Berlin in Szenen täglichen Liebens

Omar Kasmani

Nicht ich, sondern er

Berlin ruft seine Vergangenheit wach wie keine andere Stadt. Er lebt nun seit elf Jahren hier, aber die Gespenster, die ihn immer wieder heimsuchen, kommen von überallher. Also beschließt er, sie in seinen Text aufzunehmen, um ihn durchlässig zu machen, so durchlässig wie er die Stadt empfindet. Auf seinem Schreiben lastet das akkumulierte Gewicht vieler Gegenwarten, so wie es auch „vielfältige Geschichten konstelliert, die normalerweise nicht zusammen erzählt werden“ (Yildiz 2017: 214).[1] Ihm fällt auf, wie sehr er in die Passagen, die er schreibt, affektiv verwickelt ist, denn was ist der Akt des Schreibens der Stadt durch den Migranten anderes als ein Intim-Werden mit ihr. Wenn er von sich selbst in der dritten Person spricht – nicht ich, sondern er – folgt er Kathleen Stewarts (2007) Technik, um Distanz zur eigenen Subjektivität zu gewinnen. Trotzdem dokumentiert sein Schreiben die Privilegien und Besonderheiten seines Lebens in Berlin als Cis-Mann aus der pakistanischen oberen Mittelschicht. In den Szenen, die er schreibt, geht es nicht um ihn selbst, obwohl er ein wesentlicher Bestandteil ihrer Komposition ist. In gewisser Weise verhalten sie sich wie die Lavatory Self-Portraits in the Flemish Style der Künstlerin Nina Katchadourian (2017), die keine Selfies sind, wie sie behauptet, sondern andere Porträts des Selbst.

Späti

Da gibt es eine Frau, die er fast jeden Tag sieht. Von dem Platz vor diesem Café in seiner Straße, wo er normalerweise sitzt, trennen nur drei aufgereihte Kübelpflanzen das Café von dem Späti, vor dem sie sitzt und an ihrem Tee nippt. Und gerade jetzt, wo er dabei ist, diese Zeilen zu Papier zu bringen, streckt ihm ein Mann von der anderen Seite jener Pflanzenlinie die Hand entgegen. Hasan aus Marokko stellt sich vor und fragt ihn dabei auch ein wenig aus. „Ich komme aus Pakistan“, antwortet er auf Deutsch. In diesem Moment treffen seine Augen den Blick der Frau, aber sie tauschen keinen Gruß aus. Hasan erzählt ihm auch, dass er direkt über dem Späti wohnt. Sogar als er denkt, die Unterhaltung sei längst beendet, wird seine tägliche Schreibroutine immer wieder von Hasan unterbrochen, der kulturelle Nebensächlichkeiten des Deutschen einwirft, zum Beispiel, wie man eine E-Mail beendet: „MfG“, schlägt er über die Pflanzen hinweg vor, „mit freundlichen Grüßen“!

Knopfaugen

Er sieht ihn wieder, diesmal nach Monaten. Er ist 3,2 Kilometer entfernt. Er schließt die App auf seinem iPhone, ohne sie anzuklicken. Sein Herz sehnt sich immer noch nach ihm, stellt er fest.

Die Kübellinie

Als Hasan ihn fragt, ob er sich zu ihm an den Tisch setzen könne, erscheint ihm die Trennlinie aus Pflanzkübeln deutlich realer. So gemischt wie diese Nachbarschaft auch sein mag, kommen die hundebesitzenden, außer Haus frühstückenden, kaffeetrinkenden Yukis – oder „young urban kreative internationals“, wie die Neukölln-Berliner*innen in der Zeitung The Guardian (Dykhoff 2011) einmal bezeichnet wurden – kaum mit jenen in Berührung, die gemütlich vor den Spätis abhängen und Arabisch, Türkisch, Rumänisch und was nicht alles sprechen. Gewisse Intimitäten sind dennoch vorprogrammiert. Wenn er an anderen Tagen aus diesem Café herausschaut, sieht er zum Beispiel durch die Fensterfront eingerahmt Passant*innen, womöglich Leute aus seiner Nachbarschaft. Solche, die man immer wieder vorbeilaufen sieht: Wie diese Frau im Shalwar Kamiz, die eine Rolltasche mit Lebensmitteleinkäufen hinter sich herzieht. Jedes Mal, wenn er sie sieht, versucht er, schnell die feinen Details der flüchtigen Szene zu erhaschen, wie die Länge ihres Kamiz oder den genauen Schnitt ihrer Kleidung, alles Anhaltspunkte, von denen er annimmt, sie könnten ihm verraten, ob die Frau aus Pakistan oder Indien, vielleicht sogar aus Bangladesch stammt. Er ist davon überzeugt, dass sich Menschen aus Pakistan besser kleiden, aber das gehört hier nicht her. Diese Sorte Nachbar*innen, so seine Beobachtung, halten nie an Cafés an, werfen kaum je einen Blick hinein. Sie gehen einfach weiter ihres Wegs.

Direkt gegenüber ist noch ein Café, einen Tick schicker als dieses hier. Dort ist der Kaffee 20 Cent teurer, und Kerzenschein schimmert sogar tagsüber aus den dunklen Innenräumen durch die großen Fenster. Tische sind schwer zu ergattern, vor allem draußen, obwohl es dort, anders als vor einem Pariser Straßencafé, nicht viel zu sehen gibt. Eine kinderwagenschiebende Mutter bleibt stehen, um mit einem Hundebesitzer zu plaudern. Eine Szene weißer Intimität wahrscheinlich, denkt er sich. Das Frühstück wird fortgesetzt. Auch die Kerzen schimmern weiter. Der Müßiggang des Cafés unterscheidet sich spürbar von dem der Spätis, dämmert es ihm plötzlich. Sofort fällt ihm seine Abneigung gegen Zucchinikuchen ein, der so oft Auskunft darüber gibt, wie hipstermäßig ein Café ist. In der Parallelstraße gibt es so eines, wo der Kaffee 50 Cent mehr kostet, wo Yogahosen die Silhouetten von Kopftüchern in den Hintergrund drängen und vegane Sandwiches voller Missbilligung auf die Kebabs des Kiezes herunterschauen. Irritiert von dem Gedanken wendet er sich wieder dem Hier und Jetzt zu, wo Käseplatten und Brotkörbe ebenso an Pflanzkübelreihen Halt machen wie der eklektische Stil aus bunt zusammengewürfeltem Mobiliar. Aber nicht immer sind Pflanzkübelreihen lesbar, denkt er sich. Bei Nacht schimmern die kerzenbeleuchteten Bars dieser Straße anders als die Spielsalons, deren Neonschein sie als Männern vorbehaltene migrantische Räume ausweist. Dorthin geht er nie.

Sehnsucht nach Liebe, in Kreisen

Ein lyrisch schwingender Kreis von Männern ist zum Stillstand gekommen. Keine Gesänge und Rezitationen, keine gelegentlichen Schreie und kein zeitweises Aufheulen mehr. Aber ihr Nachhall liegt immer noch schwer in der Luft. Ein Gefühl der Ruhe breitet sich aus. Der Geruch von Duftölen durchzieht den Raum, wenn auch weniger streng, jetzt, wo der Schweiß die Konturen von Männerkörpern weicher werden lässt, überwiegend Männer in den Zwanzigern, die noch bis vor wenigen Augenblicken auf ihren Füßen hin- und herpendelten, Loblieder sangen, sich mit ineinander verschränkten Unterarmen rhythmisch von links nach rechts und wieder zurück wiegten. Aber jetzt nicht mehr. Müde, verschwitzt und von Gefühlen überwältigt sitzen die Männer nun auf dem mit Teppich ausgelegten Boden und ringen nach Luft. Das Schnaufen und Keuchen ihres schweren Atmens ist gut hörbar, ihre Körper sind nicht mehr aufgerichtet wie eben noch, sondern so zusammengekauert, dass ihre Köpfe fast den Boden berühren. In einem Raum in Neukölln, der nicht länger als breit und schräg nach Mekka ausgerichtet ist, sind 45 Minuten eines intensiven Rituals vorüber.

Fünf Gehminuten von seiner Wohnung entfernt gibt es eine Moschee. Er geht jede Woche dorthin, wo sich 25-30 Männer um einen Scheich versammeln, der sie durch den Zikr führt, das Sufi-Ritual des bewussten Gedenkens an Allah. Die Männer in diesen Kreisen des göttlichen Gedenkens sind junge Deutschtürken, Gastarbeitersöhne. Manche dieser Männer erzählen ihm, dass noch andere Personen mit im Kreis seien, solche, die er nicht sehen kann. Dass, wenn sie mit geschlossenen Augen Loblieder auf Heilige und geweihte Männer singen, diese erscheinen und sich Gefühle von Intimität einstellen, wenn auch nur flüchtig. „Wenn der Zikr seinen Lauf genommen hat“, sagte ihm einer, „und dieses spirituelle Gefühl so stark ist, es kann sein, dass man, dass einige Sachen sehen, die man normalerweise nicht sehen kann. Was zum Beispiel der Heilige normalerweise sieht. Er sieht Engel! Er sieht Leute, die vor 500 Jahren gelebt haben! Die Heilige, die sind da und machen mit uns Zikr.“ In den affektgeladenen Atmosphären des Rituals hatte er diese jungen Männer oft von ihrer verletzlichsten Seite erlebt, schreiend, weinend, von Lachanfällen geschüttelt, manchmal auf den Knien vor Erschöpfung. In solchen Momenten konnte er sehen, wie sich Männer während des Rituals – zwar ganz anders als er, aber doch auch irgendwie ähnlich – nach anderen Männern in der Stadt sehnten; Männer, die sich mit ihren Körpern zu erinnern wussten, die sich in Kreisen wöchentlicher Liebe bewegten und bewegen ließen.

Möbel mit Erinnerungen

Er konnte nicht gewusst haben, warum er das Bett fotografieren wollte. Es war nicht sein eigenes, aber auch nicht seines. Vielleicht war es die Weißheit, verdoppelt durch die seines Liebhabers, oder seine hotelartige Anonymität, die irgendetwas in ihm berührt hatte. Jeden Morgen, wenn sie das Bett verließen, hatte er das Gefühl, dass sie es sich durch die nächtliche Benutzung zu eigen gemacht hatten. Wo sucht man inmitten all dieser Weiße nach Spuren eines braunen Körpers, fragte er sich Jahre später, als er die neun Fotografien durchsah. In dieser Zusammenstellung von Bildern war Intimität keine abstrakte Idee, sondern eine konkrete, in den Stoff gedrückte Gegenwart; Affekt konnte sich nicht nur in Körper einschreiben: Etwas davon war bis an die Stelle gelangt, wo sich die Matratze ein klein wenig vertiefte, in die zerwühlten, wie mit geisterhafter Präsenz aufgebauschten Laken oder in die Kopfkissen mit ihren zerzausten Federn voller Klatsch und Tratsch. Er hätte das, was er fühlte, damals nicht auf genau diese Weise ausgedrückt, was er aber doch wusste, war, dass das, was er jeden Morgen in einem Foto festhielt, immer dasselbe und doch nicht dasselbe war: Knitter und Falten, die Mengen an Intimität und des in den Raum fallenden Sonnenlichts waren allesamt einzigartig, und jeden Morgen strich er all dies eigenhändig glatt, faltete zusammen und deckte zu – er machte das Bett, damit es wieder zu seinem anonymen weißen Selbst zurückkehren konnte. Es war nicht dazu bestimmt, „furniture without memories“ zu sein, ein Ausdruck von Toni Morrison, den Avery Gordon (2008: 4) umfunktioniert hat, um die Auswirkungen jener Rituale, Gewohnheiten, Strukturen und Verhaltensweisen zu beschreiben, nach deren Geschichte wir nicht fragen, da die so mit unserer Lebensweise verwachsen sind, dass wir nie innehalten, um ihren Sinn und Zweck zu hinterfragen. Dieses Bett, so glaubte er, war ein Möbelstück mit Erinnerung, mit Abdrücken, von denen er wusste, dass er zu ihnen zurückkehren wollte, lange nachdem die queeren Falten von neun Nächten jeden Morgen geglättet worden waren, bereit, fast so als wartete es darauf, dass sich andere Körper of colour mit ihrem verschlingenden Weiß bedecken würden.

Das Dünne durchdenken

Erinnerung in einen geographischen Bezug zu setzen heißt, zu überlegen, wie Zeit die Erzählung eines Lebens mit den vielen affektiven Kar­tie­rungen einer Stadt verbindet. Indem er dem Thema Thin attachments (Kas­mani 2019) nachgeht, verweist er auf die provisorischen Kartierungen wie auch auf die Formen intimer Beziehungen in der Stadt, die nach Wer­ten von Dichte oder Enge gehandelt werden; es sind Intimitäten, die in ihrer Nicht-Festigkeit verharren und selbst in ihren gehegten, in die Länge gezogenen oder zeitlich ausgedehnten Offenbarungen verraten, was in der Logik von be/longing – von Zugehörigkeit und Sehnsucht – zukünftig ist; oder die in dem, was Berlant als „lange Mitte der Intimität“ (Berlant/Edelman 2014: 22) bezeichnet, gedeihen oder manchmal nur mit wenig oder gar keinem Optimismus überdauern. Das Dünne ist das, was beim In-Beziehung-Setzen auf einer Karte überlebt, wenn nicht in die Stabilität oder Kohärenz der Objekte, die diese Beziehungen ausmachen, investiert wird (ebd.: 30). Es spekuliert weniger mit den Objekten der Kartierung als mit den Affektivitäten und (Zu-)Neigungen, die die Beziehungsweisen zu diesen Objekten ausmachen, ob es sich dabei nun um Akte des Weiter-Verfolgens oder Desinvestierens handelt, um einen Zustand des Hingezogen-Werdens oder des begehrenden Rückzugs.

Zwei Falten der Liebe

„Liebe ist der unbeholfene Name, den wir einem aus sich selbst herausströmenden Körper geben. […] Ein Körper, der das Versprechen der Selbstsouveränität nicht einlösen kann.“ (Belcourt 2019: 56) Er liebte M, auch wenn er es zum damaligen Zeitpunkt nicht als Liebe bezeichnet hätte. Auch ein Jahr später denkt er noch daran, wie sich zwischen ihnen eine (un-)mögliche Beziehung entwickelt hat. Was sie in Zuneigung zusammengeführt hat, weiß er immer noch nicht, was sie auseinandergebracht hat, ist sonnenklar. Was davon übrig ist, eine nicht ausgehändigte Nachricht, steckt zwischen den Seiten irgendeines Buchs: mit schwarzer Tinte geschrieben und zweimal gefaltet.

Grindr-Gedicht: Dahlem an einem Montagnachmittag im August

So sexy auch nicht, Weird fish
Yes no maybe, We will see
Only fun, Fun & drinks
UFO, Latino
      Silver guy, Make me fly
      Younger please, Gym_panzee
      Two4more, Flexible slut
      21/5 in ur face
Big one, Normal
Add some fun
Brain is sexy, T4b
Catch me, Domino
All_at_sea
Call me cupcake, Dust from Space
No pic no chat, Walk me through
Behind blue eyes
I give head
Now

Roastbeef, rolling eyes!

Es gab Tage, an denen er daran erinnert wurde, wie das Deutsche, so verbesserungsbedürftig es in seinem Fall auch sein mochte, Eingang in seine alltägliche Sprechweise gefunden hatte. Seinen Freund*innen auf Facebook erklärte er einmal, man habe schon viel zu lange in Deutschland gelebt, wenn man intransitive Verben im Englischen unglücklicherweise durch make ersetzt und beispielsweise „let’s make a party“ sagt und, noch schlimmer, wenn man Sätze unbeabsichtigt mit einem offenen Wort wie or schließt, so wie die Deutschen „oder“ verwenden. Und dann dieser little Schreckmoment, als er sich fragte, ob er eines Tages auch so klingen würde wie der Refrain in Tracey Ullmans Parodie von Angela Merkel: „Oh mein Gott, I’m rolling ze eyes“ (Tracey Ullman’s Show 2017).

Er stand bei Rewe an der Theke und bat um 100 Gramm „Roastbeef“. Obwohl er seinen Wunsch auf Deutsch geäußert hatte, hatte er sich, wie schon so oft, dabei ertappt, seine englischen Worte deutsch auszusprechen. Er hatte gelernt, solche kleinen Anpassungen seinem Gegenüber zuliebe vorzunehmen. Diese Entscheidung hatte er nicht bewusst getroffen. Sie hatte sich wie von selbst in seine Art des Daseins in der Stadt eingeschlichen. Das hatte seinem Deutsch oft diese gewisse Authentizität verliehen, die entsteht, wenn man englische Wörter nicht in englischer Weise ausspricht. Als er an diesem Tag an der Theke stand, verlangte er folglich „Roastbeef“, obwohl er eigentlich roast beef gemeint hatte. Trotz seiner deutschen Intonierung des Wortes greift der deutsche Verkäufer nach der falschen Sorte Fleisch – nämlich der, die er nicht gewünscht hatte –, so als sei ihm diese großzügige Geste des Eindeutschens vollständig entgangen. Enttäuscht wiederholte er dieselben Worte noch einmal, diesmal auf das Roastbeef zeigend … worauf der Mann antwortete: „Das ist aber Roastbeef!“ Diesmal verdrehte er nur wie Merkel die Augen, und obwohl er dies auf Englisch tat, war er überzeugt, dass sich der Sinn dennoch richtig erschließen würde. Endlich war er eine kleine bit happy!

Nachtrag zu einer überbrachten Nachricht

M,
dies hier ist eine lange Nachricht. Sie hat ein Vorwort, eine Mitteilung und ein Nachwort (tja, du hast einen Akademiker kennengelernt!).
Vorwort und Mitteilung: [entfernt]
Differenz (die du einmal mit „Würze“ verglichen hast) ist nicht immer schlecht. Was Differenz allerdings immer erfordert, ist die Arbeit der Differenz (die Klärungsarbeit sozusagen). Es reicht nie aus (oder ist einfach nur auf Benetton-Multikulti-Art lustig), dass wir unterschiedlich aussehen, sprechen oder glauben, sondern in Wirklichkeit bedeutet mit Differenz zu leben, das infrage zu stellen, was uns seit Langem vertraut gewesen sein mag, und braucht ein gewisses Maß an Offenheit von beiden Seiten. Und nach dem, was ich gestern Abend gehört habe, scheint dieser Raum nicht mehr offen zu stehen oder hat mir, wie in meinen schlimmsten Befürchtungen, noch nie offen gestanden. Bitte verstehe, dass es mir nicht darum geht, weiter mit dir zu streiten oder irgendwen zu beschuldigen, und noch viel weniger darum, dich zu überreden, gegen deine Überzeugungen zu handeln. Um Letzteres ging es mir nie, das wirst du mir hoffentlich glauben. Genau wie du mir oft genug gesagt hast, was du nicht willst, ist es nur gerecht, dass du weißt, wie ich mich gefühlt habe. Der einzige Punkt, in dem ich dir zustimme, ist, dass es zu früh war, darüber zu reden, wie unsere Beziehung (wenn überhaupt) letztendlich aussehen würde bzw. könnte. Und ja, Politik kam uns in die Quere, aber alles, was ich mir erwünscht hatte, war, mehr mit dir zu erkunden, ohne es zwangsläufig definieren zu müssen, und zu sehen, wohin uns das bringen und was wir daraus machen würden (Kern der „nicht ausgehändigten“ Notiz). Dass ich dir das nicht besser vermitteln konnte, dass du die genaue Schattierung meiner Gefühle nicht gesehen hast oder dass wir die Chance, die einmal zwischen uns aufgekeimt war, weder ergreifen noch erneuern konnten, genau das macht unseren Verlust aus. Auch wenn es heißt, dass die Hoffnung zuletzt stirbt, so ist sie doch auch schwer zu bewahren. So wie du mir alles Gute wünschst, drücke ich auch dir die Daumen für deinen neuen Job, die neue Stadt. Außerdem wünsche ich dir, dass dir dieser Neubeginn gefällt und er hoffentlich in freundlicheren Zeiten und angenehmerer Gesellschaft stattfindet. Pass auf dich auf und lass es dir gut gehen!
O.

Stadt intim

Durch Intimität verknüpft er die Politik von Zeit, Sex, Migration und Religion in der Stadt, sodass sie dynamisch miteinander verwoben sind und auf entscheidende Weise zusammenfallen. Beim Cruisen durch das Gefühlte und das Intime entdeckt er das, was sich zwischen und neben den konkreten urbanen Formen befindet. Er schreibt auf, was auf schräge Weise das Leben prägt, sich sanft aus dem Augenwinkel in sein Bild der Gegenwart schiebt und Klänge, Träume, Erinnerungen, Traumata und Geschichten bricht. Denn Schreiben, so denkt er, ist ein Sehnsuchtsgenre, sofern es affektive Zugehörigkeitsarbeit an einem neuen Ort, zwischen Orten oder anstelle eines anderen Ortes leistet. Es ist die Sehnsucht danach, dass sich seine eigenen Geschichten durch Erinnerungsarbeit in Berlin sammeln, festsetzen und ablagern, um das, was sich für ihn nun fern anfühlt, wie abgetrennt, und möglicherweise sogar verloren zu gehen droht, durch Schreiben wieder fest in der Erinnerung zu verankern, was er als re-membering-through-writing bezeichnet. Durch nicht lineare Szenen, die nur partiell miteinander verbunden sind und sich zwischen Schlafzimmern, Cafés, Moscheen, Bars, Straßenecken und Parks hin- und herbewegen, erhofft er sich queere Formen des Sammelns. Er weiß, dass Objekte nur durch die Verknüpfungsarbeit des Beobachters zueinander in Beziehung gesetzt werden. Ihm ist bewusst, dass solch ein Sammeln weder dazu dient, die Stadt zu erfassen, noch dazu, sie einzufangen, sondern eine Art ist, um, mit Strathern (2004) gesprochen, partielle Verbindungen der Stadt herzustellen. Es bestärkt sein Argument, dass die Stadt – Berlin oder eine andere – keine feste Größe ist, nicht völlig außerhalb des Selbst existiert, kein Ort da draußen ist, an den Forschende sich begeben müssen, um zu beobachten, zu definieren oder zu erfassen. Die Stadt ist vielmehr ein Kontinuum, ein Resonanzraum für Affekte: Sie ist immer eine intime Geographie, die, subjektiv und fragmentarisch, an der Schnittstelle zwischen nach innen und außen gerichteten Modi empfunden wird, eine Form, die sich durch Rhythmen, Ritornelle und Relationen allmählich aufbaut und wieder auflöst.

See you!?

Als er an jenem Samstagmorgen die Augen öffnete, wusste er sofort, dass etwas nicht stimmte. Auch wenn er es sich anders gedacht hatte, hatte sich sein Körper im Laufe der Nacht von ihm entfernt, einen Tick weiter als es in einem Bett von 1,40 Meter eigentlich möglich war. Am Morgen machte er ihm Kaffee. Sie tranken ihn in der Küche und machten Bemerkungen darüber, wie wenig aufregend er schmeckte. Als er zur Tür hinausging, küsste er ihn ganz leicht auf die Lippen, berührte sie nur, um den Kontakt gleich wieder zu lösen. „See you soon“, sagte er so, als sei dieser Sprechakt unbeabsichtigt. Er glaubte ihm nicht, nicht eine Silbe, aber er wusste, dass es genau das war, was es in diesem Moment zu sagen gab. Später, am Abend, stand er mit Sufis im Kreis und sie sangen Loblieder auf Heilige und geweihte Männer. Wie so oft in diesem Kreis fragte er sich, wie man denn mit geschlossenen Augen sehen könne. „Er sieht dich, du siehst Ihn nicht, wir sind alle zusammen, es ist Liebe“, so hatte es ihm ein Sufi-Anhänger einmal erklärt. Als er an jenem Abend seine Augen schloss – seine „Knopfaugen“, wie sie einmal bezeichnet worden waren –, konnte auch er sehen, wie die Sufis es taten, aber er sah keinen Heiligen, sondern ihn. Es musste wirklich Liebe gewesen sein. Und als der Scheich am Ende des Rituals die Hände zum Gebet erhob, erhob auch er seine Hände. Nach langer Zeit hatte er sich beim Beten ertappt, diesmal für ihn und ihn. Während der Woche chatteten sie mühsam auf WhatsApp. Am Freitag erhielt er dann die Trennungsnachricht. Ein Migrantengebet in der Stadt, das nicht in Erfüllung gegangen war.

☹️

„Ich habe beschlossen, nach Australien zu fliegen. Ich habe meinen Freund verlassen (Emoji: trauriges Gesicht)“. Eines späten Abends informiert ihn sein Nachbar in einer WhatsApp-Nachricht aus Bali über die Trennung. Er klingt gefasst, aber verletzt, beinahe geschlagen. Am nächsten Morgen trifft er sich mit dem Ex seines Nachbarn, um die Wohnungsschlüssel in Empfang zu nehmen. Er bekommt erklärt, welcher Schlüssel zu welcher Tür passt, welche Pflanzen viel Wasser brauchen und welche nicht. Er hatte noch nie ein Händchen für Pflanzen, also hört er nervös zu und versucht, sich jedes Detail zu merken, obwohl er deutlich abgelenkt ist und sich die ganze Zeit über fragt, warum ihm dieser scharfe Fremde, den er noch nie getroffen zu haben glaubt, so merkwürdig bekannt vorkommt. Beim Hinausgehen händigt er ihm die Schlüssel aus. Er wirkt gefasst, aber verletzt, beinahe geschlagen. Als er um die Ecke geht, hört er ihn sagen: „Bitte erzähl ihm nichts von uns!“

Kommt ein Scheich ins Café…

Er hatte sich oft gefragt, wie er sich fühlen würde, wenn ihm hier im Kiez, wo Liebende wie er dafür bekannt waren, sich – um mit Aras Ören (1973: 25) zu sprechen – „genau wie im Film“ an Straßenecken zu küssen, Männer aus der Moschee über den Weg liefen. Viele Monate später, an einem Donnerstag im Februar, als er gerade in sein tägliches Ritual des Schreibens im Café versunken war, sah er nicht irgendeinen Mann aus der Moschee auf sich zukommen, sondern den Scheich höchstpersönlich. Er traute seinen Augen nicht. Also blickte er nach unten und dann wieder hoch, und da stand er mit seinem sanften Lächeln. Er hatte kurz innegehalten, weil er sich fragte, wie das in einem Zucchinikuchen-Café überhaupt möglich sein konnte. Salam-aleikum, grüßten beide. Zwei weiße Frauen schauten auf. Er sprach auf Deutsch mit ihm. Seltene Gelegenheiten, bei denen sein Deutsch besser abschnitt als das seines Gesprächspartners, dachte er sich. Er fürchtete, der Scheich könne ihn fragen, warum er seit fast einem Jahr nicht mehr in der Moschee gewesen sei. Doch der erzählte ihm stattdessen, er sei zum ersten Mal in diesem Café. Als der Scheich auftauchte und sich zu ihm setzte, hatte auch sein Bild der vorbeilaufenden Nachbar*innen einen kleinen Sprung bekommen. Da war er, kein Passant wie die anderen Nachbar*innen, sondern im Café drinnen, einem Ort, an dem die Moschee und sein Be-Schreiben der Moschee schließlich die Wege kreuzten. Es war die Suche nach genau diesen Erweiterungen, die ihn dazu gebracht hatte, den Intimitäten der Moschee jenseits von ihr nachzuspüren. Schon bald würde sich der Scheich auf den Weg zum Deutschunterricht beim Integrationskurs gleich nebenan machen. In dem Moment unterbricht er die Arbeit an dem, was er gerade schreibt. Er weiß, dass er festhalten muss, was entschwindet. Er schreibt eine Szene.

Grindr-Gedicht: Neukölln an einem Dienstagabend im August

Hey_na
            It’s me
                  im Hotel
            IT guy
                  Last day here
                        Lkng4trouble
                  White noise
                        Summer_sale
                              Damaged goods
                        This and that
                              XXL
                                    Cream on top
                              Wine and Netflix?
                                    And what?

„I am too short to spoon you!“

Er hatte es laut gesagt. Es waren, wie er sich jetzt erinnert, seine ersten Worte an jenem Morgen im Februar, als ihre Körper noch im Schlaf versunken waren. Sie wussten beide, dass er es versucht hatte (so gut er konnte). Wie sonst, wenn nicht so, sollten zarte Misserfolge bei thin attachments aussehen, hatte er gedacht: Sein sich ihm entgegenneigender Körper, der hinter den eigenen Erwartungen zurückbleibt, sich über sich selbst hinausstreckt, aber nicht ausreicht, um den zu umschließen, der mindestens 1,90 Meter lang neben ihm liegt. Dies war kein Traum, auch kein intimer Moment im Dunkeln, über den sich leicht hinwegsehen ließ. Das Morgenlicht war Zeuge, gleichmäßig weiß beleuchtete es dieses Zimmer in der Naunynstraße – jene berühmte Einwandererstraße in Berlin-Kreuzberg, wo den Versen von Aras Ören zufolge „hinter jedem Fenster / verschiedene Sorgen und / frische Hoffnungen“ lagen (Ören 1973: 28). Wie aufschlussreich, dass ihm aus einem Gedicht, das ein ganzes Buch füllte, genau diese eine Zeile wieder einfiel. Es war Jahre her, dass er das von dem türkischen Dichter auf Deutsch verfasste Gedicht gelesen hatte. Er wusste aber, dass ihm die migrantischen Protagonist*innen des Gedichts ebenso ähnlich wie unähnlich waren, irgendeine Art von Vorfahren, oder gar Verwandte, die vor ihm als „Gastarbeiter*innen“ ins ehemalige West-Berlin gekommen waren. „[M]it schnellen Schritten / den Kopf tief zwischen den Schultern“ huschen die türkischen Männer in dem Gedicht durch weiße Winternächte zur Nachtschicht, während ihre deutsche Nachbarin „schwer in Schlaf“ kommt (ebd.: 5). Den Anfangszeilen des Gedichts nach zu urteilen, war die Nacht in der Naunynstraße der migrantischen Gefühlswelt nicht fremd, und noch weniger, dass sie durch die Nacht unsichtbar wurden. Allerdings würde er nicht so weit gehen zu behaupten, in den Augen der Stadt seien alle Migrant*innen gleich. Er wusste aus Erfahrung, dass Klassenmerkmale Ängste beheben konnten, die ansonsten an den Körpern von Migrant*innen kleben blieben. Trotzdem hatte er die Koinzidenz poetisch gefunden. Also kaufte er sich, als er am Morgen nach Hause ging, eine Ausgabe der Berliner Trilogie – der drei Migrantengedichte von Ören – in dem berühmten Buchladen in der Parallelstraße der Naunynstraße. Als er lesend durch jenen Wintermorgen ging, lag ein Gefühl von Frühling in seinem Schritt.

Irgendwann würde der Februar den Platz räumen. Aber diese eine Nacht in einem Einzelbett würde keine Wiederholung finden. Die Gedanken davon abwenden konnte er allerdings auch nicht, wie sich herausstellen sollte. Noch Wochen später grübelte er herum, was es bedeutet, wenn man zu klein ist, um sein Objekt der Begierde zu umlöffeln. Welche Formen des Versagens lagen in der Zärtlichkeit der Nacht verborgen? Einige waren ihm auf unsichtbare Weise präsent. Einige offenbarten sich nur teilweise auch bei Tag, das heißt, sie waren zwar nicht exakt erinnerbar, aber im Wachzustand auch nicht vollständig vergessen. Andere wiederum hatten, wie sich zeigen sollte, die Angewohnheit, immer wieder aufzutauchen. An einem Abend im März, kaum zwei Wochen bevor die Stadt von einer globalen Pandemie erfasst wurde, hatten sich die beiden in Berlin-Wilmersdorf wiedergefunden. Er fühlte wenig Bezug zu diesem Bezirk; doch entgegen seiner eigenen Gleichgültigkeit war es ziemlich genau dort, wo er aufgewachsen war. Es war nur seine Liebe zu guter Sichuanküche, die ihn in den „bürgerlichen“ alten Westen Berlins gezogen hatte, so viel hatte er klargestellt. Auf diesem kurzen Bummel vom U-Bahnhof zum Restaurant, als er zuhörte, wie er ihm die Orte seiner Kindheit beschrieb, wurde er an weitere shortcomings erinnert. Er fand seinen gewöhnlichen Sinn für Geschichte, seine intime Kenntnis von Straßenecken, seine Vertraut­heit mit noblen Eingangshallen und reich verzierten Fassaden einfach nur faszinierend, ebenso die Leichtigkeit, mit der er die Eigenheiten der Wohnungen in dieser Straße aus dem Gedächtnis beschreiben konnte: die hohen Decken, die geräumigen Zimmer, die Verbindungstüren zwischen den Zimmern. Wie hätte er oder überhaupt irgendwer von seiner perfekten Schilderung der Interieurs nicht angetan gewesen sein können: den Unmengen von Büchern, Antiquitäten aus China und Perserteppichen, dem Familientratsch, den Geschichten und Gesprächen, die diese Räume erfüllten. Seine Beschreibungen waren so opulent, seine Worte so detailreich, dass sie ihn mit einem Gefühl des Verlusts, der Entwurzelung erfüllten, als habe er nicht genug eigene Geschichte, keine Straßenecke, die er sein Eigen nennen konnte.

Wann ist man mit einer Stadt vertraut genug, um von ihr verfolgt zu werden, fragte er sich, diesmal ohne es laut auszusprechen. Wie lange dauert es, bis Erinnerungen bleiben, verblassen, wiederkehren, wird er wohl vor sich hin gemurmelt haben. War er nur zu klein, fragte er sich noch tagelang, oder kam er nur, wie viele Migrant*innen, auf ewig zu kurz in der Geschichte der Stadt?

sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung

2022, 10(2/3), -210

doi.org/10.36900/
suburban.v10i2/3.763

zeitschrift-suburban.de

CC BY-SA 4.0

Anhang

Übersetzung aus dem Englischen von Andrea Tönjes (SocioTrans – Social Science Translation & Editing), überarbeitet von Jan Hutta, Omar Kasmani und Nina Schuster.

Endnoten

[1] Deutsche Übersetzungen aus englischsprachigen Quellen stammen von der Über­set­zerin.

Autor_innen

Omar Kasmani ist Kulturanthropologe und forscht über Intimität und postmigrantische Zugehörigkeit.

kasmanio@gmail.com

Literatur

Behar, Ruth (1996): The vulnerable observer: Anthropology that breaks your heart. Boston: Beacon Press.

Belcourt, Billy-Ray (2019): This wound is a world. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Berlant, Lauren / Edelman, Lee (2014): Sex, or the unbearable. Durham: Duke University Press.

Dykhoff, Tom (2011): Let’s move to Kreuzkölln, Berlin. It’s the epicentre of cool. In: The Guardian Online vom 19.3.2011. https://www.theguardian.com/money/2011/mar/19/move-to-kreuzkolln-berlin (letzter Zugriff am 1.6.2020).

Gordon, Avery (2008): Ghostly matters: Haunting and the sociological imagination. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Kasmani, Omar (2019): Thin attachments: Writing Berlin in scenes of daily loves. In: Capa­cious: Journal for Emerging Affect Inquiry 1/3, 33-53.

Katchadourian, Nina (2017): Lavatory self-portraits in the Flemish style. Seat assignment. Austin: The Blanton Museum of Art. Digital Photograph and Video.

Ören, Aras (1973): Was will Niyazi in der Naunynstraße. Berlin: Rotbuch.

Stewart, Kathleen (2007): Ordinary affects. Durham: Duke University Press.

Strathern, Marilyn (2004): Partial connections. Lanham: Altamira Press.

Tracey Ullman’s Show (2017): BBC One, Staffel 1, Folge 1, 11.1.2016, 22:45 Uhr, 30:00 Minuten. https://www.bbc.co.uk/programmes/b06wkc6f (letzter Zugriff am 7.10.2022). Tracey Ullman (Produzentin).

Yildiz, Yasemin (2017): Berlin as a migratory setting. In: Andrew J. Webber (Hg.), The Cambridge companion to the literature of Berlin. Cambridge: Cambridge University Press, 206-226.