„Hallo, wer spricht?“

Kommentar zu Margit Mayers „Urbane soziale Bewegungen in der neoliberalisierenden Stadt“

Peter Birke

Die von Margit Mayer vorgestellten Vorschläge zur theoretischen Verortung der aktuellen stadtpolitischen Bewegungen sind aus meiner Sicht sehr wichtig. Kein Zweifel kann daran bestehen, dass eine fließende, historisierende Sichtweise notwendig ist, die die fragmentierenden Wirkungen der „Neoliberalisierung“ betont. Dies ist ein berechtigter Hinweis auf die Kurzschlüsse, die gerade auch in der marxistisch inspirierten politischen Linken verbreitet waren und sind, in denen „Neoliberalismus“ als eine Figur, als eine Art großes Monster gezeichnet worden ist, das sich „immer“ und „überall“, also überhistorisch und lückenlos durchzusetzen scheint. Von sehr großer und sogar zunehmender Bedeutung erscheint mir auf dieser Grundlage auch der Versuch, eine Einteilung vorzunehmen, die die Ökonomie der aktuellen Krise diesem historischen Prozess zuordnet und (was im Rahmen des vorliegenden Textes natürlich nur angedeutet werden kann) die Bezugnahme zwischen globalen, nationalstaatlichen und lokal-urbanen Austeritätspolitiken thematisiert. Ebenso wichtig wie schlüssig sind auch die Hinweise auf gegenwärtige Polarisierungstendenzen, die in diesem Kontext zu bemerken sind, so auch die Polarisierung von „wachsenden“ und „schrumpfenden“ Territorien und – was ja gerade die Pointe dieses Textes ist – der verschiedenen Pole der Sozialbewegungen selbst.

Andererseits wirft der Text einige Fragen auf, die sich zum einen auf die Konzeption selbst, zum anderen auf das möglicherweise aus ihr abzuleitende Programm beziehen. Dabei geht es zunächst um die Widersprüche des Konzeptes, die hier beispielhaft anhand der Frage nach dem Verhältnis zwischen „Fragmentierung“ und „Polarisierung“ thematisiert werden sollen. Mayer betont, dass Neoliberalisierung ein „offener Prozess marktregulierter Restrukturierung“ sei. Zu den einstweilen sichtbaren Resultaten gehören „Typen“, die sich empirisch fassen lassen. Diese ergeben aber keine eindeutige Bi-Polarität, sondern eher eine Art „Landschaft“, die allerdings wiederum nicht als ein System fester Orte, sondern miteinander verbundener „Strategien“ erscheint. Diese Strategien sind wohlbekannt: Events und Festivalisierung, Ökonomisierung der „Governance“ und darauf basierende Partizipationsregimes, Privatisierung des Gemeinwesens und des öffentlichen Raumes und schließlich die Neuordnung der „globalen“ Ökonomie der Städte, die eben die Neudefinition von und Teilung in Boom- und Krisenregionen sowohl entscheidend prägt als auch in einen neuen Zusammenhang bringt. Während die ersten drei der erwähnten Strategien im Grunde genommen nur die Idee mehr oder weniger erfolgreicher Einsätze zulassen (die Olympischen Spiele in Leipzig hatten eben weniger Durchführungsperspektiven als jene in London, um nur ein Beispiel zu nennen), beschreibt der Punkt zu den Global Cities eine polarisierte Struktur „zwischen“ den Städten, also anders gesagt die soziale und ökonomische Entfernung zwischen „London“ und „Leipzig“.

Der Tigersprung von dieser Aufteilung in die lokalen stadtpolitischen Situationen, den Mayer vorschlägt – ein Versuch, den ich mit großer Sympathie sehe –, erweist sich im Nachvollzug und im Anschluss aber als komplizierter als zunächst gedacht: Warum, beispielsweise, sind etwa die non normative protests in London 2011 öffentlich und auch für den Blick der Stadtforschung viel auffälliger gewesen als in „abgehängten“, „schrumpfenden“ Städten? Warum entfaltet sich – um bei der Begriffs- und Metapherwahl der Regulationsschule zu bleiben – der Bruch in der hegemonialen Idee eines guten Lebens in der Stadt eben dort, wo deren („neoliberale“) Hegemonie als so befestigt und entwickelt erscheint, dass sie geradezu wie die Blaupause aller Vorstellungen von „Neoliberalismus“ (einschließlich der Bürgermeister-Figuren, eben zwischen Ken Livingstone und Boris Johnson) erscheinen darf? Warum war das Londoner East End 2010/2011 (und nicht die Vorstädte von Schwerin oder Bochum) ein weltweit beachteter Ort der Studierendenproteste, der Streiks im öffentlichen Dienst und der riots? Der Zusammenhang zwischen den wahrgenommenen Zentren der stadtpolitischen Proteste und der eigensinnigen Entfaltung der Revolten erscheint als paradox, wenn nicht konzediert wird, dass die „Landschaft der Revolten“ nicht auch einen diskursiven Aspekt hat. Denn es sind gerade die „Schaufenster“ des Neoliberalismus, in denen Gegenmodelle oder einfach nur die Negation des Bestehenden besonders wirkungsvoll inszeniert werden können. Wo sich das window of opportunity öffnet, entscheiden allerdings nicht die Protestierenden – und es sind sozial und politisch sehr unterschiedliche und zum Teil gegensätzliche Protestbewegungen, die sich dort platzieren.

Margit Mayer schlägt auf Grundlage der so beobachtbaren zerklüfteten Struktur dieser Proteste eine weitere Ordnung vor, jene der „Recht auf Stadt“-Bewegungen, in der assoziativ (also nicht im strengen, analytischen Sinne) jene merkwürdige Mischung aus Fragmentarischem und Polarisierendem auf die Sozialbewegungen übertragen wird. Hier findet sich sodann eine Aufzählung von „Widerständigkeiten“. Die Aufzählung enthält mehrere kleinere Gruppen („Autonome“, „Künstler“, „Umweltgruppen“ usw.) und am unteren Ende der Leiter eine Sammelkategorie der „Marginalisierten“ (Hartz IV-Empfänger, people of color usw.). Und es wird dann – allzu schnell, wie ich finde – behauptet, dass „die jeweilige strategische Position dieser Gruppen“ aus ihrer Verortung im Geflecht der Neoliberalisierungsdynamik der Stadt „resultiert“. Aber auch in dieser Analogie sind die „Typen“ grundlegend nach verschiedenen Kriterien sortiert: Nummer 1 bis 5 („Autonome“ bis „Umweltgruppen“) sind solche, die mehr oder weniger das Untersuchungsfeld der durch die neuen sozialen Bewegungen der 1980er Jahre inspirierten Forschung beschreiben. Der sechste Stand dieser Liste sind „die Anderen“, die sich mit ihren Agenden und Protestformen nicht in den Begriffen der Bürgergesellschaft begreifen ließen oder lassen, obwohl es nicht erst neuerdings „poor people’s movements“ gibt. Ihr Spezifikum ist ihre Konstitution als soziale Klasse, die tatsächlich virtuell ist und nicht unmittelbare Wirklichkeit, also eine gedachte Ansammlung möglicherweise sozial gar nicht einheitlicher und auch nicht als „Klasse für sich“ konstituierter Gruppierungen. Im Weiteren wird sodann eine Polarität zwischen der historischen Welt der neuen urbanen sozialen Bewegungen (Gruppe 1 bis 5) und jenen „Anderen“ konstatiert.

Es ist sicher richtig, darauf hinzuweisen, dass Sozialbewegungen selbst eine Hierarchie reproduzieren können (und deshalb notwendig werden), die die Ausgrenzung der städtischen Armen reproduziert. Allerdings bleibt der Hinweis auf die notwendige Aufhebung dieser Hierarchie politisch sehr schwach, wenn nicht gefragt wird, wie sich die beiden Pole der Typologie in der Realität der Sozialbewegungen durchdringen. Es bleibt dann nur der Weg über eine Solidarisierung zwischen Handlungsfähigen und Armen, der a) eigentlich setzt, dass Arme kaum handlungsfähig sind und Hilfestellungen aus den Gruppen 1 bis 5 benötigen werden, und b) für jene „privilegierten“ Gruppen eine Interessensorientierung annimmt, die sich der großen sozialen Frage, die die aktuellen stadtpolitischen Bewegungen stellen, bestenfalls paternalistisch-fürsorglich annähern könnte. Alle Karten liegen in diesem Bild aber dennoch notwendigerweise in den Händen der Sozialarbeiter_innen, Rechtsanwält_innen und Studierenden, die die bundesdeutschen Sozialbewegungen bis heute prägen, die aber ebendiese Karten heute gerade auf der Grundlage des von Mayer sehr eindrücklich Beschriebenen – also auf Grundlage der Zerklüftung und Polarisierung der Mittelschichten selbst, die anderswo auch unter dem Stichwort der „Prekarisierung“ debattiert wurde – immer weniger ausspielen können.

Dagegen fallen aus meiner Sicht zwei Dinge auf, und damit komme ich zur Frage der Vermittlung der oben erwähnten Topografie der „Neoliberalisierung“ zurück. Meines Erachtens durchdringen sich heute in der Tat die ersten fünf Stände und jener sechste Stand, dessen Einbeziehung in die stadtpolitischen Bewegungen Mayer zu Recht fordert. Dies ist eine allgemeine Tendenz, sie wird lediglich dort besonders sichtbar, wo der Gegensatz zwischen Arm und Reich stärker wahrnehmbar ist. Proteste gegen Gentrifizierung sind stärker gegenwärtig, wo die Nähe und Abgrenzung zwischen gentry und Proletarität dauernd neu ausgehandelt werden muss und oft offen und unklar bleibt, und das heißt: entwicklungsfähig.

So war es meines Erachtens nicht die korporatistische Einbindung jener „kreativen Klasse“, die die Hamburger „Recht auf Stadt“-Netzwerke seit 2009 so auffällig und für uns alle überraschend artikulationsfähig gemacht hat, sondern deren lebensweltliche Bezugnahme (und nicht vorrangig „moralische Solidarisierung mit …“) auf das sich verallgemeinernde Problem der Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen. Oder anders gesagt: das Vorzeige-Mini-Gemeinwesen von „Recht auf Stadt“, das Hamburger Gängeviertel, wird sicherlich von einigen zukünftigen Ärzten, Professorinnen und erfolgreichen Künstlerinnen getragen, in der großen Mehrheit allerdings handelt es sich vermutlich eher um zukünftige Altenpfleger, Minijobberinnen und extrem prekarisierte Künstler. Was in den Netzwerken insgesamt zum Tragen kam, war also gerade nicht eine lokale Bürgergesellschaft, sondern eine neue Prekarität. Diese äußert sich auch als Aufbegehren gegen die massive Restriktion der freien Entfaltung der Persönlichkeit, welche untrennbar mit ihr verbunden erscheint.

Das auf dieser Grundlage entwickelte Potenzial bringt, und das ist der entscheidende Punkt, den ich hier beitragen möchte, die Kategorien zwischen Gruppe 1 bis 5 und „den Anderen“ durcheinander. Warum könnte ein Hartz IV-Bezieher nicht auch ein Aktivist einer „Umweltgruppe“ sein oder eine im „informellen Sektor Prekarisierte“ nicht sowohl Künstlerin als auch Hartz IV-Bezieherin als auch Migrantin? In der Realität entfalten sich diese verschiedenen Elemente des sozialen und politischen Daseins gleichzeitig. Im Eigensinn der Sozialproteste und Revolten verschieben und vermischen sich die Positionen. Die gesellschaftliche Grundlage dieser Vermischung, die uns auch in den stadtpolitischen Debatten meines Erachtens viel mehr beschäftigen sollte, ist in der Tat keine moralische Ökonomie des Fordismus mehr, sondern geteilte Erfahrung und sporadisch geteilte Praxis. Die Abgrenzung dieser Gruppen (1 bis 6 oder mehr, wie man will) ist neu konfiguriert, jenseits der früher eher als fest erscheinenden Positionen und sozialen Logiken. Blockaden der politischen Handlungsfähigkeit solcher Bewegungen sind mithin weniger den sicheren biographischen Möglichkeiten der Beteiligten geschuldet. Eher sind sie bedingt durch eine noch vage Vorstellung einer atomisierten Zukunft, in der man sich selbst als zukünftig erfolgreicher Manager seines eigenen Daseins imaginieren kann (oder auch nicht). Das von Mayer angesprochene Problem wird dadurch selbstverständlich nicht kleiner. Denn genau diese vage Vorstellung individualisierter Zukünftigkeit ist meines Erachtens eine der Grundlagen des ephemeren Charakters aktueller Sozialproteste. Eine Bezugnahme auf die Prekarität der Gegenwart bleibt gleichwohl die Voraussetzung für jegliche anti-hegemoniale Strategie, und dass jene „privilegierten Bewegungsgruppen ihre Schlüsselpositionen einsetzen“, erscheint dagegen mittlerweile schon – ich bitte um Verzeihung für den Ausdruck – ein wenig vorkopernikanisch.

Margit Mayers sechster Stand setzt sich stets selbst als Handelnde_r ein: In den sozialen Kämpfen, in denen es zu den von ihr und mir erhofften Verbindungen kommt, sprechen die Subalternen wirklich. Meine jüngste Erfahrung im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg sagt mir, dass die Mieter_innen des hiesigen Korallusviertels zwar mit linksradikalen Aktivistinnen und Sozialarbeiterinnen kooperiert haben, um den Kampf gegen den Wohnungsbaukonzern GAGFAH aufzunehmen, aber dass sie doch am Ende selbst über ihre Lebenssituation, die steigenden Mieten und sinkenden Einkommen, die abstürzenden Aufzüge in Neubauruinen, den alltäglichen Rassismus, sprechen – oder überhaupt nicht. Und andererseits wird die Nichtthematisierung von Prekarisierungserfahrungen im Hamburger „Recht auf Stadt“-Netzwerk dieses in nächster Zukunft zwar nicht verschwinden lassen, aber es könnte doch recht sprachlos werden, wenn eine neue Welle lokaler Austeritätspolitik auf der Tagesordnung stehen wird. Auffällig ist, jenseits solcher mehr oder weniger düsteren Prognostik, dass Aktivist_innen aus peripheren Stadtteilen – nicht nur Wilhelmsburg, auch Mümmelmannsberg, Billstedt und Horn – und die Themen des „sechsten Standes“ im Netzwerk erst auftauchten, als der Zenit der lokalen Bewegung bereits leicht überschritten war. Ich bin mit der Forderung der Autorin völlig einverstanden – diese Themen müssen besprochen werden. Damit ist auch gesagt, wie sie ja ebenfalls betont, dass es „andere“ Themen sind. Ich denke aber, dass das Schweigen über die zunehmende Polarisierung der Einkommen, die schwierigen Arbeits- und Lebensbedingungen, die unwürdige Behandlung von Kindern, die das Pech haben, nicht auf der Sonnenseite der Stadt geboren zu werden, auch ein Schweigen über die Erosion der Lebensbedingungen der Vielen wäre. Es wäre also auch ein Schweigen über uns selbst.

Autor_innen

Peter Birke

Geschichts- und Politikwissenschaftler. Er arbeitet zur Geschichte und Soziologie der Arbeitswelt, zu Gewerkschaften als "sozialer Bewegung" und zu Stadtentwicklungsprozessen.

Kontakt: peter.birke@sofi.uni-goettingen.de