Warum die Frage nach dem verwendeten Stadtbegriff „vorkritisch“ ist

Beitrag zur Debatte „Was ist Stadt? Was ist Kritik?“

Anke Strüver

Zu einem bei sub\urban im Jahr 2019 eingereichten Aufsatz zum Themenheft „Urbane Politische Ökologien“ bekam ich in einem der Reviews unter dem Stichwort „Gliederung des Beitrages“ die Aufforderung zur Erläuterung: „Welches Stadtverständnis ist relevant?“ Diese Frage hat mich gleichermaßen überrascht wie verärgert, stellt sie doch für mich einen Rekurs auf die „vorkritische Stadtforschung“ dar. Mein Umgang mit dieser Frage im Prozess der Beitragsüberarbeitung hat mich ebenfalls überrascht wie verärgert: Zwar konnte ich mich bremsen, einen Absatz einzufügen, warum diese Frage für die kritische Stadtforschung im Allgemeinen und die urbane verkörperte Ökologie im Besonderen irrelevant bis kontraproduktiv ist, aber sie hat mich anhaltend beschäftigt.

Die Frage nach dem verwendeten Stadtbegriff impliziert die Vorstellung einer abgeschlossenen Raumeinheit „Stadt“ und hält damit am sogenannten Containerraum-Denken fest. Daran geknüpft ist eine Form von Stadt-Verstehen und auch -Erforschen, das für mich maximal fad wie unpolitisch ist und in der Humangeographie des deutschsprachigen Raums (auf die ich mich beziehe) bis weit in die Nullerjahre vorherrschend war: Die Stadt wurde nach Größe, Dichte, Zentralität, Form der Agglomeration, nach funktionalen wie regionalen Typen und nicht zuletzt Differenziertheit der sozialräumlichen Gliederung kategorisiert und hierarchisiert (siehe komprimiert Heineberg/Kraas/Krajewski 2017 [2000]: 26 ff.).

Mit „vorkritischer Stadtforschung“ meine ich nicht grundsätzlich unkritisch; sondern tatsächlich ein zeitliches „vor“: vor der Zeit, als kritische Stadtforschung nicht nur plötzlich „da“, sondern fast zeitgleich auch bereits „normal“ war. Diese Normalisierung im Sinne eines Mainstreamings entstammt, zumindest in der Geographie, primär der Übernahme von Literatur, Themen und Theorien aus angloamerikanischen Diskussionen. Für viele Geograph*innen stellt(e) dies den Moment des Auf- und auch Ausatmens dar: endlich weg von den schematisch abgrenzbaren Stadtbegriffen und -typen, weg vom Definieren von Raumkategorien und Überprüfen von Stadtstrukturmodellen; hin zu Stadt-Erleben, zu gesellschaftlichen Alltagsprozessen und Raumproduktionen, zu Fragen nach Machtstrukturen, Konflikt und Kooperation, Krise und auch Kapitulation. Denn „[w]enn städtische Prozesse immer nur in Zusammenhang mit über die Stadt hinausreichenden Prozessen zu verstehen sind, dann sind das Entscheidende die [gesellschaftlichen] Prozesse und Zusammenhänge, die Städte formen“ (Belina/Naumann/Strüver 2020 [2014]: 16).

Ein prozessuales und relationales Stadtverständnis ist sicherlich Teil des Fundaments der kritischen Stadtforschung. Soziale wie räumliche Relationen machen nicht an der administrativ definierten Stadtgrenze halt; und sie werden durch die Unter- oder Überschreitung einer – global stark variierenden – Grenzzahl von Einwohner*innen oder Bevölkerungsdichte für die Kategorisierung als Stadt nicht irrelevant. Darüber hinaus verweist der unscheinbare Begriff der Prozesse auf die dem städtischen Leben inhärenten Dynamiken hin: Solche Dynamiken kennzeichnen sowohl die vermeintlichen starren Routinen des Alltagslebens als auch die erwünschte Stabilität von urbanen Infrastrukturen. Beide Beispiele sind Prozesse, die durch die fortschreitende Neoliberalisierung des Ökonomischen und des Politischen – und damit auch des Städtischen – stark ins Wanken geraten sind. Beide Beispiele machen aber hoffentlich ohne Ausführung klar, dass sie im Sinne einer kritischen Stadtforschung mit der Vorstellung eines Containerraums weder zu erfassen noch im emanzipativen Sinne zu verändern sind.

Dass die vorkritische Stadtforschung noch präsent und aktiv ist, zeigen Reviews wie das oben erwähnte. Es macht deutlich, dass auch Reviewer*innen für sub\urban an vorkritischen Kategorien (fest-)hängen und sie als etwas „Normales“ und damit letztlich auch Normales der kritischen Stadtforschung (re-)produzieren. Das Problem ist also nicht das Vorhandensein dieser vorkritischen Stadtforschung, sondern der Versuch (oder das Versehen?), das Vorkritische als das Kritische zu reklamieren – und damit den Blick anstatt auf gesellschaftliche Prozesse auf Kategorisierungen entlang räumlicher Formen (und Stadtbegriffe bzw. -typen) zu fokussieren.[1]

Das Thema „Verortungen und Entortungen einer kritischen Stadtforschung im deutschsprachigen Kontext“ ist zum zehnten Geburtstag von sub\urban genau richtig gewählt. Für die nächsten zehn Jahre wünsche ich der Zeitschrift noch mehr kritisch verortete Diskussionen!

Endnoten

Autor_innen

Anke Strüver ist Humangeographin. Sie arbeitet mit einem feministischen Fokus zum urbanen Alltagsleben anhand von Verkörperungen, Gesundheit, Ernährung, Sorge/Versorgung und Digitalisierung.

anke.struever@uni-graz.at

Literatur

Belina, Bernd / Naumann, Matthias / Strüver, Anke (2020 [2014]): Stadt, Kritik und Geographie. Einleitung zum Handbuch Kritische Stadtgeographie. In: Bernd Belina / Matthias Naumann / Anke Strüver (Hg.), Handbuch Kritische Stadtgeographie. Münster: Westfälisches Dampfboot, 14-19.

Heineberg, Heinz / Kraas, Frauke / Krajewski, Christian (2017 [2000]): Stadtgeographie. Paderborn: Schöningh.

Prell, Uwe (2020): Die Stadt. Opladen: Barbara Budrich.