Kritische Stadtforschung jenseits von Großstädten und Wissenschaftsbetrieb

Beitrag zur Debatte „Was ist Stadt? Was ist Kritik?“

Matthias Naumann

Die dynamische Entwicklung einer kritischen Stadtforschung, die sich auch im zehnjährigen Jubiläum dieser Zeitschrift zeigt, wirft zwangsläufig die Frage auf, wie denn Stadt und kritische Forschung abzugrenzen sind. Wenn städtische Entwicklungen prägend für nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche sind und ein kritischer Anspruch nahezu zu einer Selbstverständlichkeit in der Stadtforschung geworden ist – droht da nicht die Gefahr einer thematischen und analytischen Beliebigkeit? Statt einer präzisen Bestimmung von Stadt und Kritik möchte ich eine zweifache Öffnung der kritischen Stadtforschung vorschlagen, die zu deren künftiger Relevanz beitragen kann.

Erstens zeichnet sich die Bedeutung einer kritischen Stadtforschung dadurch aus, dass sie konzeptionell wie empirisch über großstädtische Themen hinausgeht. Auch wenn auf die Bedeutung ländlicher Regionen in aktuellen Debatten immer wieder verwiesen wird, interessieren Stadtforscher*innen vor allem die Großstädte. Doch gerade, weil gesellschaftliche Fragen zunehmend als städtische Probleme verhandelt werden, sollte eine kritische Stadtforschung danach suchen, wie sich gesellschaftliche Widersprüche und Konflikte auch in Klein- und Mittelstädten oder in ländlichen Räumen manifestieren. Beispiele hierfür sind die Gentrifizierung von Wohnquartieren, die Finanzialisierung von Infrastrukturen oder der Wandel von öffentlichen Räumen, die genauso jenseits der Großstädte das Leben vieler Menschen prägen und zu sozialen Verwerfungen führen. Das „Recht auf Stadt“ sollte daher nicht auf bestimmte räumliche Bedingungen beschränkt bleiben, sondern für andere Kontexte erweiterbar und auf grundlegende Veränderungen dieser Verhältnisse ausgerichtet sein. Kritische Stadtforschung kann damit einen Beitrag für die Formulierung von gesellschaftlichen Gegenentwürfen und deren Realisierung leisten.

Zweitens muss sich eine kritische Stadtforschung daran messen lassen, inwieweit es ihr gelingt, die Grenzen des akademischen Betriebs zu verlassen. Die aktuelle Orientierung des Wissenschaftsbetriebs an einseitigen, möglichst quantifizierbaren Kriterien vermeintlicher Exzellenz erschwert eine Anwendungsorientierung von kritischer Lehre und Forschung ungemein. Dennoch sollte es der Anspruch kritischer Wissenschaftler*innen sein, Kritik praktisch werden zu lassen und Ergebnisse zu erarbeiten, die einen konkreten Nutzen für soziale Bewegungen, Gewerkschaften und linke Parteien haben. Ein solches Vorhaben bestimmt grundsätzlich die Fragen und Methoden wie auch die Kommunikation einer kritischen Stadtforschung. Schließlich ist damit die Anforderung verbunden, auf drängende Fragen zeitnah und konkret Antworten zu finden, die für Menschen außerhalb der Wissenschaft zugänglich und verständlich sind. Erste Ansätze hierfür bietet die beginnende Debatte um eine „Angewandte Kritische Geographie“, die etwa für Frankfurt am Main empirische Befunde lieferte (Betz et al. 2021).

Was ist das Ziel dieser Öffnung, die zweifellos zulasten einer exakten Definition von Stadt und einer analytischen Schärfung des Kritikbegriffs geht? Zum einen geht es um die Entwicklung von – möglichst konkreten – Utopien nicht nur für Großstädte, sondern für räumliche Entwicklung insgesamt. Konkrete Utopien meinen sowohl grundsätzliche Gegenentwürfe, die eine Orientierung und Perspektive bieten, wie auch detaillierte Vorschläge für die Verbesserung von Lebensverhältnissen. Hierbei kann sich die kritische Stadtforschung durchaus eine Kompromisslosigkeit leisten, da sie zum Beispiel nicht an schwierige Koalitionsverhandlungen oder veränderte Ressortverteilungen gebunden ist. Zum anderen macht die vorgeschlagene Orientierung disziplinäre Grenzen zunehmend obsolet, wovon eine institutionelle Verankerung der Stadtforschung profitieren kann. Die Hinwendung zu Fragen jenseits der Großstädte und die aktive Beteiligung an politischen Veränderungen bedeutet damit eine Verbreiterung, die zugleich eine Radikalität impliziert. Daraus folgt weniger ein hermetisches Forschungskonzept, sondern ein suchender Prozess mit allen Umwegen, Widersprüchen und Rückschlägen. Dennoch kann diese Öffnung einer kritischen Stadtforschung damit neue Adressat*innen und Verbündete wie auch eine noch breitere Rezeption erschließen – sicher auch für die Zeitschrift sub\urban.

Dieser Artikel wurde durch Mittel des Open-Access-Publikationsfonds der Universität Klagenfurt gefördert.

Autor_innen

Matthias Naumann forscht als Humangeograph zu den Geographien der Stadt und ländlicher Räume und beschäftigt sich mit Infrastruktur.

matthias.naumann@aau.at

Literatur

Betz, Johanna / Keitzel, Svenja / Schardt, Jürgen / Schipper, Sebastian / Schmitt Pacífico, Sara / Wiegand, Felix (Hg.) (2021): Frankfurt am Main – eine Stadt für alle? Konfliktfelder, Orte und soziale Kämpfe. Bielefeld: transcript.