Was ist urban?

Beitrag zur Debatte „Was ist Stadt? Was ist Kritik?“

Harald Bauder

„Urbanität“ ist ein epistemologischer Begriff, der keine zugrunde liegende Essenz besitzt. Aus geographischer Perspektive interpretiere ich diesen Begriff – grob anlehnend an Henry Lefebvres Arbeit zu Raum (Lefebvre 1991) – in verschiedener Weise. „Urban“ kann einen administrativen Raum beschreiben, der durch die territorialen Grenzen einer Stadtverwaltung bestimmt ist. Zum Beispiel definieren Stadtverwaltungen in New York, Berlin oder Toronto ihre Bevölkerung durch territoriale administrative Stadtgrenzen. Personen, die innerhalb der Stadtgrenzen wohnen, können sich New YorkerInnen, BerlinerInnen oder Torontonians nennen; wer außerhalb der Stadtgrenzen wohnt, kann dies meist nicht. In meiner Forschung zu solidarischen Städten zeige ich, dass dieser administrative Raum sozialer Ungleichheit und Ausgrenzung entgegenwirken kann (Bauder 2021). In Kommunen werden zum Beispiel politische Auseinandersetzungen geführt, um Stadtbewohner_innen, denen der Nationalstaat Aufenthaltspapiere verweigert, als gleichberechtigte Bürger zu behandeln, die ein Recht auf kommunale Dienstleistungen besitzen. Auch andere soziale und politische Kämpfe, etwa um das Recht auf erschwinglichen Wohnraum werden häufig in diesem administrativen Raum ausgetragen.

Der gelebte urbane Raum hält sich allerdings nicht an diese administrativen Grenzen. Viele Menschen wohnen, arbeiten und agieren in einem geographisch zusammenhängenden urbanen Raum, der jedoch nicht unbedingt durch kommunale Grenzen definiert wird. Auch in einem gelebten urbanen Raum finden soziale und politische Kämpfe statt, zum Beispiel in Bezug auf Nachhaltigkeit, eine gerechte Verteilung von Ressourcen oder den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und Verkehrsmitteln. Dieser gelebte urbane Raum besitzt in der Regel weniger scharfe territoriale Außengrenzen und ist eher relational.

Ökonomische und politische urbane Räume durchbrechen aber auch die territoriale Container-Logik, die dem administrativen und häufig auch dem gelebten urbanen Raum zugrunde liegt. Saskia Sassen hat bereits vor Jahrzehnten beschrieben, wie global cities in verschiedenen Nationalstaaten und Kontinenten durch das internationale Finanzwesen sowie Immobilienmärkte miteinander verknüpft sind. Urbane Räume sind auch politisch miteinander vernetzt – oftmals über nationale Grenzen hinweg – beispielsweise durch Partnerschaften oder Organisationen wie Eurocities und aktivistische Netzwerke wie solidarity-city.eu. In meiner Forschung symbolisiert „urban“ einen Raum, in dem sich soziale und politische Kräfte hegemonialen globalen Prozessen sowie nationalen Politiken und Interessen widersetzen und versuchen, diesen entgegenzuwirken.

Dieser symbolische Aspekt bedeutet allerdings nicht, dass der urbane Raum unkritisch als nicht-hegemonial oder von Natur aus demokratisch vorausgesetzt werden kann (Purcell 2006). Viele städtische AkteurInnen grenzen aktiv Personen aus, initiieren oder unterstützen deren Illegalisierung. Racial profiling und Diskriminierungen aufgrund von Herkunft, Staatszugehörigkeit oder sexueller Orientierung finden oft auf urbaner Ebene statt. Kritik muss deshalb das widersprüchliche Potenzial des Urbanen ständig im Auge behalten und in bestehende hegemoniale Verhältnisse intervenieren.

Weil soziale und politische Kämpfe auf unterschiedlichen Maßstabsebenen und in vielschichtigen Netzwerken ausgetragen werden, bedeutet Kritik für mich auch, dass der epistemologische geographische Begriff des Urbanen nicht fixiert werden darf. Die Möglichkeit, „urban“ und „Urbanität“ immer wieder neu zu definieren und neue Maßstabsebenen zu beschreiben ist nicht nur ein wichtiger Teil der Wissensproduktion der kritischen Stadtforschung. Sie ist ebenso ein politisches Projekt.

Dieser Artikel wurde durch Mittel des Open Access Publikationsfonds der Ryerson University Toronto gefördert.

Autor_innen

Harald Bauder ist Humangeograph mit Forschungsinteresse an städtischer Migrant*innen- und Geflüchtetensolidarität, Zuflucht und Gastfreundschaft.

hbauder@ryerson.ca

Literatur

Bauder, Harald (2021): Urban migrant and refugee solidarity beyond city limits. In: Urban Studies 58/16, 3213-3229.

Lefebvre, Henri (1991): The production of space. Oxford: Blackwell.

Purcell, Mark (2006): Urban democracy and the local trap. In: Urban Studies 43/11, 1921-1941.