Vom analogen zum digital-algorithmischen Urbanismus

Beitrag zur Debatte „Was ist Stadt? Was ist Kritik?“

Susanne Frank

In der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung finden sich kontext- und perspektivenabhängig sehr unterschiedliche Stadtbegriffe. Wenn man die Frage auf die moderne westliche Großstadt eingrenzt, so lässt sich bei aller Mannigfaltigkeit meines Erachtens doch ein international breit geteilter „Verständniskern“ ausmachen, der diese in Abgrenzung von Dorf und Kleinstadt nicht nur über die Merkmale Größe, Dichte, Heterogenität und spezialisierte Arbeitsteilung, sondern auch über eine damit eng verbundene „urbane“ Lebensweise bestimmt. Letztere sei hier nur stichwortartig umrissen mit Begriffen wie unvollständige Integration, Polarisierung von Öffentlichkeit und Privatheit, strukturelle Anonymität und Fremdheit, Auflösung traditioneller Bindungen und Lockerung sozial-moralischer Kontrolle, Gewinn von Freiheitsspielräumen und Emanzipationsversprechen. Stadtkultur wird daher in der Regel mit „Offenheit“ verbunden – „im Sinne des Unvoreingenommenen wie des Zugänglichen, im Sinne des Unentschiedenen wie des Widersprüchlichen, im Sinne des Abwechslungsreichen wie des Experimentellen, last not least im Sinne der Chancen, die das Stadtleben bietet, sowohl an (Entfaltungs-)Möglichkeiten wie an Zufällen“ (Lindner 2000: 260). Die permanente Konfrontation mit Diversität, Komplexität und Kontingenz wirkt dabei reizvoll und verunsichernd zugleich. Von Beginn der Großstadtforschung an wird daher die unaufhebbare Ambivalenz des urbanen Lebens betont: „Die Stadt ist der Ort von Lust und Gefahr, von Chance und Bedrohung. Sie zieht an und stößt ab und kann das eine nicht ohne das andere.“ (Bauman 2007: 223)

Dieses „klassische“ Verständnis von Stadt und Urbanität hat sich an der „analogen“ Stadt entwickelt. Nun ist die digitale Revolution allerdings schon seit geraumer Zeit dabei, die überkommenen Ordnungen und das Welt- und Selbstverständnis der modernen bürgerlichen Gesellschaft aus den Angeln zu heben und damit auch deren Städte radikal zu verändern. Die rasante Verbreitung und bereitwillige Nutzung digitaler Technologien geht mit ökonomischen, politischen, sozialen, kulturellen und psychologischen Wandlungsprozessen einher, die die bisherigen Modi des (urbanen) Zusammenlebens infrage stellen. Das betrifft alle oben genannten Merkmale; ich kann hier nur einige herausgreifen.

So entwickeln sich die Städte zu hybriden Räumen, in denen digitale Systeme das Physische und das Virtuelle integrieren: „Ubiquitous technology is suffusing every dimension of urban space, transforming it into a computer to live in.“ (Ratti/Claudel 2016: 20 f.) Auf der Basis vernetzter ICT-Systeme können ganz unterschiedliche vitale Bereiche des städtischen Lebens wie Mobilität und Verkehr, Energie, Müllabfuhr, Beleuchtung, Bewässerung oder Anlagen- und Gebäudemanagement in Echtzeit überwacht und – so das Versprechen – im Sinne größerer Sicherheit, Effizienz und Nachhaltigkeit gesteuert werden. Die Datafizierung um- und erfasst maßgeblich aber auch die Stadtbewohner_innen selber, das heißt tendenziell alle Aspekte ihrer Person und ihres Verhaltens. Über Smartphones und Smart Homes schließen sie sich an die lokalen und globalen Daten- beziehungsweise Optimierungs- und Regulierungskreisläufe an und werden ein jederzeit identifizier- und verortbarer Teil von ihnen.

Diese Entwicklungen haben erheblichen Einfluss darauf, wie wir die Stadt erleben, wie wir uns in ihr bewegen und wie wir anderen begegnen. So lassen wir uns die überwältigende Fülle an verfügbaren Informationen und Wahlmöglichkeiten inzwischen ganz selbstverständlich durch personalisierte Empfehlungsprogramme (recommender systems) vorsortieren. Auf diese Weise wird die Stadterfahrung zunehmend von Vorhersagealgorithmen bestimmt, die ganz auf unser persönliches Profil, das heißt auf unsere alltäglichen Aktivitäten, Interaktionen, Vorlieben und Gewohnheiten zugeschnitten sind. Sie basieren auf dem Prinzip, dass Nutzer_innen das suchen und nachfragen, was sie (oder vergleichbare User_innen) bereits kennen und mögen, was ihnen vertraut und ähnlich ist und also ihre bisherigen Muster und Präferenzen bestätigt und bestärkt. So erhalten wir vorrangig Nachrichten, die unseren bisherigen Überzeugungen entsprechen, fühlen uns wohl in den empfohlenen Restaurants oder Clubs, Kinos oder Theatern, treffen gezielt für uns ausgewählte potenzielle Partner_innen und nehmen dazu die vorgeschlagenen Wege durch die Stadt. Maßgeschneiderte Smart-Mobility-Angebote erleichtern wohlhabenden Nutzer_innen das Umgehen des öffentlichen Nahverkehrs (vgl. Bauriedl/Wiechers 2021); auch Onlinehandel und Bringdienste tragen erheblich zur Reduzierung der Notwendigkeit bei, sich – etwa beim Einkauf – (mit) anderen Orten und unbekannten Menschen aus(einander)zusetzen (Beher 2021). Auf diese Weise entstehen die bekannten „filter bubbles“ (Pariser 2011): Menschen leben in derselben Stadt, aber doch in ganz unterschiedlichen Welten, die sich immer weniger berühren und so auch kaum wechselseitig irritieren können.

Dies sind nur einige Beispiele dafür, wie die immer weiter und tiefer greifende algorithmische Strukturierung institutionell-systemischer und auch individueller Handlungen und Entscheidungen an die Substanz des bisherigen Stadtverständnisses geht. Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR 2019: 36) hat bereits auf die Gefahr hingewiesen, dass die Überwachung und Steuerung der städtischen Prozesse mittels „Predictive Analytics“ die der Stadt zugeschriebenen „Qualitäten der Anonymität und des Zufalls“ bedrohe, da sie „das Abtauchen, Umherstreunen sowie die produktive Konfrontation mit Hürden und ungeplanten Umwegen, die als ‚Randomness‘ letztlich zu Innovation und ungeplantem Austausch führen“, erschwere. Diese Sorge ist berechtigt, denn digitale Algorithmen sind „Maschinen des Ausschlusses und der Zufallsvernichtung“ (Peitz 2020). Ihre Aufgabe besteht ja genau darin, die Unsicherheiten und Unwägbarkeiten, die sich aus der prinzipiellen Offenheit und Ungewissheit komplexer sozialer und urbaner Prozesse notwendig ergeben, zu verringern und Erwartbarkeit herzustellen; damit sind sie ordnungsstiftende „Mechanismen der Kontingenzbewältigung“ (Mohabbat Kar/Parycek 2018: 18). Infolgedessen sind wir immer weniger geneigt, gezwungen und darin geübt, uns der Diversität der Städte und ihrer Bewohner_innen auszusetzen, Neues, Anderes und Fremdes ungefiltert zu erleben, Störendes zu ertragen und Ambivalenz auszuhalten. Warum denn auch? Ein „durchalgorithmisiertes Leben […] braucht die Stadt nicht, außer als kuratiertes Dienstleistungsangebot“ (Peitz 2020). Stefan Höhne und Boris Michel (2021: 145) sehen in den „digital hochgerüsteten Städten“ eine „anti-urbane Individualisierung“ am Werk. Damit gefährdet der algorithmische Urbanismus den offenen, politischen, emanzipatorischen Charakter des Stadtlebens (oder was davon noch übrig ist). Und so verwundert es nicht, dass die Forderung immer lauter wird, die urban recommender systems so umzuprogrammieren, dass sie auch eine Prise Zufall und Überraschung zulassen (Smets/Vannieuwenhuyze/Ballon 2022). Spätestens diese ironische Wendung zeigt, wie dringend wir unser tradiertes Stadt- und Urbanitätsverständnis überdenken müssen.

Die Technische Universität Dortmund unterstützt die Publikation dieses Beitrags durch eine institutionelle Vereinbarung zur Finanzierung von Publikationsgebühren.

Autor_innen

Susanne Frank ist Stadtsoziologin. Ihre Themen sind Soziologie und Politik des Wohnens und der Stadtentwicklung, Formen des Quartierswandels sowie Suburbanisierung und Gentrifizierung.

susanne.frank@tu-dortmund.de

Literatur

Bauman, Zygmunt (2007): Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen. Hamburg: Hamburger Edition.

Bauriedl, Sybille / Wiechers, Henk (2021): Konturen eines Plattform-Urbanismus. Soziale und räumliche Ausprägungen eines digital divide am Beispiel Smart Mobility. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 9/1-2, 93-114.

BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hg.) (2019): Nachdenken über die Stadt von übermorgen. Bonn: BBSR.

Beher, Sonali (2021): Lieferdienste wie „Gorillas“ gefährden das gesellschaftliche Miteinander. https://www.jetzt.de/meine-theorie/lieferdienste-wie-gorillas-gefaehrden-das-miteinander (letzter Zugriff am 27.1.2022).

Höhne, Stefan / Michel, Boris (2021): Das Ende des Städtischen? Pandemie, Digitalisierung und planetarische Enturbanisierung. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 9/1-2, 141-149.

Lindner, Rolf (2000): Stadtkultur. In: Hartmut Häußermann (Hg.), Großstadt. Soziologische Stichworte. Opladen: Leske + Budrich, 258-264.

Mohabbat Kar, Resa / Parycek, Peter (2018): Berechnen, ermöglichen, verhindern: Algorithmen als Ordnungs- und Steuerungsinstrumente in der digitalen Gesellschaft. In: Resa Mohabbat Kar / Basanta Thapa / Peter Parycek (Hg.), (Un)berechenbar? Algorithmen und Automatisierung in Staat und Gesellschaft. Berlin: Fraunhofer-Institut für offene Kommunikationssysteme FOKUS, 7-39.

Pariser, Eli (2011): The filter bubble: What the internet is hiding from you. New York: Penguin.

Peitz, Dirk (2020): Die Stadt als Meute. In: Die ZEIT, 19.6.2020.

Ratti, Carlo / Claudel, Matthew (2016): The city of tomorrow: Sensors, networks, hackers, and the future of urban life. New Haven/London: Yale University Press.

Smets, Annelien / Vannieuwenhuyze, Jorre / Ballon, Pieter (2022): Serendipity in the city: User evaluations of urban recommender systems. In: Journal of the Association for Information Science and Technology 73/1, 19-30.