- und Klimakrise oder soziale Ungleichheit – durch das Prisma der Kindheit betrachten. Zur Auslotung dieses Potenzials bietet dieses Doppelheft ausgiebig Gelegenheit, ist es doch – nicht zuletzt durch den in jeder Hinsicht „fetten“ Themenschwerpunkt – unser bislang umfangreichstes Heft geworden. Neben zehn Aufsätzen finden sich darin auch elf Beiträge in den Rubriken „Magazin“ und „Debatte“ sowie zwölf Rezensionen – allesamt unbedingt lesenswert, versteht sich.

Dass gerade Kindern in der (hiesigen) Stadtforschung bislang nur wenig Aufmerksamkeit zuteilwird, ist kein Zufall. Auch in unseren Städten sind Kinder heute für viele Menschen über weite Strecken des Tages unsichtbar. In westeuropäischen Städten begegnen wir ihnen als Erwachsene meist nur auf den für sie vorgesehenen Spielplätzen und in Bildungsinstitutionen, morgens auf ihrem Weg zur Schule und nachmittags möglicherweise im Supermarkt – oder eben im eigenen Zuhause. Außerdem hat der öffentliche Raum in deutschen Städten infolge umfangreicher Stadtumbauprozesse der Nachkriegsjahrzehnte massiv an Erlebnisqualität für junge Menschen eingebüßt. Wo Kindheit immer mehr in verhäuslichten Räumen, in eigens für Kinder erdachten Institutionen und an für sie bestimmten Orten stattfindet, scheint ihr Aufenthalt im öffentlichen Raum der Stadt schlicht „fehl am Platz“ zu sein. Verschaffen wir uns also zunächst einen Überblick über die Beiträge des Themenschwerpunkts, die sich nicht zuletzt dieser Entwicklung widmen.

Neben den institutionellen Orten der Vergesellschaftung von Kindern ist die Straßenöffentlichkeit der Stadt (immer noch) ein wichtiger Erlebnis- und Erfahrungsraum. Kinder gestalten die Stadt auf ihre Weise mit und fordern bestehende Ordnungen und Kontrollbestrebungen urbaner Gesellschaften heraus. Unser Titelbild von Marily Stroux (vgl. auch die Fotoserie und das Interview mit der Fotografin in dieser Ausgabe) ist ein besonders eindrückliches Beispiel dafür, wie junge Menschen städtische Artefakte, die nicht zum Spielen vorgesehen sind, für ihre Zwecke umfunktionieren. Zahlreiche Beiträge des Themenschwerpunkts machen daher auch auf die Notwendigkeit überwachungs-, funktions- und erziehungsfreier Orte in der Stadt aufmerksam. Dass diese Orte nicht nur jungen Menschen zugutekommen, sondern die spezifischen Aneignungspraktiken von Kindern auch Anregungen für neue methodische Zugänge einer kritischen Stadtforschung und für künstlerisch-choreografische Forschungsweisen bieten, macht Gabriele Reuter in ihrem Magazinbeitrag deutlich.

Die Globalisierung spezifischer Kontroll- und Regulationsformen rückt Tuline Gülgönen in den Fokus. Ihr Beitrag nimmt die Verdrängung von Kindern aus dem öffentlichen Raum und ihre Einhegung in speziell für sie gestalteten Spielplätzen am Beispiel von Mexiko-Stadt in den Blick. Die Autorin geht der Frage nach, inwieweit normierte Spielflächen tatsächlich auf die Förderung des kindlichen Spiels abzielen und welche Vorstellungen von Kindheit ihre uniforme Gestaltung transportiert. Dabei verweist sie auch auf die Verbreitung US-amerikanischer Spielobjekte, die etwa Konzepte des Abenteuerspielplatzes zunehmend verdrängen.

Während einerseits Kindern immer weniger städtische Räume als Erlebnisorte zur Verfügung stehen, werben andererseits aktuelle Stadtvisionen wie die Smart City damit, Städte wieder kinderfreundlicher zu gestalten und jungen Menschen neue Zugangsmöglichkeiten zum öffentlichen Raum zu eröffnen. Der Aufsatz von Dana Ghafoor-Zadeh und Verena Schreiber diskutiert am Beispiel von Wien-Simmering, wie städtische Alltagswelten von Kindern in den vergangenen Jahren zu Experimentierfeldern des smarten Stadtumbaus avancierten und welche Teilhabepotenziale, aber auch Ausschlussrisiken und Normierungseffekte mit dieser Entwicklung einhergehen. Einer ähnlichen Frage folgt der Magazinbeitrag von Laura Lefevre. Sie macht am Beispiel des stadtweit angelegten Planspiels „Spielstadt Mini-München“ auf die Diskrepanz aufmerksam, die zwischen den eigens für Kinder geschaffenen Formaten der Beteiligung an städtischen Entwicklungen und den tatsächlichen Aneignungs- und Nutzungsmöglichkeiten städtischer Räume besteht. Neue Freiräume hinsichtlich Spiel- oder Ausgehzeiten in der Stadt versprechen nicht zuletzt auch derzeit vermarktete Tracking-Anwendungen. Sogenannte parental control technologies eröffnen Eltern die Möglichkeit, den Standort ihrer Kinder in Echtzeit zu kennen und deren Bewegungen nachzuverfolgen. Der Aufsatz von Sarah Berg und Jan Wehrheim diskutiert die stadt- und raumforscherischen Implikationen und mögliche Folgen dieser Technologie für die räumlichen Aktivitäten von Kindern und die Thematisierung von Elternschaft.

Die Coronakrise markiert möglicherweise einen Wendepunkt in der Betrachtung von Kindheit und Stadt. Viele Beiträge des Themenschwerpunkts greifen sie explizit oder implizit auf. Durch die Coronakrise sind in den vergangenen Monaten verstärkt die spezifischen Lebenswirklichkeiten von Kindern in Städten und bestehende Ungleichheiten in den Blick geraten. Dabei zeigen die pandemiebedingten Ausgangssperren und Kontaktverbote wie durch ein Brennglas, dass Kinder in ihren Bewegungs- und Begegnungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum oft wesentlich stärker eingeschränkt sowie an die häusliche Sphäre gebunden sind als Erwachsene. Insbesondere der Beitrag von Henriette Bertram, Stefanie Hennecke, Angela Million und Johanna Niesen sensibilisiert für die Bedeutung von und den Bedarf nach wohnungsnahem Freiraum für Kinder und Familien. Mithilfe narrativer Landkarten geben sie Einblicke in Bewegungsradien, Tagesrhythmen und Freiraumpraktiken von Kindern während der Pandemie. Der Aufsatz von Christian Reutlinger setzt ebenfalls bei den während der Coronakrise veränderten Raumnutzungspraktiken von Kindern an. Er begibt sich von hier aus auf eine Spurensuche nach dominanten Thematisierungslinien bedeutsamer Kinderorte in der Tradition der sozialräumlichen Kinderforschung, um nicht zuletzt auch übergangene Dimensionen dieser Forschung zu bestimmen. Der Magazinbeitrag von Sonja Preissing schließlich unterzieht aktuelle wissenschaftliche Studien zu Kindheit während der Coronakrise einer kritischen Betrachtung. Die Autorin fragt, inwiefern für Kinder bedeutsame Räume jenseits der Institutionen der Kindertagesbetreuung oder der Schule in den genannten Studien aufgegriffen und berücksichtigt wurden.

Welche Räume jungen Menschen in der Stadt zur Verfügung stehen, wo sie lernen können und in welcher Weise sie die Stadt erleben, beleben und gestalten dürfen, bemisst sich auch daran, zu welcher Zeit, an welchem Ort und aus der Perspektive welcher Disziplinen das Verhältnis von Stadt und Kindheit wie bestimmt wurde. So zeichnet insbesondere der Beitrag von Dominik Farrenberg wesentliche Etappen der diskursiven Konstitution städtischer Kindheit in der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Forschung nach. Er arbeitet im Spannungsfeld von Utopie und Dystopie zentrale Narrative von Straßenkindheit einerseits und einem Schutzraum der „pädagogischen Provinz“ andererseits heraus. Narrative um Stadt und Kindheit werden für junge Menschen spätestens dort konkret erfahrbar, wo sie immensen Stigmatisierungen aufgrund ihres Wohnorts ausgesetzt sind. Der Aufsatz von Nils Zimmer macht am Beispiel des Mehringplatzes in Berlin-Kreuzberg die Wahrnehmungen von Kindern und jungen Menschen zum Leben in marginalisierten Quartieren zugänglich und diskutiert, welche Strategien sie im Umgang mit machtvollen und stigmatisierenden Repräsentationen des Stadtteils entwickeln.

Wenngleich die Beschäftigung mit Kindern in der Stadtforschung immer noch ein Desiderat darstellen mag, sind in den vergangenen Jahren eine Reihe von Büchern erschienen, die sich diesem Themenfeld widmen. Drei einschlägigen Veröffentlichungen widmen sich die Rezensionen im Themenschwerpunkt: Children living in sustainable built environments von Christensen et al. (rezensiert von Antonia Appel), Peter Kraftls After Childhood. Re-thinking environment, materiality and media in children’s lives (Dana Ghafoor-Zadeh) sowie der Glossar Räume der Kindheit, herausgegeben von Hasse und Schreiber (Fabian Pettig). Die Rezensionen nehmen eine kritische Würdigung der Werke vor und ordnen sie für uns in den wissenschaftlichen Forschungsstand ein.

Neben den zahlreichen Aufsätzen und Magazinbeiträgen zu aktuellen Forschungsfeldern widmet sich der Themenschwerpunkt in der Rubrik „Debatte – Altes Neu Gelesen“ dem engagierten, in Deutschland allerdings nur wenig rezipierten und weitestgehend in Vergessenheit geratenen Buch Das Kind in der Stadt von Colin Ward aus dem Jahr 1977 (deutsche Übersetzung 1978). Der 2010 verstorbene britische Anarchist und Stadtforscher wandte sich in seiner Studie den vielfach verborgenen und banalen Orten städtischer Kindheit zu. Ward interessierte sich dafür, wie Kinder „jedes übriggebliebene Fleckchen der Stadt ihren eigenen Zwecken nutzbar machen, wie erfindungsreich sie jede kleine Gelegenheit zum Vergnügen ergreifen“ (Ward 1978: 211) und Orte sowie materielle Dinge, denen Erwachsene kaum etwas abgewinnen können, durch ihr Spiel kreativ und eigensinnig besetzen und benutzen. Dies führte Ward immer wieder zu der grundlegenden Frage, ob in der Beziehung zwischen Kindern und ihrer städtischen Umwelt etwas verloren gegangen ist und ob wir die Abwesenheit von Kindern im öffentlichen Raum nicht viel zu selbstverständlich hinnehmen. Viele seiner Beobachtungen und Befunde erscheinen nach wie vor aktuell. Wir freuen uns daher, dass wir mit diesem Themenschwerpunkt nicht nur Teile dieser wertvollen Studie (wieder) einem größeren Publikum zugänglich machen können. Unser besonderer Dank gilt den drei Autorinnen Imbke Behnken, Anika Duveneck und Tanu Biswas, die sich in ihren anregenden Debattenbeiträgen der Frage widmen, welche Impulse von Wards Studie auch noch für die aktuelle Stadt- und Kindheitsforschung ausgehen und wie sein Werk aus heutiger Sicht zu beurteilen ist.

In vielfältiger Weise besonders ist auch das Kinderbuch Stadt der Zukunft von Nika Dubrovsky und Freund*innen, das die Redaktionsmitglieder Nina Gribat, Stefan Höhne und Gala Nettelbladt eigens für den Themenschwerpunkt übersetzt haben. Das Buch präsentiert 30 historische oder erfundene Städte und lädt kleine wie große Kinder dazu ein, deren Gestalt und Regeln weiter zu entwickeln. Konzipiert als Mitmachbuch, in dem gemalt, gezeichnet und geschrieben werden kann, zeigt Stadt der Zukunft nicht nur die Vielfalt städtischer Lebensweisen im Laufe der Geschichte und in verschiedenen Kulturen. Es regt auch dazu an, gemeinsam Ideen und Pläne zu entwickeln, wie städtisches Leben gerechter, schöner oder inklusiver gestaltet werden kann.

Kommen wir nun zu den drei Aufsätzen im offenen Teil dieses Doppelheftes. Darunter ist ein Beitrag, der ebenfalls die kreativen Potenziale des Städtischen auslotet und bestärken möchte. So widmen sich Lea Bauer und Eva Nöthen den ästhetischen und semiotischen Dimensionen, die künstlerische Zugänge innerhalb transdisziplinärer Forschungsprojekte ermöglichen. Sebastian Botzem und Natalia Besedovsky analysieren anhand der Beispiele von Frankfurt am Main und Berlin, welche Forderungen direktdemokratische Initiativen zur Neuausrichtung öffentlicher Wohnungsunternehmen in den Bereichen Bewirtschaftung, Mitbestimmung und Rechtsformänderung stellen sowie welche Verständnisse von Gemeinwohl dabei eine Rolle spielen. Marlene Hobbs diskutiert in ihrem Aufsatz entlang einer Fallstudie zur Verwendung des Thermomix das Zusammenspiel von Haushaltstechnik und vergeschlechtlichter Hausarbeit mit Hinblick darauf, wie häusliche Technologien vergeschlechtlichte Reproduktionsarbeit verändern können und wie sich Mensch-Technik-Beziehungen in räumlichen Praktiken ausdrücken.

Im Debattenteil veröffentlichen wir eine aktualisierte und übersetzte Fassung der s u b \ u r b a n-Lecture, die Matthew Gandy im Rahmen des Deutschen Kongresses für Geographie 2019 in Kiel gehalten hat. Als eine Positionsbestimmung des Feldes der Urbanen Politischen Ökologie bildet dieser theoretische Beitrag einen äußerst gelungenen Anschluss an unseren Themenschwerpunkt „Die Natur der Stadt“ (Band 8, Nr. 1/2 [2020]). Der Beitrag von Daniel Mullis führt wiederum die von s u b \ u r b a n begonnene Debatte rund um durch Covid-19 forcierte Prozesse der De-Urbanisierung fort (Band 9, Nr. 1/2 [2021]). Dabei knüpft er an die von Roger Keil und anderen betonten Peripherisierungsprozesse an, fordert aber eine verstärkte Beschäftigung mit der politischen, wirtschaftlichen und infrastrukturellen Ausrichtung auf städtische Zentren.

Den offenen Teil dieser Ausgabe schließen neun Rezensionen ab, die ein vielfältiges Spektrum aktueller Publikationen beleuchten – vom Sammelband Plattformkapitalismus und die Krise der sozialen Reproduktion von Altenried et al. (rezensiert von Barbara Orth) und dem aus dem PODESTA-Projekt entstandenen Band Urbane Konflikte und die Krise der Demokratie – Stadtentwicklung, Rechtsruck und Soziale Bewegungen (Tino Buchholz), über Christina Schwenkels Monografie zu postsozialistischer Architektur (Jannik Noeske) bis hin zu dem Band zu postfundamentalistischen Geographien von Landau et al. (Valerie Scheibenpflug) oder dem Sammelband zu kritischer Landforschung von Maschke et al. (Elisa Bertuzzo). Aber auch bezüglich vergleichsweise klassischen Themen der kritischen Stadtforschung wie Wohnen, Bodenverteilung und Ungleichheit (adressiert in den Rezensionen von Simon Runkel, Anthony Miro Born und Isaak Granzer) sowie im Bereich der Einführungsliteratur zu Stadtforschung (Alexander Krahmer) rezensieren unsere Autor*innen Bücher, die für kritische Stadtforschende lesenswert sind.

Zum Schluss bleibt uns nur, allen Autor*innen und Gutachter*innen zu danken, die an der Erstellung des umfangreichen Themenschwerpunkts sowie des offenen Teils dieser Ausgabe mitgewirkt haben. Wir wünschen Ihnen und Euch eine anregende Lektüre!

 

Herzliche Grüße

die Redaktion von s u b \ u r b a n

 

Kristine Beurskens, Laura Calbet i Elias, Nihad El-Kayed, Nina Gribat, Stefan Höhne, Johanna Hörning, Jan Hutta, Justin Kadi, Michael Keizers, Yuca Meubrink, Boris Michel, Gala Nettelbladt, Lucas Pohl, Nikolai Roskamm, Nina Schuster, Lisa Vollmer

mit Verena Schreiber als Mitherausgeberin des Themenschwerpunkts